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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerIn der Auslegung der 10 Gebote hatte ich zum 8. Gebot unter anderem davon geschrieben (Pfingstbrief 1951, S.132), wie verbreitet die feine Kunst ist, „das Gift der bösen Nachrede so geschickt zu verspritzen, daß man nachher nie sagen kann, wer es gewesen ist. Hier hilft nur, daß es eine Anzahl anständiger Menschen gibt, die dem Verleumder sofort widersprechen, den Gerüchtemacher zur Rechenschaft ziehen, der bösartigen und diffamierenden Polemik eine unbedingt saubere Art sachlicher Auseinandersetzung gegenüberstellen. Es müßte zum unbedingten Grundsatz jener Anständigen werden, nicht anders über Abwesende zu reden, als man zu den Anwesenden sprechen könnte, und sich ritterlich schützend vor den wehrlos Angegriffenen zu stellen”. An den letzten Satz erinnert mich nun ein Leser und fragt, ob und wie es denn möglich Sei, diesen Grundsatz durchzuhalten. Der Briefschreiber, wie so viele durch den Krieg des eigenen Heimes und durch den Tod der nächsten Angehörigen beraubt, lebt unter Menschen, denen man um der Wahrheit und Treue willen fast täglich widersprechen müßte, und mit denen doch ein sachliches Gespräch so gut wie unmöglich ist; um nicht immer neue Ausbrüche von gereizter und zorniger Ablehnung hervorzurufen, müsse man doch viel lieber schweigen. „Aber man erkennt, daß man den anderen Menschen etwas Wesentliches schuldig bleibt, wenn man redet, und wenn man schweigt.”

LeerDie Lage, in die der Briefschreiber durch seine Andeutungen hineinsehen läßt, gehört sicherlich zu dem Schwersten, was einem Menschen in seinem Alltag auferlegt sein kann, ständig angewiesen zu sein auf die Nähe von Menschen, mit denen ein vertrauensvolles und offenes Gespräch nicht möglich ist, weil die Voraussetzung für das Wagnis, „einander in Liebe die Wahrheit zu sagen”, nämlich eine gemeinsame geistliche Heimat und Verantwortung, fehlt und auf keine Weise hergestellt werden kann. Sicherlich ist in einer solchen Lage das (wenn schon betrübte) Schweigen besser als der aussichtslose Versuch, durch gut gemeinte Rede, die den anderen nur zum Zorn (oder zum Lachen!) reizt, etwas zu bessern; und man ertappt sich wohl darüber, daß die Worte, die eine so ungute Wirkung haben, vielleicht doch zu einem Teil aus dem eigenen Bedürfnis nach Geltung und Recht-behalten entspringen und nicht wirklich dem ehrlichen Wunsch zu helfen.

LeerAber von einer solchen Notlage war in dem oben angeführten Satz aus dem Pfingstbrief 1951 gar nicht die Rede. Keineswegs sollte damit die Regel ausgestellt werden, daß anständige Menschen immer nur so über andere reden dürften, wie sie auch mit diesen anderen sprechen könnten. Eine einfache kurze Besinnung zeigt, daß ein solcher Grundsatz ganz undurchführbar wäre und in den verschiedensten menschlichen Situationen zu schanden würde (auch wenn man Sonderfälle wie die pädagogische Situation oder die Beratung von Ärzten über einen Patienten außer acht läßt). Sondern es war die Rede von der ganz konkreten (freilich sehr häufigen) Situation, daß in einem Kreis von Menschen ungut, unwahr, bösartig über Abwesende gesprochen wird; dann müßte es ein paar anständige Menschen geben, die nun das ungute Gerede auf die Ebene der Wahrheit und der Liebe zurückholen, keineswegs alles „entschuldigen” und alles gut heißen - es war ausdrücklich von einer sachlichen Auseinandersetzung die Rede -, aber eben so sprechen, daß es der Angegriffene selbst hören, und daß ihm durch die Art, wie über seine (vielleicht ganz unbestreitbaren) Fehler geredet wird, ein Dienst erwiesen werden könnte.

LeerMan kann ja gewiß, wenn alles in der Wahrheit und in der Liebe geschieht, sehr viel mehr sagen und sehr viel offener sprechen, als das den meisten möglich erscheint; aber freilich, gewiß, es gibt Situationen, wo der Boden für diesen hilfsbereiten Dienst nicht mehr gegeben ist. Nur wird in allen den Fällen, in denen man nicht mehr  z u  einem Menschen sprechen kann, auch in Äußerungen über ihn eine besondere Zurückhaltung geboten sein; auch wir spüren ja doch in einem unheimlichen Maß, auch wenn kein Wort davon direkt zu uns dringt, wie über uns geredet wird, und das (auch das in Abwesenheit und hinter unserem Rücken gesprochene) ungute und lieblose Wort vergiftet die Atmosphäre und nährt in ihr die Keime des Unfriedens. - Solches notwendige und heilsame Schweigen nicht nur gegenüber bestimmten Menschen, sondern auch im Gespräch über sie, kann freilich zu einer kaum tragbaren Belastung werden, und es ist wohl notwendig oder zum mindesten eine große Hilfe, wenn der Mensch, der in seiner täglichen Umgebung in solcher Weise um des Friedens willen schweigen muß, einen Ort hat, einen verschwiegenen Seelsorger, wo er sich die Last von der Seele reden kann, und wo sich die überforderte Seele von allem Unguten und allem heimlichen Groll in der Beichte vor Gottes Angesicht reinigen darf; und wo - um mit Nietzsche zu sprechen - diese reinlichen Abzugskanäle der Seele verstopft sind, da sammelt sich der Unrat, und die zuchtvolle schweigende Liebe verwandelt sich in stummen Trotz.

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LeerEin alter Bekannter schreibt mir: „Weshalb wird in unserem evangelischen Gottesdienst nicht viel mehr das Lob des Herrn zum Ausdruck gebracht?” - Die Tatsache, die der Briefschreiber beklagt, kann nicht bestritten werden. Der freudige Lobpreis, die Anbetung vor dem Thron Gottes, die festliche Danksagung, die Eucharistia, spielt in unseren evangelischen Gottesdiensten nicht von ferne die Rolle wie in den Briefen des Neuen Testamentes oder in den Psalmen, und ich würde nicht wagen zu behaupten, daß es in dieser Hinsicht in der lutherischen Kirche besser bestellt sei als in anderen Zweigen der evangelischen Kirche. Mit dem bloßen Bedauern darüber, daß es sich so verhält, ist es freilich nicht getan, und eine Besserung kann nur geschehen, wenn man die Wurzeln dieses Schadens aufgedeckt hat. Wenn der Gottesdienst wesentlich als eine Veranstaltung zur Belehrung, Erweckung, Mahnung, Erbauung des Menschen verstanden und gestaltet wird, so tritt der Mensch mit seinem religiösen Interesse in den Vordergrund und lähmt mit seinem Anspruch den Blick und die Bewegung auf Gott selbst. Der Herzschlag des christlichen Gottesdienstes aber ist die liebende Verehrung Gottes, die Anbetung vor dem Thron seiner Majestät, das Lob seiner Herrlichkeit, Weisheit und seines Erbarmens. Dazu aber ist mehr echte Bescheidenheit, echte Demut von Nöten, als die meisten Menschen aufzubringen vermögen. Wir suchen im Gottesdienst zu sehr die eigene Bestätigung, als daß wir einfältig und vorbehaltlos Gott recht geben und ihn „loben” könnten.

LeerEs kommt noch ein drittes hinzu: Wir sind gelehrt, uns so sehr vor Gott als die „armen elenden sündigen Menschen” zu empfinden und nur „im Gefühl unserer Unwürdigkeit, Sünde und Schuld” ihm zu nahen, daß in dieser düsteren Stimmung des über sich selbst traurigen Menschen die Freude der erlösten Kinder Gottes, das freudevolle Zurückschwingen der erfahrenen Freundlichkeit und Huld Gottes zum Herzen des liebenden Vaters nicht recht gedeihen kann. Adolf Schlatter hat vor vielen Jahren einmal von der gewollten und betonten „Kümmerlichkeit” der protestantischen Frömmigkeit und ihrer Gottesdienste geredet. Das ist so! Und es heißt im 1. Kapitel des Epheserbriefes eben nicht „daß wir zur Ehre seiner Herrlichkeit nichts seien”; sondern: „daß wir etwas seien zum Lobe seiner Herrlichkeit!”

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LeerIn den neuen Bibelausgaben findet sich zu dem „Taufbefehl” am Ende des Matthäus- Evangeliums (28, 19 f.) eine Anmerkung, wonach die Worte genau lauten: „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker, indem ihr sie taufet auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes und sie halten lehret alles, was ich euch befohlen habe.” Der Unterschied gegenüber der uns auch aus dem 4. Hauptstück des Katechismus vertrauten Fassung ist deutlich: Das erste Verbum heißt nicht lehren, sondern viel tiefer greifend und viel umfassender: zu Jüngern machen, und die beiden Partizipien des griechischen Textes (taufend... und halten lehrend...) machen den Zusammenhang deutlich: Die Eingliederung in die Jüngerschaft geschieht durch das sakramentale Geschehen der Taufe und durch die auf die praktische Nachfolge zielende Unterweisung. Es ist verschiedentlich der Versuch gemacht worden, den Sinn dieses wichtigen Textes im Deutschen auch ohne das häßliche „indem...” sachlich richtig wiederzugeben. Ein in langen Beratungen sorgfältig erwogener Vorschlag lag der Generalsynode der Vereinigten Lutherischen Kirche vor: „Machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe!” Dieser sachlich zutreffende und sprachlich einwandfreie Vorschlag konnte sich aber gegenüber dem traditionellen Text nicht durchsetzen. Auch Nicht-Theologen werden leicht die Tragweite dieser Entscheidung empfinden, und viele werden sie mit uns für eine betrübliche Fehlentscheidung halten.

LeerDer Auftrag, mit dem der auferstandene Christus seine Jünger in die Welt entläßt, ist umfassender als der der bloßen Lehre, und wenn ein Mensch in die Jüngerschaft hineingezogen wird, so geschieht immer mehr an ihm, als daß er belehrt wird; in dem umfassenden Vorgang der Jüngerwerdung steht das sakramentale  H a n d e l n  in der Taufe an erster, die Unterweisung erst an zweiter Stelle, und beides zusammen konstituiert das missionarische Werk „Machet zu (meinen) Jüngern...!” Die unzulängliche, wenn nicht geradezu falsche Übersetzung „Lehret alle Völker” ist der Ausfluß und Ausdruck einer Neigung, in dem Gesamtgefüge des der Kirche aufgetragenen Handelns die Lehre an eine Stelle und in einen Rang zu rücken, der ihr nicht zukommt.

LeerNoch bedeutungsvoller scheint mir in diesem Fall die rein formale Seite einer solchen Entscheidung. Man kann sich nicht entschließen, eine kirchliche Überlieferung dem klaren und von niemand bestrittenen Wortsinn der Heiligen Schrift anzupassen und sie danach zu korrigieren; die traditiones humanae, zu denen unzweifelhaft Luthers Bibelübersetzung gehört, behaupten sich gegen die Heilige Schrift; die offenbar unrichtige Übersetzung eines Bibelwortes darf nicht berichtigt werden, wenn sie durch die Autorität Luthers und seines kleinen Katechismus gedeckt ist. Wenn maßgebende Gremien der lutherischen Kirche mit Mehrheit eine solche Entscheidung treffen, so wird es schwer, künftig noch mit gutem Gewissen zu sagen, daß diese lutherische Kirche im Unterschied von anderen Teilen der christlichen Kirche, vor allem der römisch-katholischen Kirche, bereit sei, alle Lehre und alle kirchliche Überlieferung einschließlich ihrer Bekenntnisse an der Heiligen Schrift zu prüfen. Oder soll die Heilige Schrift als kritischer Maßstab nur gegen Lehre und Überlieferung anderer Kirchen gebraucht werden?

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LeerÜber die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Hannover wird an anderer Stelle dieses Heftes ausführlich berichtet; aber es wird mir erlaubt sein, diesen Bericht durch einige persönliche Eindrücke zu ergänzen. Die vorzügliche Ordnung, die diese große Konferenz auszeichnete, war am eindrucksvollsten in den großen gottesdienstlichen Feiern, dem Eröffnungsgottesdienst in der Marktkirche, dem Beichtgottesdienst und den täglichen Metten und Vespern. Die große Arbeit, die in den letzten Jahren durch die Lutherische liturgische Konferenz geleistet worden ist, hat ihre Krönung und Bestätigung erfahren; es ist meines Wissens das erste Mal, daß eine so große und aus so vielen Kirchen mit verschiedenen Überlieferungen besuchte kirchliche Versammlung sich wirklich in gemeinsamem gottesdienstlichem Handeln nach einer festen Ordnung zusammenfinden konnte. Daß diese Ordnung, nicht nur nach unserer Meinung, noch mancherlei Wünsche offen läßt, wiegt gering gegenüber dieser beglückenden Geschlossenheit. Wer das für Hannover neu geschaffene Gesangbuch „Laudamus” mit dem ökumen. Gesangbuch Cantate Domino vergleicht, merkt an der anderen Auswahl und Melodiegestalt der Lieder unmittelbar, was die nicht nur durch gemeinsame Lehre, sondern durch ein gemeinsames Liedgut bedingte innere Geschlossenheit der lutherischen Kirche bedeutet. Vielleicht hat diese Formkraft des täglichen Gottesdienstes einen wesentlichen Anteil daran, daß auch alles Äußerliche in einer sehr wohltuenden Weise geordnet war. Die hannoverische Jugend, die überall den -Ordnungsdienst versah und zu jeglicher Hilfe bereitstand, nach meiner Erfahrung immer bescheiden, freundlich und hilfsbereit, war für deutsche und ausländische Besucher schlechthin erfreulich.

LeerDas Bedeutsamste dieser lutherischen Weltbundtagung war die innere Haltung, die in einer bemerkenswerten Übereinstimmung in den verschiedensten Punkten spürbar wurde. Wer in Hannover eine Bestätigung für seine Meinung erwartete, die lutherische Kirche sei in dem Panzer geschichtlicher Überlieferung und in konfessioneller Selbstsicherheit erstarrt, mußte dort diese seine Meinung revidieren. Man wird später die Vorträge und Aussprachen genau studieren und festhalten - vielleicht auch manche daran erinnern - müssen, was dort gesagt worden ist. Wenn in dem großen Beichtgottesdienst das Luthertum vor „sektenhafter Überheblichkeit über andere Konfessionen” gewarnt und das Programm dieser Konferenz als eine Zusammenstellung solcher Dinge gedeutet wurde, die unsere Kirche selbst schuldhaft versäumt hat, so ist das eine eindrucksvolle Bestätigung für die Geschichte, die Bischof May erzählte, daß ein gemeinsamer Bußtag der beiden christlichen Kirchen in Österreich im Jahre 1946 (oder jedenfalls eine Fortsetzung dieses Unternehmens) daran scheiterte, daß die evangelische Kirche auch sich selbst in diese Buße einbeziehen wollte, während die römisch-katholische Kirche die Überzeugung vertrat, daß die Kirche nicht Buße zu tun brauche. - Mit überraschender Schärfe wandte sich Bischof Berggrav von Oslo gegen eine solche lutherische Staatsauffassung, die in dem „Spannungsfeld zwischen Röm. 13 und Apostelgeschichte 5” Röm. 13 isoliert und den Widerstand gegen eine gottlose Obrigkeit lähmt; es werde Zeit, diese Auffassung als häretisch zu verurteilen; was Luther über die als christlich vorausgesetzte Obrigkeit gesagt hat, sei nicht anzuwenden auf den modernen „Wohlfahrtsstaat”, der sich anmaßt, mehr zu sein, als der Staat sein kann.

LeerAuch in dem Vortrag von P. Brunner über den christlichen Gottesdienst und der nachfolgenden Aussprache wurden Töne laut, die erkennen lassen, wie sehr auch hier eine Neubesinnung und Umbesinnung im Gang ist; daß der Gottesdienst sacramentum und sacrificium (Gottesgabe und Opfer) zugleich ist, und daß also der Sinn des gottesdienstlichen Geschehens keinesfalls auf die „Verkündigung” zu beschränken ist, ist hier wohl zum erstenmal in einer so offiziellen Veranstaltung der lutherischen Kirche ausgesprochen worden.

LeerEs ist schon richtig, wenn in einem Bericht des (katholischen) Rheinischen Merkurs (vom 8. 3. 1952) als das Charakteristikum dieser lutherischen Tagung die Relativierung bestimmter historischer Entscheidungen des 16. Jahrhunderts beschrieben worden ist; nur daß wir dieser Entwicklung gegenüber weder erstaunt, noch besorgt, sondern vielmehr dankbar und hoffnungsvoll sind.

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LeerÜberall, wo Menschen Grenzen ziehen, laufen sie Gefahr, daß sie auseinanderreißen, was zusammengehört (so daß etwa plötzlich ein Bauer nicht mehr auf seinen Acker fahren oder ein Arbeiter nicht mehr an seine Arbeitsstätte gelangen kann), und künstliche Einheiten schaffen, die doch nicht zusammenwachsen können. Es ist leider im geistigen und geistlichen Raum nicht anders. Da lese ich irgendwo den Satz, es gäbe zwei Wege, die Gemeinschaft mit Gott zu suchen: entweder durch visionäre Erlebnisse, durch Meditation, Besinnung, Einkehr, Stille oder durch das Wort Gottes schlechthin. Hier werden zunächst Dinge auf eine Ebene gerückt, die durchaus voneinander unter-- schieden werden müssen; denn so eng Meditation mit Stille, Einkehr und Besinnung verbunden ist, so wenig hat sie mit visionären Erlebnissen zu tun; und dann werden Dinge voneinander unterschieden, die aufs allerengste zusammengehören. Denn Meditation ist ihrem innersten Wesen nach nichts anderes als eine Hilfe zum rechten Hören des göttlichen Wortes, ein Stillewerden des Leibes und der Seele, damit wir nicht durch unsere falsche Aktivität, durch unsere Worte und Gedanken das übertönen, was Gott uns sagen will. Es ist freilich erschreckend, wieviel Angst manche Protestanten vor solcher Stille und Besinnung haben, so als ob die Geschichte von den beiden Schwestern Maria und Martha in einem entgegengesetzten Sinn in der Bibel stände: die fleißige und tüchtige Martha habe das gute Teil erwählt, während Maria, indem sie die Stille, die Einkehr, die Besinnung suchte, damit einen schwärmerischen oder heidnischen, jedenfalls unbiblischen und unchristlichen Weg zu Gott betreten habe. Es gibt im politischen Raum so viele falsche und verhängnisvolle Grenzen, daß wir nicht auch noch im geistlichen Raum Schlagbäume aufrichten sollten, wo in Wirklichkeit keine Grenzen sind!

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LeerIn der anglikanischen Kirche gibt es eine sehr ausgebreitete und in ihrer Weise ausgezeichnete Literatur über das Wesen des „mental prayer” (man könnte etwa übersetzen: des inwendigen Gebets des Herzens), der Meditation und der Kontemplation. Es gibt umfangreiche Bücher mit viel geschichtlichem Material über die verschiedenen Wege und „Methoden”, mit praktischen Anleitungen und vielen Beispielen, und es gibt vor allem eine große Zahl kleiner volkstümlicher Schriften, die für den einfachen Kirchenchristen eine große Hilfe bedeuten können, und denen wir nichts Gleichartiges an die Seite zu setzen haben. Aus einigen dieser Heftchen teile ich einige Sätze mit, um einen Eindruck von dieser ganzen Art seelsorgerlicher Literatur zu geben. „Über Meditation gibt es mehr Mißverständnisse als über die meisten Übungen des geistlichen Lebens. Sie ist aber nicht mehr und nicht weniger als das Bemühen, unsere Bibellesung nützlich und fruchtbar für unser persönliches Sein zu machen.” „Beten heißt mit Gott sprechen; Meditation kann verstanden werden als ein Hören auf Gott.” „Wir reden immer und lassen keinen Raum, in dem Gott zu uns sprechen kann.” „Denke nicht, daß Meditation für dich eine schwierige Sache sei. Sie ist nicht schwierig: Erinnere dich; stelle dir vor Augen nicht irgend etwas Eingebildetes und Unwirkliches, sondern das, was wirklich ist; versuche zu verstehen; gib dem, was dich bewegt, irgend einen Ausdruck; fasse einen Entschluß!” (Aus einem Heft „For use in retreat” - (Erste Einführung in eine stille Zeit (Rüstzeit):) Sprich: Gott hat eine Botschaft für mich; ich bin hier, um sie zu empfangen. Ich muß bereit sein zu hören; ich muß „da sein”; ich muß schweigen; ich muß aufmerken; ich muß eifrig sein. Schweigen, Ruhe, Aufmerksamkeit!

LeerEs ist alles sehr einfach gesagt. Versäumen wir nicht leicht über unseren tiefsinnigen Gedanken, gerade diese einfachen Dinge zu sagen?

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LeerWenn man erst einmal alle falschen und verkrampften Vorstellungen von Meditation überwunden und eingesehen hat, was für eine einfache und kindliche Sache das Meditieren ist, dann wird man allmählich auch erkennen, welche unermeßliche Bedeutung einfache Übungen der Meditation für die religiöse, oder sagen wir lieber: für die kirchliche (Erziehung der Kinder haben könnten. Es ist erstaunlich, wie lebendig Kinder (nicht erst im Konfirmationsalter!) darauf reagieren, wenn sie angeleitet werden, den gottesdienstlichen Raum in sich aufzunehmen und sich selber schweigend und in zuchtvoller Haltung und Gebärde diesem Raum einzufügen. Bei diesen ersten, allerersten Schritten der Meditation werden sofort andere Schichten des kindlichen Seins angerührt als bei jedem Unterricht, der sich nur oder überwiegend an das verstandesmäßige Denken wendet. Sich in der Hingabe des Herzens zu verbinden mit einem reicheren, größeren, höheren Leben ist eine wahrhaft kindesgemäße Haltung, und der Widerstand vieler Leute gegen alles, was sie von Meditation hören, beruht vielleicht darauf, daß sie viel zu gescheit und zu kompliziert sind, um zu einer so kindlichen Haltung fähig zu sein.

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LeerInzwischen hat die große Konferenz für Glaube und (Kirchen-)Verfassung in Lund (Schweden) stattgefunden. Es ist nicht möglich, in diesem Augenblick aus der Fülle der widerspruchsvollen Eindrücke heraus ein abgewogenes Gesamturteil abzugeben; aber ich möchte wenigstens dieses sagen, daß der umfassende Schlußbericht, in dem die Arbeitsergebnisse der fünf Sektionen niedergelegt sind, das sorgfältigste Studium verdient. Es ist erstaunlich, daß aus diesem Gemenge verschiedenster Traditionen und Überzeugungen, aus so viel Unzulänglichkeit des Verfahrens so viel Gemeinsamkeit und - aufs Ganze gesehen - ein Dokument von so erheblichem theologischem und kirchengeschichtlichem Gewicht zustande kommen konnte. Auf die sachlichen Fragen, die in dieser Konferenz sichtbar geworden sind und die alle dort vertretenen Kirchen auf lange Sicht beschäftigen müßten, werden wir ausführlich zurückkommen.

Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 209-216

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-29
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