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von Wilhelm Stählin |
Zu den Betrachtungen über das Vaterunser schreibt eine Leserin: „Es wäre doch vielleicht noch einer besonderen Not Erwähnung zu tun; ich meine jenen Zustand, der oft wie eine Krankheit über die Seele hereinbricht und bei dem es auch bei äußerer Stille und Ruhe nicht zu der wirklichen Stille, dem Schweigen des Herzens kommen kann, sondern wo es im Inneren erst recht anfängt zu reden in zwangsweisen Grübeleien und selbstquälerischen Reflexionen, gegen die alle eigene Willenskraft machtlos ist. Auch die Zuflucht in das feststehende gegebene Gebet kann nicht die entscheidende Hilfe geben, weil die innere Unruhe auch hierbei nicht weicht, sondern im Gegenteil dazu führt, daß das Beten ein Plappern wird, mechanisch, gedankenlos. Das eigene Wissen um dieses alles führt zwangsläufig in einen Zustand der Verzweiflung hinein, in dem schließlich unter einem tiefen Abscheu vor dem eigenen Zustand jeder weitere Versuch zu beten unterbleibt... Das gesamte Dasein bis in die Arbeit im Beruf und in das Zusammenleben mit den Nächsten hinein ist von innen her zerstörenden Mächten preisgegeben; kurz: es hebt eine Qual an, die sich dem mitteilenden Wort völlig entzieht. Gibt es hierfür eine Hilfe?” Die Zustände der Seele, auf die Sie unsere Aufmerksamkeit lenken, sind allen denen bekannt, die von den wirklichen Erfahrungen des Gebetslebens zu berichten wissen und darum nicht mehr in einer schwärmerisch unwirklichen Weise vom Gebet als einem Allheilmittel reden können, und sie sind in den Büchern dieser begnadeten und angefochtenen Beter zum Teil mit sehr ähnlichen Worten, wie Sie sie gebrauchen, beschrieben. Nicht der Mensch, der überhaupt nicht betet und das Gebet nicht vermißt, weil er seine Gnadenkräfte nicht kennt, sondern gerade der Beter ist solchen Anfechtungen ausgesetzt und preisgegeben. „Der Teufel frißt mir all mein Beten weg”, so hieß es einmal in einem solchen Bericht. Sie haben natürlich vollkommen recht, wenn Sie sagen, daß die Willenskraft gegenüber solchen inneren Zuständen ohnmächtig ist; denn hier sind gerade jene tieferen Schichten des inneren Gefüges unzugänglich geworden, in denen der Trost der gnädigen Nähe Gottes empfangen oder entbehrt wird. In manchen Fällen ist hier, vielleicht durch schwere eigene Erlebnisse seelischer oder auch körperlicher Art, soviel gestört, daß nur eine sorgfältige und tiefdringende seelische Beratung diesen Bann lösen und den Atem der Seele wieder frei ausströmen lassen könnte; ein erfahrener Seelsorger wird im persönlichen Gespräch (freilich nicht ohne ein solches) erkennen, ob eine solche tiefenpsychologische Behandlung (die ja immer einer Operation gleichzuachten ist) ratsam ist und die Aussicht auf völlige Heilung dieser Schäden gewährt. Jedem, dem Gesunden wie dem „Kranken” (da die Unterschiede zwischen „gesund” und „krank” durchaus fließend sind), wäre aber zunächst anzuraten, daß er sich nicht so sehr für seine seelischen Zustände interessieren und damit beschäftigen soll. So gewiß der Blick ins Dunkel die Angstzustände steigern kann, die die Finsternis erweckt, so gehört die innere Nötigung, selber immer auf diese innere Unruhe der Seele zu achten, zur „Naturgeschichte” solcher Anfechtungen. So wenig wir das beliebte „So nimm denn meine Hände” zu den großen und klassischen Liedern unserer Kirche rechnen werden, so drückt doch die Zeile „wenn ich auch gleich nichts fühle von Deiner Macht” eine sehr heilsame und sehr tröstliche Erfahrung aus, daß es nämlich gar nicht so sehr wichtig ist, in welchen Zuständen der Gottesnähe oder Gottesferne sich unsere Seele augenblicklich befindet, und es wird sozusagen der Trick, durch den der böse Feind uns in seinem Bann hält, durchschaut und vereitelt, wenn wir den Mut fassen könnten, dieses Dunkel der Seele als eine Anfechtung zu erkennen und darauf zu vertrauen, daß der Heilige Geist Gottes uns mit unaussprechlichem Seufzen vertritt (Röm. 8), wenn das Vermögen zu beten in uns gelähmt ist. Es ist ein ähnlicher Vorgang, wie wenn ein Kind, das sich allein im lichtlosen Zimmer fürchtet, sich mit den Händen vom einen zum anderen tastet: „Sie sind ja alle noch da, die Dinge, die ich nicht sehe!” Ich glaube darum auch nicht, daß man die Treue im täglichen Gebet, das zugleich von selbstquälerischen Gedanken ganz anderer Art begleitet ist, als ein mechanisches Plappern entwerten und sich selber verleiden darf. Es geschieht in solchem Gebet immer mehr als das, was unser Bewußtsein erreicht. Ein paar einfache Gebetsworte, wie das „Ehre fei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geiste” oder eine Liedzeile, regelmäßig wiederholt, können bis in die tiefsten Gründe der Seele dringen, wie ein tief eingegrabenes Samenkorn; oder, um es in einem anderen Bild zu sagen: solche Worte können wie eine Engelwache sein, die „im innersten Gemüte Ordnung hält”, während die Oberflächenschicht unserer Seele vom Teufel geplagt und mit großer Traurigkeit erfüllt wird. Sie verstehen, daß ich Ihnen Mut machen möchte, mit Ihrem Gebet in der Ihnen gewohnten Form fortzufahren, auch dann, wenn Sie von der Sorge angefochten werden, daß sich solche „leere” Gewohnheit schädlich erweisen könnte. Es besteht kein Anlaß, sich über diese meine Bemerkung konfessionell zu erregen („Wenn schon eine evangelische Kirche, die auch ihre reichlichen Märtyrer hat, „Unser Vater” sagt, dann darf ein lutherischer Bischof dieses „Unser Vater” nicht so schlecht machen...”); zumal ohne weiteres zuzugeben ist, daß bei der 7. Bitte die „reformierte” Fassung „Erlöse uns von dem Bösen” sehr wahrscheinlich dem Sinn des Urtextes besser gerecht wird als Luthers Übersetzung „Erlöse uns von dem Übel”. Aber wohin kommen wir, wenn man nicht mehr unbefangen sagen darf, was richtig (und was zwar nicht falsch, aber weniger richtig) ist, ohne konfessionelle Empfindlichkeiten zu verletzen? Aber es wäre zweifellos verkehrt, allein das römische Kirchenrecht für all die Schwierigkeiten verantwortlich zu machen, die fast mit innerer Notwendigkeit in einer Ehe erwachsen, die zwischen Angehörigen verschiedener Konfessionen geschlossen wird. Nur wenn beide Ehegatten ihrer Kirche mit einer gewissen lauen Gleichgültigkeit gegenüberstehen, wird die Verschiedenheit der Konfession ebenso wenig als störend, wie die Zugehörigkeit zur eigenen Kirche als verpflichtend empfunden. Wenn ein Teil wirklichen und tätigen Anteil am Leben seiner Kirche nimmt, der andere Teil aber der eigenen wie der fremden Kirche innerlich unbeteiligt gegenübersteht, so bedeutet das immer und mit unausweichlicher Notwendigkeit einen Mangel an Tiefe und letzter Erfüllung in der Gemeinschaft der Ehegatten. Auch wenn beide einander wirklich lieben und darum den ehrlichen Willen haben, auch diese Schwierigkeit in gegenseitiger Liebe zu tragen und zu überwinden, wird alsbald dieser Mangel schmerzlich fühlbar, wenn die Verschiedenheit der kirchlichen Gewöhnung nicht nur eine gemeinsame Feier des Sakramentes, sondern auch einen gemeinsamen Kirchgang, ja selbst ein gemeinsames Gebet unmöglich macht oder in Frage stellt, und erst recht wird die Erziehung der Kinder den einen Elternteil praktisch ausschließen von der wirklichen Mitverantwortung und von der unmittelbaren und tätigen Anteilnahme an einer christlichen Erziehung. Nur in seltenen Ausnahmefällen können Ehegatten, die auf beiden Seiten lautere Frömmigkeit und kirchliche Treue mit einer großen Weitschaft verbinden, diese nie aufzuhebende Spannung zu einer Quelle immer neuer Liebe und tiefer Gemeinsamkeit machen. Aufs Ganze gesehen muß ich nach den Erfahrungen vieler Jahre es für richtig halten, wenn, ehe die Ehe geschlossen wird, der eine der beiden Teile zur Konfession des andern übertritt, wobei naturgemäß derjenige, der am tiefsten und festesten in feiner Kirche wurzelt und lebt, den andern nach sich ziehen wird. Daß so viele Mischehen geschlossen werden, ist selbst ein Zeichen dafür, wie wenig für weitaus die meisten die kirchliche Zugehörigkeit existentiell bedeutet; der leichtfertige Optimismus, der das gar nicht für eine ernste Schwierigkeit hält, wird zumeist durch spätere Erfahrungen widerlegt, und es ist nichts dagegen und vieles dafür zu sagen, wenn derjenige der Eheschließenden, der in seiner Kirche wirklich lebt, den Übertritt des andern zur Bedingung der Eheschließung macht. Jedenfalls ist dieses die klarste und sauberste Lösung, die mit der relativ meisten Sicherheit spätere Schwierigkeiten vermeidet. Es bedarf hoffentlich keiner Begründung, warum dieser seelsorgerliche Rat nicht in Widerspruch steht zu dem, was im vorigen Brief über Konversionen gesagt wurde; denn hier, bei Mischehen, handelt es sich zumeist überhaupt nicht um einen Wechsel religiöser Überzeugung, sondern darum, daß ein mehr oder weniger religiös gleichgültiger Mensch in der Kirche seines Ehegatten überhaupt eine kirchliche Heimat, zugleich die kirchliche Bindung seiner Ehe sucht. Aber nun sollen also die uns bedrängenden „sozialen” Fragen offenbar Gegenstand einer zweckmäßigen Technik werden. Denn, nicht wahr, die Technik muß doch zweckmäßig sein, und wenn sie sich als unzweckmäßig erweist, so ist sie zweifellos eine schlechte Technik. Immer aber schließt der Begriff der Technik eine bewußte Veranstaltung, ein zweckmäßig gewähltes und angewandtes Mittel, ein Werkzeug, eine Methode, eine Erleichterung und Beschleunigung, wie sie eben das zweckmäßig erdachte Hilfsmittel gewahrt, in sich; sonst wäre es ja vielleicht gar ein einfaches menschliches Verhalten, eine „Handlung”, zu der die Hand (vielleicht in Verbindung mit dem Mund, der etwas zu sagen hat) ausreicht. Zu Fuß gehen ist keine Technik, Autofahren ist Technik; einen Gruß mit der Hand auf eine Karte schreiben, ist eine vortechnische Handlung; telefonisch ein Telegramm aufgeben, ist die technisch höher entwickelte Unternehmung. Also bitte „Sozialtechnik”! Da der gleiche Vortrag den schönen und sicherlich nicht bestreitbaren Satz enthielt, alle Erkenntnisse müßten sich eindeutig aus den unmittelbaren Lebens- und Arbeitsbereich anwenden lassen, so müßte sich also die empfohlene Sozialtechnik gerade in diesen unmittelbaren Lebens- und Arbeitsbeziehungen bewähren, und sie würde also alle jene Erfindungen und Vorrichtungen, Methoden und Organisationen umfassen, durch welche das menschliche Miteinander der Ehegatten und Familiengenossen, der Arbeitskollegen und Mit-Hausbewohner erleichtert und zweckmäßiger gestaltet werden könnte. Brauchbare Erfindungen auf diesem „Sektor” werden sicherlich sehr gefragt sein. Vielleicht würde bei anhaltendem Nachdenken jemand auf den Gedanken kommen, daß jede Sozialtechnik, um nicht heißzulaufen und mehr Schaden als Nutzen anzurichten, in ihrem Getriebe das Öl der sehr altmodischen Liebe nötig hat, und ohne diese einfache und einfältige Liebe von Mensch zu Mensch zu den fragwürdigen Ersatzbildungen gehört, die uns, zumeist in fremdsprachlicher Reklamekleidung, empfohlen werden. - Meine Freunde, laßt uns solchen und ähnlichen Worten gegenüber nüchtern, zäh und unerbittlich fragen, was damit in Wahrheit gemeint sein soll, und wie das Ding aussieht, wenn es uns auf der „Ebene” unserer alltäglichen Wirklichkeit begegnet! Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 103-108 |
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