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Wegweisung
des Bruders Ältesten der Evangelischen Michaelsbruderschaft,
gegeben auf dem 20. Michaelsfest in Marburg am 7. September 1951
von Erwin Schmidt

LeerMeine Brüder!

Als ich vor vier Jahren ebenfalls hier in Marburg dem Gesamtkonvent das Wort der Weisung sagte, da war es ein theologisches, ja geradezu dogmatisches Wort. Denn wir hatten gerade eben erst die ernsten Spannungen überwunden, welche mit den Fragen unserer Meßtheologie zusammenhingen. Damals galt es, unsere Verwurzelung in der reformatorischen Theologie festzustellen und ihre Ausweitung in die trinitarische Fülle aufzuzeigen. Oder praktisch ausgedrückt: Wir mußten und durften der Tatsache Rechnung tragen, daß wir in der evangelischen Kirche leben und eine ökumenische Verantwortung tragen.

LeerHeute soll mein Wort an Euch vor allem ein brüderlich-seelsorgerliches sein. Denn es ist kein Zufall, daß in den letzten Jahren wie von selbst aus der „Programmrede des Leiters”, die dann meistens durch eine geistliche Rede ergänzt wurde, die Wegweisung des Ältesten geworden ist. Vor allen Aufgaben und Zielsetzungen steht die Bruderschaft selbst. Ihr Zustand und ihre Entwicklung ist die unerläßliche Voraussetzung für unser Reden und Tun. Sie wirkt und dient, sie steht und fällt mit ihrem Sein. Darum hat in dieser Stunde der Priester vor dem Theologen das Wort.

LeerIn der Gründungsurkunde unserer Bruderschaft, die hier vor 20 Jahren entstand, heißt es: „In einer Stunde, da die Kirche sich selbst an den Anspruch der Welt zu verlieren droht, kann sie das Wort der Entscheidung, das sie der Welt schuldet, nur sprechen, wenn sie den priestertichen Dienst des Gebetes erfüllt.” Es kann für unsere Bruderschaft einen Neuanfang nur geben aus diesem unserem Ursprung heraus. Meine erste Weisung an Euch, liebe Brüder, ist darum die Verpflichtung auf unseren Gebetsauftrag, wie er in dem ersten Abschnitt unserer Regel ausgeführt ist. Alle unsere Nöte und Sorgen, wie sie in diesen Tagen zur Sprache gekommen und sichtbar geworden sind, haben letztlich diese eine Ursache, daß wir in diesem unserem eigentlichen Auftrag lässig geworden sind. Wenn wir unser Werk bedroht sehen durch den Hochmut einerseits, der sich mit einer falschen Sicherheit über das Erreichte brüstet, und durch die Verzagtheit andererseits, die den Widerspruch zwischen unserm Wollen und Sein sieht, so geht beides auf die gleiche Wurzel zurück: Auf den Mangel an Demut und Vertrauen, wie sie nur in der heiligen Stille vor Gottes Angesicht gewonnen werden. Wir sind hierhergekommen mit sehr radikalen Fragen: Sollen und müssen wir nicht ganz neu anfangen? Ist unsere Existenz wirklich berechtigt oder ist der Versuch eines „evangelischen Ordens” etwa von vornherein eine Fehlkonstruktion? Diese Fragen sind keineswegs gelöst. Sie gehen weiter mit uns. Aber alle unsere Verheißung beruht darauf, daß wir betend warten auf die Wunder des heiligen Geistes. Wir wollen nicht vergessen, daß wir allen angesprochenen und erörterten Problemen zum Trotz hierhergekommen sind, um in großer Nüchternheit, aber auch in heiterer Gelassenheit miteinander vor Gottes Angesicht zu feiern.


I.

LeerIch möchte nun das weisende Wort dieser Stunde anschließen an die Schlußsätze unserer bruderschaftlichen Fürbittgebetes, in welchem wir uns gestern abend zusammengeschlossen haben und das wir an jedem Sonnabend beten. Dort heißt es:
„Wir danken Dir für unsere Gemeinschaft.
Wir danken Dir für den Beistand Deiner heiligen Engel
Wir danken Dir für die Verheißung Deines Heiligen Geistes.”
LeerLaßt mich zuerst von der Pflicht und der Verheißung des Dankens zu Euch sprechen!

LeerEs ist mir im Zusammenhang mit manchen notvollen Erfahrungen meines pfarramtlichen Dienstes in den letzten Monaten immer bedeutsamer geworden, daß der Apostel Paulus die meisten seiner Briefe mit einer ausdrücklichen Danksagung beginnt. Erst auf diesem Grunde erwachsen dann in seinen Briefen die theologischen Erörterungen, die sehr konkreten Mahnungen und Zurechtweisungen, die beschwörenden Bitten und Weisungen. Danksagen heißt im griechischen Urtext „Eucharistein”, d. h. das Dankopfer darbringen, im lateinischen „gratiam referre”, d. h. die empfangene Gnade Gott wiederbringen. Ihm mit Freuden opfern, was wir von Ihm empfangen haben. „Eucharisto” lautet - nach dem einleitenden Gruß - das erste Wort des Römerbriefes!

LeerMan hat diese Gewohnheit des Apostels, seine Briefe mit dem Dank zu beginnen, nicht ohne Grund aus der antiken Briefsitte zu erklären versucht und als „captatio benevolentiae” bezeichnet, als geschickte pädagogische Maßnahme, um den später folgenden Ermahnungen um so größeren Nachdruck zu verschaffen.

LeerAber diese Erklärung reicht nicht aus. In Wirklichkeit liegt hier eine ganz tiefe geistliche Weisheit und Erfahrung vor, von der wir Entscheidendes lernen können. Alle Verkündigung ruht auf dem Grunde der in Christo geschehenen Erlösung. Der Apostel geht in seiner Botschaft und Seelsorge aus von der unüberhörbaren Tatsachensprache, die Gott der Herr geredet hat dadurch, daß Er Seinen Sohn Mensch werden und die frohe Botschaft davon durch die Apostel verkündigen ließ, Seinen Heiligen Geist sandte und durch Ihn Seine Kirche als den Leib Jesu Christi werden und wachsen ließ. Die Apostel sehen sich diesem Handeln Gottes gegenüber als die Diener und Haushalter. Sie erfahren in ihrem Amt und Dienst, was der Herr Christus über Seinen Jüngern gesprochen hat: „Ich habe euch gesandt zu schneiden, was ihr nicht gearbeitet habt; andere haben gearbeitet, und ihr seid in ihre Arbeit gekommen” (Joh. 4, 38).

LeerWenn ich hier vor Euch stehe in dem Wissen um unseren Auftrag, Danksagung darzubringen, so muß ich zunächst ehrlich und offen bekennen: Ich aber habe nicht treu genug gedankt über Euch, sondern oft geseufzt und geklagt; ich habe gemurrt wider die Brüder und bin manches Mal an Euch und an mir selbst verzweifelt. Ich kann mich vor Euch nicht freisprechen von vorwurfsvollem Unmut über manche Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit in unserer Mitte. Manches Mal erfuhr ich die Wahrheit des Wortes aus dem Hebräerbrief, wo es von den Lehrern, die über die Seelen wachen, heißt „auf daß sie das mit Freuden tun und nicht mit Seufzen; denn das ist euch nicht gut” (Hebr.13,17). Laßt uns, meine Brüder, miteinander Buße tun über unserer Undankbarkeit. Laßt es uns miteinander wieder lernen und üben, zu danken für das, was an uns und für uns geschehen ist und immerfort geschieht! Laßt uns diese drei Worte unseres Fürbittgebetes wieder ganz ernst nehmen: „Wir danken Dir!”

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LeerIch meine das wahrlich nicht nur im Sinne eines „happy end” dieses unseres Michaelsfestes, sondern so, daß wir vor allem anderen uns unseres Auftrages bewußt werden, Eucharistie zu üben. Versteht das bitte nicht als einen überschwenglichen Gefühlsausbruch am Schlusse dieses über Erwarten gut und gesegnet verlaufenen Festes. Unser Dank soll und darf in großer Nüchternheit geschehen. Wir haben in den letzten Jahren sehr vieles in unsern Zielsetzungen zurückstecken müssen. Wir haben das Ordenshaus verloren, nicht durch fremde, sondern durch eigene Schuld. Wir haben sehr ernst davon gesprochen, daß unsere Schrifttumsarbeit, selbst bei den Brüdern, nicht die nötige Resonanz erfährt. Wir empfinden den Berneuchener Dienst weithin als ein noch immer nicht gelöstes Problem. Gleichwohl oder gerade deshalb rufe ich Euch zu: Laßt uns, wenn es sein muß, weniger drucken, weniger reden, weniger planen und organisieren, aber vor allem mehr beten und danken und dieses Danken als unsern eigentlichen Lebensauftrag erkennen und verwirklichen!

LeerDafür ein Beispiel aus meiner unmittelbaren Erfahrung in der Mutterhausdiakonie. Ich stellte in einem Diakonissenkursus folgende Frage: „Warum erwarten wir eigentlich von euch Schwestern, daß ihr nicht nur euren pflegerischen Dienst vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein gewissenhaft und fleißig tut, sondern daß ihr auch noch betet und an dem täglichen Gottesdienst teilnehmt?” Die Antwort lautete: „Wir brauchen das, um Kraft zu gewinnen für unsern schweren Dienst.” Ich gab mich aber mit dieser von mir erwarteten Antwort nicht zufrieden, sondern wir kamen zu dem Ergebnis, daß Beten und Danken unser eigentlicher, primärer Auftrag ist und der Gottesdienst die Wurzel und nicht etwa nur fromme Begleiterscheinung der echten Diakonie. Aus ihm und aus ihm allein wächst die nach außen wirkende Tat. „Gott loben, das ist unser Amt!”

LeerMeine Brüder! Hüten auch wir uns in der Bruderschaft vor jeder Flucht in die Geschäftigkeit, in das Wirken-wollen nach draußen! Unserer Bruderschaft ist nicht geholfen mit neuen Programmen und Zielsetzungen. Ihre Bewährung und Verwirklichung liegt in der Tiefe, in der Stille vor dem Angesicht des Heiligen Dreieinigen Gottes. Eucharistie, das ist unsere Lebensaufgabe. Je entschlossener und nüchterner, je freudiger und gehorsamer wir sie erfüllen, desto mehr wird uns „solches alles zufallen”.

LeerDarum rufe ich Euch, meine Brüder, mit dem Apostel zu: „Seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christo Jesu an Euch!” (1. Thess. 5,18). Das Eucharistein ist Forderung und Gabe Gottes zugleich. Das „Lobe den Herrn, meine Seele”, wie es schon vom Sinai her erklingt, wird in Christus für uns zur Möglichkeit und zum Geschenk.

LeerWir haben es nicht nötig, unseren Dank mühsam abzuleiten aus einem selbstzufriedenen Vergleich mit anderen kirchlichen Bewegungen oder aus der Anerkennung von Menschen. Wir wissen um den Grund, auf den wir gestellt sind, und der da gelegt ist in Jesus Christus. Aus Dank für Ihn und aus Liebe zu Ihm wächst unser Werk und unsere Sendung. Vielleicht kommt einmal die Stunde, da wir unserm täglichen Morgen- und Abendgebet um die Sendung der Engel Gottes auch formal einen Dank voranstellen. Aber heute schon bitte ich Euch, meine Brüder: Laßt keinen Tag beginnen und vergehen ohne den Dank für das, was Gott der Herr uns mit unserer Bruderschaft gegeben und anvertraut hat!


II a.

LeerDoch wir fragen nun weiter nach dem Inhalt unseres eucharistischen Auftrages. Da hören wir eine dreifache Antwort. Zuerst heißt es:
„Wir danken Dir für unsere Gemeinschaft.”
LeerWir verstehen darunter ganz unmittelbar unsere Bruderschaft, wie sie ist, ohne der kirchlichen Verbundenheit zu vergessen, die jeden von uns an seinem kirchengeschichtlichen Ort bindet. Wir nehmen den Bruder, wie er ist, mit seinen Gaben, die uns erfreuen, und mit seinen Lasten, die uns zu tragen geben. Wir wissen, wie leicht es ist, von der communio sanctorum zu schwärmen, solange wir sie uns nur theoretisch vorstellen. Bruderschaft aber bedeutet das Wagnis, den anderen in Liebe und Ehrerbietung als Bruder anzunehmen. Bruderschaft ist nichts „Gesichertes”, nichts ein für allemal Vorhandenes und Gegebenes, sondern das immer neue Ja der Liebe, der Geduld und der Bereitschaft, zu dienen. Bruderschaft ist der konkrete Gehorsam gegen die apostolische Regel. „Nehmet euch untereinander auf, wie Christus euch aufgenommen hat, zum Lobe des Vaters!” Bruderschaft stirbt und verdirbt an unserer natürlichen Neigung, von dem andern zu fordern und ihn zu kritisieren. Unsere Bruderschaft krankt an der gefährlichen Möglichkeit, von ihren Erfahrungen zu nehmen, was einem gefällt, und sich in die überlegene kritische Passivität zurückzuziehen, wo sie Opfer von uns fordert. Laßt uns, meine Brüder, aus dem demütigen Dank für unsere Bruderschaft den Mut und eine ganz neue Bereitschaft erwecken, als Brüder miteinander nach der apostolischen Regel zu leben. „Geben ist seliger als nehmen!”

LeerGemeinschaft, „Kommunion” ist im Neuen Testament immer zweifach, ja im Grunde dreifach bestimmt: Sie ist erstens:
Gemeinschaft mit dem Herrn.
LeerDas Kommunizieren mit Christus ist das erste. Hier liegt die unaufgebbare Grundlage auch unserer Bruderschaft, der Urquell, aus dem allein sie sich erneuern kann. Alle Spaltung und Entzweiung unter uns, aller Unfriede unter den Brüdern ist immer das Signal dafür, daß wir es an diesem innersten Punkt fehlen lassen. Alles Schuldigwerden aneinander und an unserer gemeinsamen Aufgabe ist „Sünde”, d. h. Absonderung von dem Kyrios.

LeerUnd daß wir dabei immer den ganzen Christus vor Augen haben! Den Christus, der im Wort und Sakrament gegenwärtig wird! Es sollte, um es ganz praktisch zu sagen, kein ernsthafter Konvent in unserer Bruderschaft stattfinden, ohne daß der Stimme der Offenbarung Gehör und dem Wort der Bibel Raum gegeben werde! All unser Beten hat ja nur soweit Vollmacht und Verheißung, als es Hören ist.

LeerSo verstanden, ist die Verwirklichung unserer Gemeinschaft immer Umkehr und Heimkehr unter der Losung des „verlorenen” Sohnes aus Lukas 15: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu Ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt im Himmel und vor dir”. Communio ist Gnade, Geschenk, Ruf und Gabe Gottes, die wir empfangen „ohne unser Verdienst und Würdigkeit”. Nein, wir sind keine „Elite” der Kirche Christi, sondern wir sind arme, verlorene Menschen, die den Ruf der Gnade empfangen haben. Wir sind selbst ecclesia, d. h. von Gott Gerufene, deren ganzes Leben und deren ganzer Reichtum darin besteht, daß Er selbst sich uns schenkt in Seinem Sohn, der unser Bruder ward.

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LeerNun aber wandelt sich diese Communio mit Christo zweitens zu der
Gemeinschaft untereinander.
Leer„Einer ist euer Meister, Christus; ihr aber seid alle Brüder” (Matth. 23, 8). Die Erfahrungen von 20 Jahren haben uns gelehrt, wie groß die Sehnsucht nach brüderlicher Gemeinschaft ist. die gleichen Erfahrungen aber haben uns auch gezeigt, wie groß die Spannungen unter uns sind, die es zu überwinden gilt. Wir fragen uns ernstlich: Ist die Spannweite unter uns nicht zu groß, als daß eine Bruderschaft sie auf die Dauer verkraften könnte? Wir sind in einem rein formalen Sinne keine „Bekenntniseinheit”. Wir haben im kirchenenrechtlichen und im kirchengeschichtlichen Sinn kein einheitliches „Bekenntnis”. Wir sind freilich noch viel weniger im kirchengeschichtlichen Sinne eine Union. Aber wir glauben daran, daß vor dem Angesichte Gottes und unter dem Kreuze des Auferstandenen und in der Kraft des Heiligen Geistes wahre Gemeinschaft des Menschen mit Gott und der Menschen untereinander erfahren und verwirklicht wird. Eben das und nichts anderes meinen wir, wenn wir so gern von der Gemeinschaft des Altares sprechen. Es ist in diesem Zusammenhang von mehr als exegetischem Interesse, daß an der bekannten Stelle im ersten Johannesbrief die Lesarten schwanken: „5o wir im Lichte wandeln, wie Er im Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft” „untereinander” oder „mit Christo”. Beides ist eben immer nur miteinander da.

LeerAber Communio im Neuen Testament hat darüber hinaus noch eine dritte Bedeutung und Beziehung. Sie schließt stets
die Gemeinschaft des dreieinigen Gottes in sich selbst und mit sich selbst
Leerin sich ein. Alle Gemeinschaft, wie wir Menschen sie erfahren, mit Gott und als Brüder, hat ihr Urbild in dem Geheimnis der Beziehungen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes untereinander. Christus spricht: „Gleichwie Mich der Vater liebet, also liebe Ich euch. Gleichwie Mich der Vater gesandt hat, also sende Ich euch.” Dieses wunderbare „Gleich-wie”, das wir aus der täglichen Vaterunserbitte kennen „Wie im Himmel, also auch auf Erden”, macht uns deutlich: Bruderschaft beruht weder auf der Sympathie, die wir füreinander empfinden, noch auf dem Gehorsam, den wir einander schulden und gewähren, noch auf dem Bruder-sagen zueinander; sondern Bruderschaft umschließt die immer neue geistliche Erfahrung, daß wir zertrennten, „atomisierten” Menschen aufgenommen werden durch die Gnade Gottes und das Wirken des Heiligen Geistes in die communio trinitatis, in die Liebe Gottes, welche Vater, Sohn und Heiligen Geist miteinander Gemeinschaft halten läßt.

LeerDarum, meine Brüder, laßt uns mit neuem Ernst und mit neuer Treue Dank sagen für unsere Gemeinschaft, sie in dem Dank bewähren und erneuern, die Gemeinschaft, welche unter dem Kreuz des Erlösers ihren Ursprung hat, in dem Lichte Seiner österlichen Gegenwart Wirklichkeit wird und erst vor dem Thron des dreimal Heiligen ihre Vollendung erfahren soll.


II b.

LeerAber wir fahren mit unserm bruderschaftlichen Fürbittgebet fort:
„Wir danken dir für den Bestand Deiner heiligen Engel.”
LeerIm Zeichen St. Michaels sind wir vor 20 Jahren an dieser Stätte aufgebrochen. Unsere Stifter wußten, weshalb sie sich nach dem Beistand der Engel Gottes ausstreckten. Sie wußten um die Bedrohung unseres kirchlichen Wollens und Wirkens durch die widergöttlichen Mächte. Und die Dämonie unseres Seins und Lebens hat uns in unserer eigenen Mitte bis in diese Stunde hinein begleitet. Wir wissen aus schmerzlichen Erfahrungen um die Gefahr der Hybris, der eigenmächtigen Sicherheit und Überheblichkeit, ebenso wie um die Not der Verzagtheit.

LeerWenn wir es wagen, an den Beistand der heiligen Engel zu glauben und um ihn zu bitten, so bedeutet das, daß wir uns mit all unserm bruderschaftlichen Tun und Lassen jener Demut verschreiben, die da spricht: „Herr, ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehst.” Dann machen wir ernst mit dem Wort Christi: „Ohne Mich könnt ihr nichts tun.” Die Engel Gottes in Bewegung setzen, heißt zugleich in Wort und Tat und allem Wesen zum Ausdruck bringen: Wir sind es nicht, die das Werk vollbringen und die Kirche retten könnten. Er allein, der Seine Boten sendet, muß und kann es tun.

LeerEs ist doch kein Zufall, daß in dem berühmten Gleichniskapitel Lukas 15 von der dreifachen Verlorenheit des Schafes, des Groschens und des Sohnes von den Engeln Gottes gesagt wird, es werde Freude vor ihnen sein über einen Sünder, der Buße tut. Wir können uns nur ganz in die Hand Gottes geben, damit Er uns wandle und erneuere.

LeerLaßt mich in diesem Zusammenhang, meine Brüder, noch etwas sehr Praktisches sagen! Im Zeichen St. Michaels schulden wir in der Bruderschaft einander noch viel mehr als bisher den Dienst der Beichte und Absolution. Es mag sehr nötig und sehr wichtig sein, daß wir in die verschiedenen Lebensgebiete hinein Antworten geben auf die vielen aufgebrochenen Fragen christlicher Lebensgestaltung und christlicher Weltanschauung. Sicherlich haben unsere bruderschaftlichen Erfahrungen hier ihr Gewicht. Aber ungleich wichtiger und ungleich nötiger ist es, daß wir dem Bruder, der im Kampf des Lebens steht und in seinem Beruf mit den Dingen ringt, in der Absolution das gute Gewissen geben, das ihn in den Stand setzt, trotz der eigenen Fehlsamkeit und Unzulänglichkeit mit getrostem Mut sein Werk zu treiben. Ich wüßte kaum einen Ort zu nennen, an welchem nach der Verheißung der Heiligen Schrift der Dienst der Engel Gottes uns stärker zu wirklicher Hilfe werden kann als den Beichtaltar!

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LeerWir wollen auch darüber still und dankbar werden, daß die Engel Gottes uns als Warner und Hinderer in den Weg treten, daß sie uns aus den Händen nehmen, wozu Gott Sein Nein sagt. Wir kommen aus manchem Unterlassen bruderschaftlicher Bewährung her. Nichts wäre falscher, als wenn wir versuchen wollten, dieses Unterlassen durch erhöhten Aktivismus wettmachen zu wollen, mag es sich dabei um einen liturgischen oder theologischen oder kirchgestaltenden Aktivismus handeln. An meiner früheren geliebten Wirkungsstätte, dem Lübecker Dom, grüßte mich bei jedem Gottesdienst in der Sakristei eine einzigartige, sehr alte Darstellung der Kreuzigung. Um den Querbalken des Kreuzes herum schwebten kleine gekrönte Gestalten mit Werkzeugen, Hammer und Zange, in den Händen. Sollen es die Engel Gottes sein und damit ausdrücken, daß auch das Todesleiden Christi in Gottes Ratschluß lag? Oder sollen es, wie andere meinen, unsere Menschen-„Tugenden” sein, die den Herrn der Herrlichkeit immer aufs neue ans Kreuz schlagen? Für unsere Betrachtung hat beides sein Recht: Wir wollen unsere Niederlagen in Demut aus Gottes Hand nehmen und sie uns durch den Beistand Seiner heiligen Engel zum Besten dienen lassen.

LeerWer die wunderbare zwanzigjährige Geschichte unserer Bruderschaft überschaut, wird der Erkenntnis nicht ausweichen können, daß Gott der Herr unser Werk wahrlich nicht nur durch uns, sondern trotz uns, trotz unserer Unzulänglichkeit und Säumigkeit, trotz unserer Trägheit und unseres Ungehorsams getrieben und gesegnet bat. Das soll uns still und demütig machen, aber auch getrost und gelassen. denn die Engel Gottes sind ja nur die Attribute des dreieinigen Gottes selbst. Die „Entdeckung” der Engel führte uns mit innerer Folgerichtigkeit zu dem Geheimnis der heiligen Trinität. Mit der Schau der Engel haben sich uns himmlische Dimensionen neu eröffnet, welche der Kirche weithin verloren gegangen waren.

LeerWenn wir ernstlich zu danken wagen für den Beistand der heiligen Engel Gottes, dann wird auch unsere Bitte, unsere „Epiklese”: „Sende Deinen heiligen Engel” neue Vollmacht empfangen. dann wird Dank und Bitte zum Ausdruck für die Tatsache, daß wir miteinander aus der Vergebung Gottes, aus Seiner Gnade zu leben entschlossen sind. Dann werden wir es auch in unserm Alltagswerk erfahren: „Die Engel selbst begleiten als Brüder unsre Reih'n.”


II c.

LeerDrittens und letztens heißt es:
„Wir danken Dir für die Verheißung Deines Heiligen Geistes.”
LeerHaben wir für unsern Weg und Dienst als Bruderschaft noch eine Verheißung? Besteht unsere Sendung und unser Auftrag noch? Wir haben uns ernstlich und rückhaltlos in diesen Tagen gemeinsamer Besinnung so gefragt. Woher soll eine positive Antwort kommen?

LeerSollen wir sie den großen Möglichkeiten entnehmen, die uns gegeben f sind? Gewiß, 600 Männer, die mit Ernst Christen sein und der Kirche Christi dienen wollen, sind heute ein ernst zu nehmender Faktor, ein Faktor, den man beachtet, begrüßt oder beargwöhnt. Vielleicht meldet sich nach den erhebenden Erfahrungen dieses unseres größten Michaelsfestes in uns selbst jene Stimme eines mitfeiernden Beobachters, die uns sagte: das macht Ihnen - auch in der römischen Kirche - niemand nach. Aber der Stolz auf unsere Möglichkeiten und die Befriedigung über das von uns Geleistete wäre ein gefährlicher und trügerischer Boden für unsere Gewißheit!

LeerOder sollte die Lage der Kirche unser Dasein und unser Werk rechtfertigen? In einem unserer Konvente kurz vor diesem Fest wurde im Blick auf alle unsere Sorgen und Schwächen von jüngeren Brüdern uns älteren Brüdern gesagt: „Wenn ihr jetzt aufgebt und die Bruderschaft begrabt, dann würde in der gleichen Stunde etwas ganz ähnliches neu erstehen.” Sind wir wirklich so unentbehrlich und notwendig? Wir wagen es nicht von uns zu sagen und gründen unsere Hoffnung für den ferneren Weg der Bruderschaft nicht darauf.

LeerUnd schließlich richten wir uns auch nicht an den großen Erwartungen auf, die suchende Menschen an uns stellen. Gewiß, wir tragen ein Bild der Kirche in uns, wie sie sein und werden müßte, um ihrer Sendung in der Zeit wahrhaft gerecht zu werden. Wir richten uns auch selbst nach diesem Bilde immer wieder aus. Aber Grund unserer Zuversicht ist dieses Bild der Erwartung nie und nimmer.

LeerUnsere Verheißung hat allein dort ihren Grund, wo alle göttliche Verheißung heilsgeschichtlich ihre Stelle hat, wo die Gemeinde Gottes sich als wartende Gemeinde den kommenden Gotteswundern öffnet. An der Grenze zwischen Altem und Neuem Testament, an der Schwelle zwischen Gesetz und Evangelium wurde die Verheißung Christi laut. Als Er Sein irdisches Werk vollendet hatte, sprach Er zu den Seinen von dem „Tröster”, dem Parakleten, den der Vater senden werde, damit Er, der Heilige Geist, das Christuswerk auf Erden fortsetze und vollende.

LeerAuch wir, meine Brüder, haben unsern Ort zwischen der Himmelfahrt Christi und Seiner Wiederkunft am Jüngsten Tage. Zwischen diesen beiden Polen, der Menschwerdung Christi und Seinem Kommen zum Gericht, schwingt unsere Verheißung, auch die Verheißung über unserm bruderschaftlichen Weg.

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LeerNicht umsonst sagen wir, daß unsere Zeit apokalyptsche Züge trägt. Nicht zufällig ist uns der Antichrist auch in unserm eigenen Ringen und in unserer eigenen Brust zur furchtbaren Wirklichkeit geworden. Auch durch den Leib unserer Bruderschaft, ja durch jeden einzelnen Bruder geht die bedrohliche Front zwischen Christus und Antichristus.

LeerIn dieser Lage helfen keine „Programme” und Entschließungen. Hier können auch wir nur mit neuer Treue und Demut warten auf die immer neue pfingstliche Verheißung: „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, welcher über euch kommen wird, und werdet Meine Zeugen sein” (Apg. 1, 8).

LeerWenn ich es vor vier Jahren wagte, die trinitarische Verwirklichung als unsere Aufgabe zu bezeichnen, so möchte ich es heute wagen, die eschatologische Haltung als unsere bruderschaftliche Lebensaufgabe daneben zu stellen. Im Warten auf die göttliche Verheißung soll der Michaelsbruder vor allem sich bewähren und erweisen. Darum, meine Brüder, „lasset eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen und seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten!”

LeerJa, Herr, „wir danken Dir für die Verheißung Deines Heiligen Geistes”.

LeerLaßt mich, meine Brüder, mit einem Erlebnis aus meiner eigenen pfarramtlichen Tätigkeit in meiner Hamburger Kirche schließen. Es war im Hochsommer 1943, als die Luftangriffe in immer neuen rollenden Einsätzen die halbe Stadt zerstörten und sie bis auf einen kleinen Rest entleerten. Da hielten wir, ein kleines Häuflein der Zurückgebliebenen, in unserm Kirchlein mitten im Herzen der schwerbedrohten Großstadt unsere Gottesdienste, die Minuten zählend, die uns zwischen den Alarmen blieben. Wie von selbst und ohne alle Verabredung feierten wir damals - in einer von Anfang an sehr sakramentsfreudigen Gemeinde - zum erstenmal in der hundertjährigen Geschichte unserer Gemeinde allsonntäglich die Messe. Wir wußten ja nicht, ob nicht jeder einzelne dieser unvergeßlichen Gottesdienste für uns der letzte auf dieser Erde sein würde. Dort, an der Grenze zwischen Leben und Tod, geschah der Durchbruch zum Sakrament des Altares.

LeerSo wollen denn auch wir, meine Brüder, Ernst machen mit unserem „Eucharistein” und mit allem, was wir sind und haben, jenem Gebetsruf unserer Meßfeier Ausdruck geben, der uns von Anfang an so lieb und wert wurde: Maranatha, ja, komm, Herr Jesu!

LeerWir haben in diesen Tagen unseres gemeinsamen Feierns und unserer bruderschaftlichen Besinnung wiederholt davon gesprochen, daß das gesprochene und geschriebene Wort die Brüder oft nicht mehr zu erreichen scheint, sondern verlorengeht unter den mannigfaltigen Eindrücken und Klängen unserer unruhigen Zeit. Ich weiß nicht, ob Euch in dieser Stunde dieses Wort erreicht, ob es bei Euch ankommt oder nicht. Aber ich weiß auch, daß, wenn es bei Euch ankommt, es nicht mein, sondern Sein Wort ist! In Seinem Namen, als Diener des Herrn Jesus Christus rufe ich es Euch zu an dem Beginn des dritten Jahrzehntes unserer Bruderschaft:
„Meine lieben Brüder, seid fest, unbeweglich, und nehmet immer zu in dem Werk des Herrn, sintemal ihr wisset, daß eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn!” (1. Kor. 15, 8).
Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 128-136

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-29
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