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„Ich bin die Auferstehung und das Leben”
von Otto Heinrich v.d. Gablentz

Auslegung von Joh. 11, 20 - 27, gegeben auf dem Michaelsfest 1951 der Evangelischen Michaelsbruderschaft

LeerWir sind gewohnt, diese Worte als „Bibelspruch” hinzunehmen, als eine zeitlose Wahrheit, gesagt zu allen, gültig für jeden, für keinen besonders. Sie werden verstanden als Zusage eines ewigen Lebens nach dem Tode für die Gläubigen.

LeerWir müssen es uns aber abgewöhnen, in der Bibel eine Sammlung allgemeiner Wahrheiten zu sehen. Sie spricht jeden von uns persönlich an. Das wird uns leichter verständlich, wenn wir uns gegenwärtig halten, zu wem und in welcher Lage solch ein Wort zum ersten Mal gesprochen worden ist. Jesus kommt nach Bethanien nach dem Tode des Lazarus. Martha eilt ihm entgegen. Ihre Trauer löst sich in Freude und Hoffnung. „Wärest du hier gewesen, er wäre nicht gestorben. Aber du kannst ja noch jetzt zu Gott beten für ihn.” Größeres Vertrauen kann man zu einem begnadeten Menschen nicht haben: seine Gegenwart bannt das Unheil, die Zukunft ist in seiner Hand. Aber dieses Vertrauen ist gebunden an die Schranken des Menschlichen. Er muß anwesend sein - in die Ferne reicht seine Macht nicht. Gott gibt ihm die Zukunft in die Hand - für die Vergangenheit ist er machtlos.

LeerJesus scheint auf diese Auffassung einzugehen. „Dein Bruder wird auferstehen.” Martha versteht das Wort im Sinne ihres treuen Bibelglaubens: „Gewiß am Jüngsten Tage.” Jetzt gibt Jesus ihr eine Antwort, mit der er die Grundlagen des Gesprächs verschiebt. Er sagt nicht: „Jetzt gleich, sobald wir das Grab erreicht haben”, obwohl das ja seiner Absicht und Einsicht entsprechen würde. Er sagt überhaupt nicht mehr, was er tun will, was geschehen wird. „Ich  b i n  die Auferstehung.” Die Auferstehung ist nicht Zukunft, auch nicht nahe Zukunft. Sie ist Gegenwart. Sie ist nicht sein Werk, auch nicht in der Gegenwart. Sie ist seine Gegenwart selber. Er schafft nicht die Auferstehung. Er ist die Auferstehung.

LeerDamit hebt er unser Weltbild aus den Angeln: Die Vorstellung von der Zeit und die Vorstellung vom Handeln. Für uns Menschen, und damit auch für Martha, scheint Gegenwart jener kaum faßbare Übergang zwischen den unendlich langen Abläufen der Vergangenheit und Zukunft. Sie ist kaum wirklich vor der Last der Vergangenheit und der Sorge für die Zukunft. Jetzt wird umgekehrt Gegenwart das einzig Wirkliche, das Wirksame. Nicht sie muß erklärt werden, umgekehrt, nur von ihr aus ist das Vergangene und das Zukünftige zu verstehen. Aber nicht  d a s  gegenwärtige Ereignis tut es, sondern  d e r  gegenwärtige Herr aller Ereignisse. Martha fragt: „Was wird in dieser Welt?” Und Jesus antwortet: „Ich bin!” In seiner Gegenwart ist alles Werden eingeschlossen. In seinem Sein ist alles Handeln eingeschlossen. Ich kann nicht sagen: „Gott schafft”, als ob er sich anders verhalten könnte als schaffend. Ich kann nicht sagen: „Gott ist”, als ob das Sein ein gemeinsamer Oberbegriff wäre für Schöpfer und Geschöpf. „Deus est actus purus.” „Gott ist das Schaffen an sich”, sagt die Scholastik. Er ist im Schaffen und schafft im Sein.

Linie

LeerDas Evangelium erschöpft sich nicht in dieser richtigen, aber unverbindlichen metaphysischen Feststellung. Es spricht den einzelnen Gläubigen an:

Leer„Wer sich mir anvertraut, der wird leben.” Wer sich verschließt, bleibt unter der Last der Vergangenheit und der Sorge für die Zukunft. Der Wille, am Leben teilzunehmen, ist die Bedingung dafür, daß ich teilnehmen kann. Die allgemeine Wahrheit hilft keinem, der sich nicht hier und heute entscheidet. (Das meint die Philosophie von heute, soweit sie etwas damit meint, mit dem Ausdruck „existentielle Entscheidung”.) Dieses Leben in der Gegenwart des gegenwärtigen Herrn ist nicht ein Leben ohne Tod und ist nicht ein Leben nach dem Tode, sondern ein Leben am Tode entlang. Der Gläubige, der stirbt, beginnt kein neues Leben, sondern er lebt trotz dem Sterben. Der Gläubige, der lebt, mag sterben, aber er stirbt nicht „in den Aion hinein” - nämlich in jenen Zeitraum hinein, den Jesus heraufführt (1) Er nimmt teil an seinem Schaffen, er ist dabei, wo der Herr wirkt an den anderen Gläubigen, auch wenn er für den anderen Zeitraum, in dem die Menschen ja auch noch leben, ein Verstorbener ist. Er lebt nicht in einem jenseitigen Geisterreich, sondern er ist dabei, wenn die Gegenwart Jesu unsere Zeit - quer „von oben her” - durchdringt. Darum werden die verstorbenen Brüder getroffen von unserer Fürbitte, „daß der Engel Schar sie ins Paradies geleite”. Darum trifft uns der Segen derer, die im Herrn entschlafen und doch mit ihm bei uns sind.

Leer„Glaubst du das?” fragt Jesus Martha. „Glaubst du das?” sind wir gefragt. „Vertraust du dich dem an? Wagst du etwas daraufhin?” Jetzt ist es an Martha, in der Antwort hinauszugehen über das, was sie gefragt wurde. Sie sagt nicht nur, daß sie glaubt, was Jesus von den Lebenden und den Toten sagt, sondern sie sagt, was es heißt, an Jesus zu glauben: daß er der Christus ist, der Sohn Gottes, der in die Welt Kommende. Er ist das schöpferische Wort des Vaters und ist unser Bruder, und er ist in die Welt gekommen, indem er sie wandelt und damit er sie wandelt. Es bleibt nicht bei einem Geschehen im geistigen Bereich. Lazarus lebt, und weil der Lebendige hier gebraucht wird, wird auch an seinem Leichnam etwas geschehen. Jesus ist gegenwärtig, und wenn wir uns ihm anvertrauen, dann spüren wir seinen Segen und die Hilfe derer, die durch ihn mit uns verbunden sind, ob sie uns als lebend oder verstorben erscheinen, in allen Nöten der irdischen Gegenwart.


Anmerkung 1: Ich lasse diese Sätze stehen, obwohl Sasse im Artikel aion des Kittelschen Wörterbuches meint, eis ton aiona heiße einfach „nimmermehr”. Wenn es schon für uns gilt, daß ein richtig gewähltes Wort tiefer reicht, als dem Bewußtsein des Sprechenden im Augenblick deutlich ist, so kann man das getrost auch von der Bibel erwarten. Selbst die Füllwörter können transparent sein. Und vom Evangelisten ist es noch nicht einmal ganz unwahrscheinlich anzunehmen, daß er den Unterschied zwischen „voller” und „verblaßter” Bedeutung des Wortes abgelehnt hätte, falls er ihn gekannt hätte.

Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 85-87

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-30
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