|
Teil 5 von Wilhelm Stählin |
Daß der Wille Gottes für die Grundordnung des menschlichen Zusammenlebens, wie ihn Mose auf dem Berg Sinai vernommen und „aus der Hand Gottes” „in Stein gegraben” als dauernd und unverbrüchlich empfangen hatte, in 10 Geboten gefaßt war, ist uralte Überlieferung, obschon die Zählung dieser Gebote von Anfang an nicht eindeutig gewesen ist. Das römische Zeichen der Zahl 10, das X, ist geradezu das Symbol des Gesetzes geworden; daß aber genau das gleiche Zeichen, als griechischer Buchstabe verstanden, als der Anfangsbuchstabe des Namens Christos das Christuszeichen geworden ist, rechtfertigt in einer seltsamen Weise Luthers im Großen Katechismus ausgesprochene Überzeugung, daß auch das Gesetz ein Stück des Evangeliums sei und vom Evangelium, das heißt von Christus her, verstanden werden müsse. - Daß das unter uns sogenannte 9. und 10. Gebot ursprünglich ein einziges Gebot gewesen ist, wird von niemand bestritten, da weder das Verbum noch der Gegenstand, auf den es sich bezieht, eine deutliche Unterscheidung erlaubt; ebenso ist es sicher, daß Luther einer von ihm schon vorgefundenen Überlieferung folgte, wenn er, freilich mit eigener sehr entschiedener Überzeugung und Begründung, das von der reformierten Kirche hochgehaltene Bilderverbot (das ursprünglich 2. Gebot) ausschied und durch die Zerlegung des letzten Gebotes die zerstörte Zehn-Zahl wiederherstellte. Dabei bereitet freilich dieses letzte Doppelgebot gerade einer Besinnung über die Bedeutung der „heiligen zehn Gebote” für das öffentliche Leben eine eigentümliche Schwierigkeit. Luther macht in seinem Großen Katechismus die Bemerkung, diese beiden Gebote seien eigentlich nur für die Juden in Sonderheit gegeben, nämlich nicht für die großen Sünder, sondern gerade für die frommen, ordentlichen und anständigen Leute; diese nämlich könnten, wie der reiche Jüngling im Evangelium, meinen, die Gebote alle gehalten zu haben, und sie würden nun zuletzt dessen überführt, wie äußerlich ihre Gesetzeserfüllung fei, und wie sehr sie mit dem bösen Begehren und Gelüsten ihres Herzens ständig dem Willen Gottes widerstreiten. Wenn wir indes, wie es ja auch Luther unzweifelhaft getan hat, nach der von dem Herrn in der Bergpredigt gegebenen Anleitung in jedem einzelnen Gebot die ihm im Negativen und im Positiven zugrunde liegende Gesinnung ins Auge fassen, und also schon den Zorn als Sünde wider das 5., das lüsterne Begehren als Sünde wider das 6. Gebot erkennen, dann bedürfte es keiner solchen Ergänzung, die vor dem bösen „sich gelüsten lassen” ausdrücklich warnt. Es ist indes zu fragen, ob das „Begehren” des alttestamentlichen Gebotes überhaupt solche unlauteren Regungen des Herzens im Auge bat, oder ob dabei nicht ganz oder überwiegend an unlautere Praktiken gedacht ist, die den Schein des Rechts, ja des Rechten wahren und damit nicht nur die öffentliche Ordnung, sondern auch das eigene Gewissen beruhigen. Jedenfalls hat Luther selbst mit gutem Grund in seiner Auslegung sowohl im Kleinen wie im Großen Katechismus wesentlich und hauptsächlich eben davon geredet. (Anm. 1) Dieser Frage der Auslegung des 9. und 10. Gebotes in ihrem Verhältnis zu den vorangehenden Geboten weiter nachzugehen, läge aber nicht im Bereich der Aufgabe, die sich diese Betrachtungen gestellt haben; dagegen ist es allerdings nicht überflüssig zu zeigen, welche Bedeutung das „Begehren” in den beiden möglichen Bedeutungen für das öffentliche Zusammenleben der Menschen, auch für dessen rechtliche Ordnung hat. Es würde unserem rechtlichen und sittlichen Empfinden zweifellos besser entsprechen, wenn bei der Teilung des 9. und 10. Gebots nicht das Haus, sondern das Weib des Nächsten mit einer Sonderstellung bedacht würde; doch ist es mehr als eine sittengeschichtlich und sozialgeschichtlich zu erklärende Merkwürdigkeit, daß zunächst nur vom Hause die Rede ist. Für das Zusammenleben der Menschen kann es kaum eine so schicksalsschwere Frage geben wie die, welchen Anteil der Einzelne an dem Boden seiner Heimat, welchen Anspruch auf Heim und Wohnraum er hat; und die Frage, an die das 9. Gebot rührt, ist das Musterbeispiel dafür, wie formal unantastbare Besitzanspräche einem tieferen und notwendigen Lebensrecht im Wege stehen, und wie dann umgekehrt, wieder mit formaler Rechtsgrundlage, Tausende und Abertausende aus ihrem Haus und von ihrem ererbten Heimatboden vertrieben werden. Die Austreibung und „Umsiedlung” von Millionen ist ein Verbrechen, dessen Ausmaß keinem Vergleich standhält, und kein Staatsgesetz kann den Schein des Rechts, mit dem dieser Frevel verbrämt wird, glaubwürdig machen. Aber wieviel Selbstlosigkeit und Brüderlichkeit würde dazu gehören, nicht nur den falschen Handel zu meiden, sondern ehrlich dem anderen in seinem Dasein, seinem Besitz, seiner Arbeit, auch in seiner Ehe zu helfen und das Schwankende zu halten, statt es mit Verführung, List und mit einem Schein des Rechts an sich zu bringen! Gesetze, die Menschen gemacht haben, können geändert werden, und wir haben ihre Vergänglichkeit und Wandelbarkeit reichlich erfahren. Es kann sein, daß die Übertretung des Gesetzes nach kurzer Zeit als Heldentat gepriesen und der Gehorsam gegen das Gebot der Obrigkeit als ein Verbrechen geahndet wird. Viele Gesetze mit vielen Paragraphen sind so willkürlich und fragwürdig wie die von irgendeiner Behörde erlassenen Regeln der Rechtschreibung. Das mindert allgemein den Respekt und mindert bei vielen die Scheu, ein solches Gesetz zu übertreten, wenn sie hoffen dürfen, der Strafe zu entgehen. Es kann nicht ausbleiben, daß sich der Verdacht solcher nur relativen Gültigkeit dann auch auf die Gebote Gottes überträgt. Die Heiligkeit Gottes wird zu einer Sache subjektiver Überzeugung, die man teilt oder verwirft; der Sonntag wird zu der Konvention einer aus hygienischer Rücksicht notwendigen Arbeitsruhe; die Autorität der Eltern wird zu einer altmodischen Sache, die von dem Anspruch des Kollektivs beiseite geschoben werden kann; Leben und Lebensraum des anderen zu achten, erscheint als eine Sentimentalität, die im Zeitalter der Masse keinen Raum und kein Recht hat; die lebenslängliche Dauer und verpflichtende Treue der Ein-Ehe wird zu einer zeitbedingten Kulturform, die dem Glücksverlangen des Mannes und der Frau und dem eugenischen Züchtungsinteresse nicht im Wege stehen darf. Alles wird fraglich. „Sollte G o t t gesagt haben...?” Aber gibt es überhaupt einen Gott, der uns etwas zu gebieten oder zu verbieten hätte? Die biblische Erzählung, daß Gott diese Gebote mit Seinem Finger in steinerne Tafeln gegraben habe, spricht in mythischer Sprache eine unheimliche Wahrheit aus, und diese Wahrheit wird nicht außer Kraft gesetzt, wenn der Frevel des Menschen die Schrift verwischt oder die Tafeln zerbricht. Denn Gottes Gebot ist das Gesetz, das Er selber dem Leben eingestiftet hat, und dieses Leben zerstört sich selbst, wenn es sich diesem Gesetz entzieht. „Ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott”; Dominus Deus tuus fortis zelotes heißt es im lateinischen Text. Das ist nicht nur der alttestamentliche strenge Gott, dessen Bild durch die Offenbarung Seiner Liebe überdeckt und überholt wäre; eine Stelle wie Hebr. 12, 25 ist keine Abschwächung, sondern eine Verschärfung jenes Wortes von Gottes „Eifer”. Er jedenfalls meint das wirklich in heiligem Ernst, was Er gesprochen hat; darüber soll sich niemand täuschen und das unverbrüchliche Gebot zu einem Spaß und Spott machen. „Gott dräuet zu strafen.” Gottes Strafe ist ohne Willkür und ohne Fehler; denn Er gewährt den Menschen, den Geschlechtern, den Völkern die Freiheit, nach der sie gieren, und läßt sie die Folgen ihres Ungehorsams erleben und erleiden. Paulus hat im 1. Kapitel seines Briefes an die Römer es als die Form des göttlichen Zorngerichts beschrieben, daß Gott die Menschen „dahingegeben” habe (1, 26), daß nun alles Häßliche und Bösartige unter ihnen wachsen und wuchern muß, davon das menschliche Zusammenleben verderbt und stinkend wird, und es ergeht ihnen wie dem Mann im Märchen, der zu spät erfährt, daß die Erfüllung aller seiner Wünsche ihn in die Hölle gebannt hat. Aber das Wort von dem eifrigen Gott steht zugleich als Überschrift über dem anderen: „Denen, so mich lieben und meine Gebote halten, tue ich wohl in tausend Glied.” Niemand kann den Unterschied überhören, daß hier freilich nicht die Zahl 1000 gegen die Zahl 4, sondern das Unbegrenzte gegen das begrenzte Maß steht. Jedes Kind begreift, wie sehr hier Gottes Zorn und Gottes Strafe umfangen ist von Seiner Barmherzigkeit, weil Gottes Liebe nicht das Verderben, sondern das Heil will, nicht den Fluch, sondern den Segen meint. Ahnen wir überhaupt, wie sehr wir gehalten und bewahrt werden durch den Segen, der von der lauteren Frömmigkeit, dem Gehorsam und der Liebeskraft vergangener Geschlechter, längst dahingegangener Kinder Gottes ausgeht? Ahnen wir etwas von dem großen Geheimnis, daß die Welt, wie es Gott dem Abraham versprochen hat, als er für Sodom bat, noch erhalten wird, weil der Segen jener Wenigen, die Gott mit der Tat lieben, noch nicht verbraucht, noch nicht verzehrt ist? Daß die arme, der Verführung verfallene Menschheit und die nicht minder arme, irrende und fehlende Kirche von den stillen und kleinen Leuten leben, die wirklich Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen, einst oder jetzt? Und ahnen wir von ferne, was es für die Geschichte der Völker bedeutet, daß der eifrige und drohende Gott, der sich nicht spotten läßt, zuletzt von den „heilgen zehn Geboten” dieses sagt: Denen, die mich lieben, tue ich wohl in tausend Glied!? Anmerkungen: 1: Ich gestehe, daß ich bei abspannen mir früher immer einen Mann vorgestellt habe, der heimlich das Vieh seines Nachbarn ausspannt und wegführt, was ja freilich keineswegs ein raffiniertes und scheinbar korrektes Verfahren, sondern ein offenbarer Raub wäre. Das Wort bedeutet aber nach Ausweis der Wörterbücher etwas ganz anderes; span ist ein altes Wort für die Mutterbrust (daher Spanferkel), nach der das Kind verlangt; daher spanen = locken, abspanen also: mit freundlichen Listen hinweglocken. So verstanden paßt das Wort also nicht nur zum „Vieh”, sondern vielleicht noch mehr auf den lebendigen Menschen, der zu dem anderen „gehört”. 2: Ich darf auf meinen kleinen Aufsatz „Du sollst nicht schielen!” in dem Sammelband „Hilfe im Alltag” verweisen. Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 187-192 |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 15-11-23 Haftungsausschluss |