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von Karl Bernhard Ritter |
Stets, wenn ich auch nur eine Seite in diesem unerschöpflichen, wahrhaft universalen Werk, der reifen Frucht eines langen Lebens voll unerhörter geistiger Mühen, aufschlage und lese, überfällt mich atemraubend, bedrängend, maßlos erregend die Frage, ob hier nicht in der Tat der ungeheuere und vielleicht letzte große Versuch gemacht wird, einer ihrer Ausgabe ohnmächtig gegenüberstehenden Christenheit zum Durchbruch zu einer neuen, heute und hier allein noch wirkungsmächtigen Gestalt zu verhelfen. Niemand kann vor dem „Abenteuer” dieses Unternehmens erschrockener zurückweichen, als es der Verfasser selber tut, der nicht zögert, einzugestehen, daß er durchaus damit rechnet, für wahnsinnig gehalten zu werden. Er stellt sich selbst die eigentlich unüberwindbaren Schwierigkeiten vor Augen, die sich auf allen Seiten als schroffe Gebirge um ihn auftürmen: „So mahnt eigentlich alles von dem geplanten Wagnis ab, wir mögen es von welcher Seite immer her betrachten, und wenn menschliches Können und Dürfen jeweils mit dem menschlichen Müssen in einstimmigem Einklang stünde, gäbe es in der Tat für uns bloß eine einzige Entscheidung - den Verzicht. Indessen war vielleicht zu keiner Zeit das Müssen so viel zwingender als das Können und Dürfen wie eben heute, wo der Stunde harte Drangsal weder eine Flucht zuläßt noch auch nur ein Ausbiegen nach rechts und links.” Bereit, dem „Berufenen” sofort und bedingungslos das Feld zu überlassen, bietet er seine Arbeit an als einen „eisernen Notbehelf, ein kümmerliches Sorgenkind”, mit welcher nicht mehr zu überbietenden Selbstbescheidung freilich die immer neues Staunen erweckende, von einer überraschenden Entdeckung zur anderen führende schier unübersehbare Ernte dieser beiden stattlichen Bände einer Auslegung des Vaterunsers kaum zureichend bezeichnet sein dürfte. Daß Leopold Ziegler gerade diesen Text gewählt hat, um an ihm die Wahrheit des Evangeliums als die schlechthin universale, weltumfassende Wahrheit, als das vom Anfang bis zum Ende durchtönende Wort der Offenbarung zu erweisen, zeigt mit unüberbietbarer Eindringlichkeit, wie sehr es ihm um die Behebung der wirklichen, den Menschen in seiner Existenz bedrohenden religiösen Not geht. Denn stehen wir nicht längst vor der Tatsache, daß in unserer Gegenwart „die Stelle schnellstens verödete, die bisher im Gesamthaushalt der Menschenseele dem Gebete vorbehalten war?” Und ist nicht hier der Grund dafür zu finden, daß sich mit „schauerlicher Entschiedenheit” die „Züge des universalen Tierstaates, Staatstieres, als eines auf keine Weise mehr menschähnlichen Gebildes” auszuprägen beginnen, „wo jeder Einzelne lediglich noch Werkzeug der Gesellschaft ist, soziale Funktion ohne Eigenwert und Eigensein”? „Denn gesetzt, zu allen Zeiten sei es das Gebet gewesen, welches dem Menschen als solchem am leichtesten seine Rückverbindung sichert mit dem Ursprung, und so sein Heil und seine Heilung: müßte alsdann die verlorene Fähigkeit des Betens nicht notgedrungen den vollständigen Ausfall just dessen nach sich ziehen, was den Menschen erst wirklich zum Menschen macht? . . . Dann aber, die Folgerung ist schlechthin zwingend, dann wächst die Entscheidung für oder wider das Gebet ohne weiteres aus zu der Entscheidung, ob der Mensch in seiner bisherigen Erscheinungsform zu erhalten oder preiszugeben sei. Wohl dem, der sich in solcher Not des Gewissens noch im Schoß der christlichen Kirche geborgen weiß! Doch auch die Anderen, und die erst recht, gilt es zu erreichen. Gilt es, mit beschwörender Gebärde davor zu warnen, ihre Schiffe früher hinter sich zu verbrennen, bevor sie überhaupt mit ihnen ausgefahren sind... ” Was hat es doch mit der vielberufenen Krisis des modernen Menschen auf sich? Nimmt sie nicht ihren Anfang mit einer Verdrängung ohnegleichen? „Ich meine mit der Verdrängung der dritten Hypostase des Geistes, unserer Mutter, des Ur- und Inbildes als solchen.” Aber jeder aus unserem Seelenraum fahrlässig oder vorsätzlich abgedrängte Inhalt, wenn anders er tatsächlich für den Gesamthaushalt der Menschenseele lebenswichtig ist, kehrt unfehlbar wieder, „und geschehe es in der Weise seelischer Erkrankung, ja Zerrüttung”. Darum auch kehrt der geleugnete Gott unfehlbar zurück „als grinsende Teufelsfratze”. Die Folgerung daraus ist unausweichlich. Je unbedenklicher und rücksichtsloser die rationale Zivilisation alles einebnet und glattwalzt, wag irgend noch „seiner oberen Melodie lauscht”, desto zwangsläufiger fordert sie den Rückschlag gegen sich selbst heraus, die abgedrängten Seelentümer aufwühlend und empörend. Dies und nichts anderes ist der eigentliche, der tiefere Vorgang, den der Verfasser in unserem Zeitalter feststellen zu müssen glaubt. Und aus der Beobachtung dieses Vorgangs schöpft er seine Zuversicht. Bleibt doch auch der Mensch der Krisis vom Bilde her zum Bilde hin geschaffen! Mag es sich also in diesem Vorgang, da „der geballte Glutkern in der Menschheitstiefe sich verflüssigt und durch die künstliche Verkrustung bricht und das Gemächte des Völkerwahns in Flamment”, um das Zornfeuer des Gerichts handeln oder um das Feuer, von dem Jesus wünschte, „es brennete schon”, gleichviel - „schilt mich verstiegen, heiße mich verrückt, er deucht mir allerdings ein äußerster Versuch, theologisch gesagt ein ‚Eschaton’, von dem der Krise ganz und gar verfallenen Menschen in zwölfter Stunde noch die Katastrophe abzuwenden”. Ist diese kühne Deutung der tieferen, der eigentlichen Bewegung, die unsere geschichtliche Stunde erfüllt, richtig, dann wird von daher das Unternehmen, an das sich der Verfasser gewagt hat, in seinem vollen Gewicht erst erkennbar. Denn wenn der Herr des Evangeliums wirklich der fleischgewordene Logos und leibhaftige Offenbarungsträger ist, dann ist heute die Aufgabe gestellt, ihn als den wahren Herrn der Bilder zu erweisen, will sagen, als den, in dem ausnahmslos die Überlieferungen der Völker ihre Erfüllung finden, soweit sie Offenbarungswerl besitzen. Nicht darum geht es, „das evangelische Wort am Pegel der Gesamtüberlieferung zu messen oder es sogar von der Gesamtüberlieferung her zu deuten, wohl aber umgekehrt diese Gesamtüberlieferung unter das bergende Dach des evangelischen Worts zu stellen und sie von ihm gleichsam Überzelten zu lassen”. Also ein synkretischer Versuch? Nicht ärger könnte mißverstanden werden, was hier versucht wird. Dabei ist sich der Verfasser dessen voll und ganz bewußt, daß er den umgekehrten Weg einschlägt, wie die christlichen Theologen, die das evangelische Wort „mit zunehmender Schroffheit gegen die Gesamtüberlieferung ausspielen”, weil man sich „die Erfüllung des christlichen Weltauftrags bloß in der Form des Angriffs vorstellen” kann, der alle „vor- und außerchristlichen Überlieferungen mit dem Hammer des evangelischen Worts zertrümmert und von vornherein auf jeden Versuch verzichtet, diese Überlieferung erst einmal auf immerhin auch mögliche Ansatzpunkte hin zu prüfen, die sie mit dem Christentum, dem Evangelium gemeinsam haben möchten”. In dieser verhängnisvollen Meinung, die Wahrheit nur durch Entgegensetzung, durch Isolierung, durch Absonderung sichern zu können, wird der evangelischen Wahrheit die Kraft zur Befreiung, zur Erlösung, zur Zurechtbringung, mit einem Wort, die Kraft zum universalen Erweis ihrer Katholizität geraubt. Was sich nach außen, im Wettbewerb mit den vor- und außerchristlichen Überlieferungen der Erdvölker als schmerzliches Versagen auswirkt - während noch ein Augustinus davon sprechen kann, daß die wahre Religion schon immer dagewesen sei, die seit der Erscheinung des Erlösers als die christliche bezeichnet wurde -, das führt unausweichlich im inneren Bereich der Christenheit zur Aufspaltung, zum Zerbrechen des corpus mysticum der Una sancta. Anmerkung: Leopold Ziegler, Menschwerdung, 2 Bde. 380 und 399 S. Summa-Verlag zu Olten. Hegner Bücherei. DM 42. -. Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 23-26 |
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