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Optische Andacht?
von Walter Uhsadel

LeerGenau zu der gleichen Zeit, als sich 300 000 Menschen zum Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin versammelt hatten, durchzogen mehr als 300 000 Katholiken anläßlich der Heiligtumsfahrt vom 8. bis 22. Juli 1951 betend den Aachener Dom. Um diese Achse: Aachen-Berlin kreisle in diesen Tagen gesteigerte Kirchlichkeit.

LeerWir halten uns nicht bei den menschlichen Mißbräuchen beider Veranstaltungen auf, die durch die Massenanhäufung unvermeidlich waren: touristischer Betrieb, Propagandaeffekt, Öffentlichkeitswille durch Massenversammlung im Olympiastadion oder Festzug durch Aachen, Bibelstunden in Messehallenausmaß oder Zeigung der Heiligtümer vom Münsterturm. An beiden Enden der Achse wurde mit mehr oder weniger Erfolg versucht, dieses Abgleiten rechtzeitig aufzufangen und den kirchlichen Charakter zu retten. Die Echtheit der Aachener Heiligtümer, Kleid der Maria, Windeln Jesu, Kleid des Gekreuzigten und Enthauptungstuch des Täufers, stand ebensowenig zur Debatte. Diese Frage ist entweder erledigt, weil niemand die historische Echtheit behauptet, am wenigsten die am meisten daran Beteiligten, oder gleichgültig, weil es allein darauf ankommt, daß sich an diesen Heiligtümern seit sechs Jahrhunderten die frommen Gedanken von Millionen andächtiger Herzen auf das gesammelt haben, wovon sie Zeugnis ablegen. Wir halten uns schließlich nicht dabei auf, ob es kirchlich war, die Aachener Heiligtumsfahrt zu einer Friedensdemonstration und den Berliner Kirchentag zu einer Einheitskundgebung umzudeuten.

LeerWas vollzog sich denn da eigentlich bei den beiden gleichzeitigen und so scheinbar zusammenhanglos nebeneinander geschehenden, erstaunliche Menschenmassen bewegenden, erstaunlich die Presse und Rundfunk erregenden, in einer technisch-ökonomischen Welt dreifach erstaunlichen Äußerungen der evangelischen und der katholischen Welt?

LeerEin Zeugnis, und zwar in Aachen ein optisches, in Berlin ein akustisches. Natürlich könnte man auch den Satz umstellen, aber wir meinen nicht, daß in Aachen durch Lautsprecher in den Straßenlärm hineingerufene Gebete auf eine Stufe zu stellen seien mit dem Anblick der Massen von 200 000 Menschen im Reichssportfeld, als ob beide Großkundgebungen auf Auge und Ohr gleichzeitig gewirkt hätten, sondern wir meinen, daß es zwei verschiedene Weisen waren, die Offenbarung Gottes in Jesus Christus zu bezeugen.

LeerDie Absicht, in Aachen eine optische Andacht zu halten, war ebenso unverkennbar wie die Berliner Absicht, unter dem Worte die getrennten Brüder zu vereinigen. Eine Fahrt nach Aachen hat nur dann einen Segen, wenn sie in der Lebensgemeinschaft mit Christus vollzogen wird, sonst bleibt sie ein religiöses Amüsement geistlicher Touristen. Im Anblick des zugestanden unechten Kleides der Maria nimmt man das Wesen des Menschen, besonders der Frau und der Mutter wahr, die nicht auf den Altar gehoben wird, um sich anbeten, sondern um sich opfern zu lassen. Denn das Kleid des sterblichen Menschen trug sie, die Verkörperung alles demütigen Menschentums, zum Zeichen ihrer Bedrängung durch die Tyrannen alles Menschlichen, nämlich durch die Zukunft und das Leiden. Ein Frauenkleid weist darauf hin, daß wir umkleidet sind von dem, was kennzeichnend für die Frau ist, nämlich Enttäuschung und Leiden. Das Wesen des marianischen Menschen umschließt die Bereitschaft, demütig den Willen Gottes an sich geschehen zu lassen.

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LeerDie zugestandenermaßen unechten Windeln Jesu wirken anschaulicher und eindrücklicher auf die menschliche Seele als Predigten über die Selbsterniedrigung Gottes in Jesu Menschlichkeit. So groß war die Liebe Gottes, daß er sich um unsertwillen in die ganze Erbärmlichkeit und Peinlichkeit eines hilflosen Menschenkindes hingab: meist hindert den evangelischen Prediger ein ästhetisches Feingefühl vor einer so drastischen Veranschaulichung der Fleischwerdung Gottes. Was eigentlich ein Zeuge ist, nämlich ein Märtyrer, wird gerade noch durch die verharmlosenden roten liturgischen Farben bei uns dargestellt, aber es ist eine heilsame Verdeutlichung, wenn ein blutgetränktes Tuch angeschaut wird, von dem zum mindesten behauptet werden muß, daß es sehr alt ist und daß Millionen von Menschen bei seinem Anblick die todernste Bedeutung des Wortes „Ihr sollt meine Zeugen sein” geschaut haben. Die Leitung der Heiligtumsfahrt leitete die Andacht aber mehr auf die Frage des Johannes: „Bist du es, der da kommen soll? Wie kann Gott das zulassen, daß ich nicht aus der Gefangenschaft erlöst werden kann?”

LeerAber am klarsten wurde diese optische Predigt in Aachen bei der Zeigung des Lendentuches, des eindrücklichsten Zeichens für die bedingungslose Preisgabe Jesu an den Willen seines Vaters, daß nur dieses armselige Stück Tuch noch sein Wesen schützte. Die Leitung der Heiligtumsfahrt legte den Gläubigen vor der traditionellen Ankündigung und den bei jedem Heiligtum gesprochenen biblischen Worten und den anschließenden kurzen Gebeten folgende Andacht nahe: „Die Welt ist gezeichnet mit dem Kreuz. Eingerammt in die Erde ist der Pfahl. Der Querbalken überschattet uns alle. Angenagelt an die Kreuzbalken gibt der Herr seinen menschlichen Leib ganz dem Willen des Vaters bin. Der Mensch flieht das Kreuz. Wir suchen unseren Willen, unsere Freiheit, unsere Zügellosigkeit. Doch: Im Kreuz ist Heil.”

LeerDie Aachener Heiligtumsfahrt war ebenso eine konsequente Fortsetzung der allgemein katholischen visuellen Andacht, der Sammlung der Gedanken beim Anblick einer Statue, eines Partikels, des eucharistischen Christus, wie der Kirchentag eine konsequente Fortsetzung der allgemein evangelischen Andachtsform ist, sich unter das Wort zu stellen. Dabei kam die Massensuggestion trotz der störenden Momente bei beiden Veranstaltungen hemmend und fördernd hinzu. Es wäre ja nun eine etwas zu einfache Darstellung, als begnügten wir uns mit der Feststellung, daß das Auge das katholische, das Ohr das evangelische Hauptorgan im Gottesdienst sei. Diese Fronten überschneiden sich immer wieder. Optisch: Die stärkste Wirkung ging in Berlin von der Freilichtaufführung der „Nachtwache” im Waldtheater aus, da die Massen aus der Ostzone diesen Film zu sehen noch keine Gelegenheit gehabt hatten. Akustisch: Line ganz starke Wirkung ging von den Andachten in den Aachener Stationskirchen und der Betprozession durch den herrlich wiederhergestellten Dom aus, zumal der Lautsprecher eine lange Vorbereitung der betenden Sammlung schon vor Betreten des Domes ermöglichte.

LeerEs wäre aber auch wohl zu einfach zu sagen, daß die optische Andacht den Menschen im Grunde in Ruhe läßt, sein Gemüt beruhigt und erhebt und die akustische Bezeugung den Menschen anspricht, anfordert und unter das Gericht stellt. Denn gerade in Aachen wurde immer wieder versucht, das Undenkbare der Offenbarung Gottes im Fleisch so anschaulich zu machen, daß die Menschen aufgerüttelt wurden, wie umgekehrt in Berlin vieles gesagt wurde, besonders in der Schlußbotschaft, was an die Grenze der Selbstverständlichkeit streifte.

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LeerEs ist wohl schließlich auch zu einfach zu sagen, beide Formen müßten sich ergänzen. Der evangelische Gottesdienst müßte stärker die Ganzheit des viso-akustischen Aufnehmens beanspruchen, wie der katholische Dienst die Predigt mehr zu betonen hätte. Wir wissen zu genau, daß die Kirche des Meßopfers einen ganz anderen dogmatischen Grundansatz hat als die Kirche des Gotteswortes.

LeerAber man kann vielleicht an der großen Doppelkundgebung der christlichen Kirche Deutschlands in Berlin und Aachen erkennen, daß der ganze Gegensatz von akustischem und optischem Zeugnis überholt ist. Alles Sprechen beruht auf einem außerordentlich schnellen Abkürzungsverfahren: anstatt, daß ich die ganze Fülle der Eindrücke auf mich wirken lasse, gebrauche ich einen fertigen Begriff, von dem ich voraussetze, daß mein Gesprächspartner dieselbe lange Kettenreaktion von Erfahrungen mit diesem Begriff durchgemacht hat, so daß bei dem Begriff „Gnade” eben nicht noch einmal breit erklärt zu werden braucht, welche Erfahrungen vorhergegangen sein müssen, ehe ich diesen abstrahierenden Verkürzung»- und Sarnmelausdruck gebrauchen kann. Aber je ausgebildeter die Sprache ist, je mehr sie sich in bloßen Andeutungen ergehen kann und dann doch auf ein volles Verständnis rechnen darf, desto mehr wird ihr das Lebensblut ausgesogen. Die anschauliche Sprache zeichnet sich also nicht nur durch eine Fülle von Bildern und guten Vergleichen aus, sondern jedes gewählte Wort ist prall von plastischer Anschaulichkeit. Das Bild dagegen entbehrt der Klarheit. Es erregt nur, aber nicht das, was der Maler hat sagen wollen, sondern das, was in mir durch sein Bild angesprochen wird. Das Bild bedarf der Deutung. So wäre es völlig falsch, die Aachener Heiligtümer mit irgendwelchen Museumsstücken auf eine Linie zu setzen und etwa gar billige Vergleiche zu der reformationsgeschichtlichen Ausstellung in Berlin zu ziehen.

LeerAber der Gegenstand, der fromme Sammlung erleichtert, bedarf eines außerordentlichen Menschen, wenn er wirklich zu einem Zeugnis werden soll. Die Aachener Heiligtümer bedürfen der Deutung. Zu dieser sind nur Menschen fähig, die schon vorher etwas von dem vernommen haben, wovon diese Heiligtümer Zeugnis ablegen. Sonst bleiben sie stumm, Mirakel, geistliche Attraktion einer unterhaltsamen Omnibusfahrt zu verbilligten Preisen. Aber auch das Wort des Kirchentages verhallt in der weltlichen Denkweise, wenn es nicht mit biblischem Verständnis vernommen wird. „Wir sind doch Brüder” muß als eine politische Forderung oder als eine bürgerliche Harmonisierung mißverstanden werden, wenn nicht das biblische Vor-Verständnis gegeben ist. Ob Berlin oder Aachen ein vollgültiges Zeugnis von Christus gewesen ist, ist überhaupt nicht zu entscheiden. Aber das Zeugnis von Christus in Aachen und Berlin steht und fällt damit, daß die Menschen, die hören oder sehen, vorher von Christus als ihrem Herrn und nicht bloß „von ihrem großen Bruder” ergriffen worden sind. Für beide bleibt das optische wie das akustische Zeugnis nur eine Bestätigung und Kräftigung von dem, was sie nicht ihrer Schau- oder Hörfähigkeit verdanken, sondern der Gnade Gottes, der sie in Jesus Christus zum Glauben an ihn gerufen hat.

LeerEs ist im Grunde also gleichgültig, ob ich „optisch” oder „akustisch” sage. Der Ton liegt bei „Andacht”. Aber nicht ich kann etwas denken, was jenseits meiner Erfahrungsmöglichkeiten liegt, wenn nicht vorher Christus mich gedacht hat. Nicht ich kann ihn in dem Bilde oder dem Worte begreifen, wenn er mich nicht vorher ergriffen hat. Ohne den Glauben bleiben Aachen und Berlin beide stumme Zeugnisse: Restbestände eines Aberglaubens, Massendemonstrationen einer verweltlichten Kultusorganisation. Nur im Glauben sehen und hören wir, was Aachen und Berlin bezeugt hatten: Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus.

Evangelische Jahresbriefe, S. 34-37

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-30
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