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Inkarnation
von Wilhelm Stählin

LeerOft genug ist auf jene verborgene Struktur der christlichen Glaubenswahrheit hingewiesen worden, daß zwar die einzelnen Aussagen, wie sie in den Sätzen des Credo aufeinander folgen, den Steinen eines Gewölbes gleichen, von denen einer den anderen trägt, und aus deren Gefüge darum kein einzelnes Stück willkürlich herausgebrochen werden kann, ohne das Ganze zu gefährden, daß aber andererseits in jedem einzelnen Satz geheimnisvoll schon das Ganze enthalten ist, und daß darum jeder, der in den Sinn irgend eines dieser Glaubenssätze tief genug meditierend eindringt, alsbald jenes pleroma schaut, die „vollkommene Fülle”, die das fragende und verlangende Herz „mit Einem in Allem ergötzt”. Gewiß müssen darum nicht .andere Sätze, in denen der christliche Glaube das ihm geoffenbarte Geheimnis der göttlichen Wahrheit auszusprechen versucht, entwertet oder geringer geachtet werden, wenn wir doch die Aussage wagen, daß jene das Ganze tragende und zugleich das Ganze in sich schließende Bedeutungstiefe und Bedeutungsfülle in einer besonderen Weise dem Satz anhaftet, daß in der Geburt Jesu Christi Gott Mensch geworden: Incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine et homo factus est.

LeerDie Tragweite dieses Satzes, der im strengsten Sinne ein Glaubenssatz ist, für das Gesamtverständnis Gottes und der Welt, also auch des Menschen, erschließt sich uns am leichtesten, wenn wir (wie es jede geschichtliche und dogmatische Analyse des Credo tun muß) danach fragen, welcher dieser Erkenntnis entgegenstehende Irrtum damit abgewehrt werden soll, in welcher Frontstellung also dieser Satz ursprünglich gesagt ist und auch heute allein sinnvollerweise gesagt werden kann. Diese notwendige Fragestellung schließt freilich zugleich die andere Frage ein, welche besonderen Hindernisse die Denkgewohnheiten, in die wir heutigen Menschen schicksalhaft und anscheinend unentrinnbar verflochten sind, dem wirklichen Bekenntnis eines solchen Satzes entgegenstellen, und warum wir also ständig in Gefahr sind, solche Sätze unseres Glaubensbekenntnisses zwar gewohnheitsmäßig zu sprechen, sie aber innerhalb unseres gesamten Welt- und Selbstverständnisses zu isolieren und sie also gerade nicht als Ausdruck einer allumfassenden und verpflichtenden Erkenntnis ernstzunehmen.

Leer1. Noch vor einem Menschenalter haben die meisten Pädagogen es als die unbestreitbare Pflicht und Kunst des Lehrers angesehen, gelernt und geübt, im Unterrichtsgang von der „Anschauung” zum „Begriff”, also von dem einzelnen Gegenstand, der einzelnen Geschichte, zu der allgemeinen Erkenntnis fortzuschreiten, die daran sichtbar gemacht werden kann; von der anschaulichen Erzählung die Kinder zum „System” (das heißt eben jener in allgemeinen Sätzen zu formulierenden Wahrheitserkenntnis) zu führen, wurde uns in den berühmten „Formalstufen” der Herbart-Zillerschen Unterrichtslehre als das eigentliche Ziel der „Kunstkatechese” vor Augen gestellt. Der Formalismus dieser didaktischen „Stufen” ist aus der heutigen pädagogischen Methodenlehre verschwunden, keineswegs aber ist in unserem gesamten Denken die Herrschaft jener Grundanschauung gebrochen, die darin ihren (in ihrer Weise imponierenden) Ausdruck gefunden hatte.

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LeerEs ist die unausrottbare Meinung, daß die Wahrheit nur in jenem „Allgemeinen” zu finden sei, das von aller konkreten sinnlichen Erscheinung abgezogen, „abstrahiert” ist. Nur der Ungebildete kann sich von dem Anschauen des Einzelnen, der einzelnen sinnlichen Erscheinung, dem einzelnen Ereignis nicht losreißen, während die höhere Bildung ihre Überlegenheit darin bewährt, daß sie jene allgemeinen Regeln und Gesetze aufsucht, die das Zufällig-Einzelne erst zur geordneten Ganzheit zusammenbinden. Niemand kann bestreiten oder übersehen, daß diese Liebe zur allgemeinen und abstrakten Wahrheit auch das religiöse Denken, auch unsere Theologie aufs entschiedenste beeinflußt hat. Lessings Mißtrauen und Abneigung gegen die „zufälligen Geschichtstatsachen” ist der Ausdruck dieses Strebens nach allgemeinen und zeitlosen Wahrheiten, die aus der Fülle der einzelnen Ereignisse und Meinungen als deren „Quintessenz” ausgezogen und als das Wesentliche und Bleibende allein der dauernden Beachtung und Verehrung würdig seien. Die Neigung, das „Christentum” als ein solches System unvergänglicher „Lehren” aufzufassen und also aus den geschichtlich fragwürdigen Einzelheiten das „Wesen des Christentums” zu abstrahieren, hat durch viele Jahrzehnte die öffentlichen Erörterungen über den christlichen Glauben beherrscht, und niemand wird wagen zu behaupten, daß diese Allgemeinherrschaft des Allgemeinen gebrochen oder auch nur erschüttert sei.

LeerDer Glaube an die Menschwerdung Gottes ist der denkbar schärfste Gegensatz zu der Verherrlichung der allgemeinen und zeitlosen Ideen. Hier erhebt sich nicht der reine und freie Geist über alle besonderen und konkreten Ereignisse und „Tatsachen” in das luftige Reich der „unvergänglichen Wahrheiten”, sondern hier verbindet sich der „absolute” Geist mit einem konkreten, einmaligen, unvergleichlichen und unwiederholbaren Ereignis, und es gefällt ihm, in dieser Hülle, oder vielmehr in dieser Gestalt sich zu manifestieren. „Es begab sich aber zu der Zeit...” Zu einer feststellbaren geschichtlichen Stunde, an einem einzelnen, genau zu beschreibenden Punkt dieser Erde, in dieser menschlichen Person, die zur Abgrenzung gegen das allgemein Menschliche einen Eigen-Namen hat, ist Gott aus der Verborgenheit hervorgetreten, hier, und nirgends anders, will er gesucht und gefunden werden. Jede Frau weiß, wenn sie Mutter wird, unmittelbar, daß die Geburt eines Kindes als der konkrete Anfang eines konkreten Lebens schlechterdings nicht verstanden werden kann als der Spezialfall einer allgemeinen Idee des Lebens oder der Menschheit; so kreisen alle echten Darstellungen der Jungfrau mit dem Kinde um dieses Geheimnis, daß Gott nicht durch Abstraktion in immer inhaltsloseren Allgemeinheiten, sondern in diesem einmaligen Geschehen, in diesem „hier und jetzt”, in diesem „dort und damals” gefunden und angeschaut werden will.

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LeerWären wir immer dieser Grunderkenntnis des christlichen Glaubens treu geblieben, so hätte die Flucht vor allem Konkreten nicht die verhängnisvolle Rolle spielen können, die diese instinktive Abneigung gegen alle Konkretion tatsächlich, vor allem im Bereich der protestantischen Denkweise, gespielt hat und noch spielt. „Das Heilige” zu verehren, liegt diesem im Abstrakten schwebenden Denken sehr viel näher, als den heiligen Ort, die heilige Zeit, das heilige Buch oder die heilige Handlung zu achten und zu ehren; die allgemeine Menschenliebe zu predigen, scheint ihm wichtiger als der Dienst an dem konkreten und besonderen Menschen, den Gott zu unserem Nächsten gemacht hat; die allgemeine Sündhaftigkeit zu bekennen und Gott (wie Esther von Kirchbach es einmal ausgedrückt hat) einen zugebundenen Sack mit allen unseren Sünden („in Gedanken, Worten und Werken”) vor die Füße zu werfen (Er wisse, wieviel drinnen ist), entspricht dieser Feindschaft gegen alles Konkrete mehr, als in der Beichte eine einzige konkrete Sünde mit Namen zu nennen; für alle Fälle eine Anzahl von Bibelsprüchen im Gedächtnis zu haben, die in jedem Fall einigermaßen passen, ist eine einfachere Art von Seelsorge, als es das Wagnis eines konkreten Rates, einer bestimmten Weisung, eines ins Einzelne gehenden Urteils jemals sein könnte.

LeerWenn aber Gott Mensch geworden ist, nicht irgend ein Mensch oder ein „allgemeiner Mensch” ohne individuelle Merkmale, sondern eben dieser Mensch Jesus Christus, zu dieser Stunde des Geschichtsablaufs, dann ist uns die Flucht ins Allgemeine verwehrt, und dann wird das Verlangen unserer Seele nicht in der Entdeckung und Verehrung allgemeiner Wahrheiten, sondern im Anschauen des einen, einmaligen und konkreten Geschehens, daß Gott Mensch wurde, gesättigt.

Leer2. Der Glaube an die Menschwerdung Gottes hat seinen klassischen und zugleich seinen erstaunlichsten Ausdruck gefunden in dem Satz des Johannes-Prologs (Joh. 1. 14): Ho logos sarx egeneto; das Wort, die ewige Selbstentäußerung Gottes, wurde „Fleisch”. Eben dieses meint die lateinische Vokabel incarnatus est: Der Sohn des Vaters, „Gott vom Gotte, Licht vom Lichte, geboren nicht geschaffen”, hat sich einfügen lassen in die irdische, fleischliche Existenz des Menschengeschlechts. So wie geschichtliche Ereignis jeden Fluchtweg ins zeitlos Allgemeine abschneidet, so versperrt die Leibhaftigkeit dieser Geburt den ebenso beliebten Fluchtweg in die die „rein geistige” Idee.

LeerEs ist nicht nötig, zu beweisen und Belege dafür zusammenzutragen, wie sehr wir alle (auch die Einsichtigen unter uns) verwirrt oder besessen sind von der Neigung, das „Geistige” höher zu werten als die irdische, stoffliche Wirklichkeit. Das Mißtrauen gegen die körperliche Sphäre und die Meinung, der Mensch müsse, um zur Höhe der Gottheit aufzusteigen, sich aus dieser „niederen”, sinnlichen Sphäre erheben in die reine Höhe seines „geistigen” Wesens, ist aus der späten hellenistischen Welt zunächst eingesickert, dann in breiter Flut eingeströmt in das christliche Denken seihst und hat jene Ächtung und Verachtung der Leibhaftigkeit hervorgerufen, die nun innerhalb und außerhalb der Christenheit als ein Merkmal christlicher Denkweise angesehen wird.

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LeerSo weit diese spiritualistische Aufspaltung der lebendigen Ganzheit herrscht (und man möchte fragen: Wo herrscht sie nicht?), muß der Glaube an die Inkarnation des göttlichen Logos notwendig verblassen. Die Gotteserkenntnis, die wir Jesus von Nazareth verdanken, und die erhabene Sittenlehre, die er verkündigt hat, treten an die Stelle seiner leibhaftigen Wirklichkeit. Die Geburt aus dem Leib einer menschlichen Mutter ist aber im eminentesten Sinn ein leibhaftes Geschehen. Ideen werden nicht geboren; sie haben vielleicht Väter, aber gewiß keine Mütter. Die von bestimmten Sekten genährte Fabel, daß irgendwo ein Buch als Gottes Offenbarung vom Himmel gefallen sei, ist der bis zur Lächerlichkeit groteske Ausdruck dieser Überschätzung der Gedanken und Worte auf Kosten des leibhaften Seins. Die Verehrung der Mutter des Herrn muß in erster Linie als das dankbare Bekenntnis zu der leibhaften Wirklichkeit und Gegenwart Gottes in dieser Menschenwelt verstanden und in diesem Sinn bejaht werden, während jede Gleichgültigkeit oder Gefühlskälte gegenüber der gebenedeiten Jungfrau den Verdacht nahelegt, daß hier die leibhafte Wirklichkeit der Inkarnation selbst verleugnet oder mißachtet wird.

LeerDer christliche Glaube legt, in Übereinstimmung mit dem Zeugnis der Apostel, entscheidenden Wert darauf, daß das Kreuzesopfer auf Golgatha ein leibhaftes Opfer gewesen ist, und daß dem auf Golgatha vergossenen Blut darum eine geheimnisvolle Kraft der Versöhnung und Erlösung innewohnt. Ebenso wehrt; der christliche Glaube jedem Versuch, die leibliche Auferstehung Christi und die Verklärung seines irdischen Leibes in ein rein geistiges Fortleben und Fortwirken des Christus-Geistes zu verflüchtigen. Beides aber hängt unauflöslich zusammen mit dem Glauben an die wirkliche und leibhafte Menschwerdung des göttlichen Logos, also seiner Geburt aus dem Schoß einer leiblichen Mutter; nur auf dem Hintergrund der Inkarnation gewinnt alles das, was die christliche Kirche am Karfreitag oder an Ostern verkündigt, sein Gewicht.

LeerWeil das Wort des Vaters in leibhafter Wirklichkeit und Gestalt unter uns erschienen ist, geboren, nicht gedacht, darum ist auch der christliche Gottesdienst ein leibliches Geschehen. Das Wort des Herrn, daß Gott, weil er „Geist” ist, „im Geist und in der Wahrheit angebetet” werden will, darf keineswegs als ein Widerspruch gegen diese Leibhaftigkeit des gottesdienstlichen Handelns mißverstanden werden. Wie sollte er, der unser Fleisch und Blut angenommen hat, dem Leih seine Teilnahme und seine Mitwirkung am kultischen Handeln zu Gunsten einer rein geistigen Gottesverehrung mißgönnen und verweigern? Das Opfer auch des Leibes, die Selbsthingabe des ganzen Menschen mit Geist und Seele und Leib, ist nach dem vielzitierten Wort des Apostels (Röm. 12,1) die dem logos, nämlich dem fleischgewordenen logos, angemessene Form des Gottesdienstes.

LeerEs gehört zu jenen raffinierten Täuschungen, mit denen der böse Feind die Menschen überlistet, daß er sie dazu verführt hat, von ihm, dem großen Widersacher, als dem „Leibhaftigen” zu reden. Gerade er ist es, der nie und nirgends leibhaft wird; der immer im Allgemeinen sich verbirgt und sich in hunderterlei Gestalten verkleidet, aber in keiner greifbar ist, während der, der alle Himmel erfüllt, in der Geburt des göttlichen Kindes konkret, leibhaft, darum anschaubar und gegenwärtig geworden ist. (Darauf hat Paul Schütz in seiner Schrift über den Antichristus besonders hingewiesen.) Der Nicht-Leibhaftige, den der Volksmund sehr zu Unrecht den Leibhaftigen nennt, ist es, der den Menschen mit dem Trugbild des reinen Geistes verwirrt, während es das große Wunder der Inkarnation ist, daß wir „sichtbar im Fleisch Gott schauen”, wie es in der kostbaren alten Präfation auf das Weihnachtsfest heißt.

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Leer3. Diese konkrete und leibhafte Offenbarung schließt in sich das Geheimnis, daß in der Geburt des Kindes der Maria Himmel und Erde sich verbinden, Gott und Mensch eins werden. Dreierlei Aussagen, die dieses Geheimnis verfälschen oder ausdrücklich bestreiten, liegen uns sehr viel näher als die Anbetung des Wunders der Inkarnation.

Leera) Unsere Vorliebe für absolute Gegensätze, für ein angeblich „radikales” (in Wahrheit gerade nicht an die Wurzel gehendes) Entweder-Oder, läßt uns die schroffe Gegenüberstellung von Himmel und Erde, Gott und Welt, Gott und Mensch sehr wohl verstehen. „Gott ist im Himmel und du auf Erden” (Pred. 5, 1), die Kluft, die zwischen beiden befestigt ist, scheint nicht weniger tief und breit als jene, von der im Gleichnis von dem reichen Mann und dem armen Lazarus (Luk. 16, 26) die Rede ist. In der philosophischen Sprache erscheint diese unüberbrückbare Kluft als die Transzendenz Gottes. Aber was auf der einen Seite das Bekenntnis jener unbedingten Ehrfurcht, ja „Furcht” Gottes ist, die um keinen Preis den wahren Gott, gleich den Gottheiten der heidnischen Naturreligionen, in die Sphäre der Welt und des natürlichen Lebens herabziehen möchte, schlägt nur allzuleicht um in die Selbstbescheidung der „in sich ruhenden Endlichkeit”, die sich vor jeder Störung durch den fernen und fern bleibenden Gott sicher fühlt. Indes hallt schon das Alte Testament wider von den Posaunenstößen der prophetischen Botschaft, daß dieser überweltliche Gott „kommt” und also aus dem fernen der nahe Gott wird. Jedes Blatt der Bibel zeugt von dieser „Offenbarung”, in der Gott der Welt begegnet und in ihr und an ihr handelt.

LeerAlle „Wahrheit”, auf die die Heilige Schrift hindeutet, ist nicht eine aus der Distanz anzuschauende statische Größe, sondern ist der Sinngehalt jener immer neuen Begegnung, in die wir von Gott hineingezogen, um nicht zu sagen verstrickt werden. Diese wahrheitsträchtige Begegnung vollendet sich in der Menschwerdung des „Sohnes”, von der nun in völlig anderen Kategorien geredet werden muß als von jeder prophetischen Predigt (Hebr. 1, 1 f.). Hier verbindet sich Gott in einer solchen Weise mit dem Menschengeschlecht, daß in der Gestalt des Gott-Menschen Gott und Mensch nicht mehr getrennt und unterschieden werden können, und alle Bemühungen der Kirche um die rechte Weise, von Christus zu reden, kreisen um dieses unauflösliche Geheimnis der gott-menschlichen Einung, die sich in der Inkarnation ereignet. Um dieses Geheimnis schwingt aber auch aller Gottesdienst der christlichen Kirche, in der Verkündigung und Auslegung des Evangeliums nicht minder als in der eucharistischen Feier, und nur weil der christliche Kultus in allen seinen Erscheinungsformen eine Ausstrahlung und Repräsentation der Inkarnation ist, kann die um den Altar versammelte Gemeinde ohne pathetische Übertreibung singen: „Gott ist gegenwärtig”.

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Leerb) Nämlich nur in dieser Beziehung auf das Geheimnis der Menschwerdung ist der Satz, daß Gott in unserer Mitte gegenwärtig sei, dagegen geschützt, im Sinn des entgegengesetzten Irrwegs mißbraucht zu werden, daß nämlich Gott immer und überall in dieser Welt zu finden sei. Wenn wir in der philosophischen Sprache der Transzendenz Gottes seine Immanenz gegenüberstellen, so glauben wir damit, statt des immer fernen, jenseitigen Gottes den immer nahen, dieser Welt als ihr tiefster Sinngehalt und jeder Menschenseele als ihr tiefster Wesensgrund innewohnenden Gott verkündigen zu dürfen. Auch hier kann jene Begegnung, wie sie in dem Wunder der Menschwerdung sich ereignet hat, nicht stattfinden; sie braucht nicht zu geschehen, weil ja Gott immer schon in dieser Welt zugegen und der zu den „Müttern” hinabdringenden Tiefenschau zugänglich ist. Es bedarf keiner Himmelsleiter, wie sie Jakob im Traum gesehen hat, weil Gott ja auch in dem Stein wohnt, auf den der flüchtige Wanderer sein Haupt gebettet hat. Diese Selbstgenügsamkeit, die von dem göttlichen Wesensgrund der Welt und der Menschenseele redet und darum weder die flehentliche Bitte, daß Gott das große Schweigen brechen und in seinem Wort zu uns kommen möchte, noch die demütige Anbetung vor der Erfüllung solcher Bitte in der Geburt des Gottes- und Menschensohnes kennt und kennen will, ist die sublimste Form der Hybris, jener superbia, die Gott leugnet, indem sie meint, seiner immer und überall habhaft werden zu können.

LeerAber ebenso wie der christliche Gottesdienst immer von Weihnachten her kommt und darum gewiß ist, daß Gott auch heute inmitten dieser seiner Gemeinde gegenwärtig sein will, ebenso weiß diese Gemeinde, daß darin ein immer neues Wunder und Geheimnis sich vollzieht, das in immer neuer, demütiger und flehentlicher Bitte erwartet werden will: „Komm, Heiliger Geist!”. Darum gehört, liturgisch ausgedrückt, die Epiklese als das Gebet um diese vollmächtige Gegenwart des schöpferischen Gottesgeistes mit dem Evangelium als dem Gedächtnis der geschehenen Begegnung und den verba testamenti als der Vergegenwärtigung des ein für allemal geschehenen Opfers unzertrennlich zusammen. Anders ausgedrückt: Das Fiat mihi secundum verbum tuum, das die Jungfrau Maria zu dem Engel gesprochen hat, ist nicht nur die widerstandslose Ergebung in ein Geschehen, das nun seinen Lauf nimmt, sondern es ist die mit ganzem Willen, mit Seele und Leib, vollzogene Hingabe und das brennende Verlangen, daß das nun wirklich geschehe, was geschehen soll, und was in der Verheißung des Engels schon seinen Anfang genommen hat.

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Leerc) Am entschiedensten widerspricht der Glaube an die Inkarnation der kühnsten und am höchsten fliegenden Aussage über den Menschen, jenem Selbstverständnis nämlich, kraft dessen der Mensch sich selbst zur göttlichen Würde erhebt. Dabei darf der Unterschied nicht verwischt werden zwischen dem Frevel, der den Menschen selbst auf den Thron dieser Welt setzt und ihn, den Gott mißt mit dem Maß seiner Gebote, zum Maß aller Dinge macht, und dem heidnisch frommen Streben nach Vergöttlichung des Menschen, das Mysterienwege zu kennen meint und beschreiten will, durch die der Mensch der göttlichen Natur teilhaftig und selbst „vergöttlicht” wird. Es gibt keinen „häretischen” Irrtum, der nicht selbst ein Element der Wahrheit in sich trüge, das aber durch falsche Isolierung verstört und in einen Irrtum verkehrt ist.

LeerSo enthält auch die Lehre von der Göttlichkeit oder der Vergottung des Menschen die echte Erinnerung daran, daß Gott den Menschen zu seinem Bild geschaffen und ihm die Teilnahme an seinem eigenen Leben verheißen hat; aber daß Gott zu dem Menschen herniedersteigt (descendit de coelis), um ihn zu sich empor zu ziehen, ist etwas schlechterdings anderes als der Wahn, der Mensch könne sich durch seelische Techniken und „asketische” Übung zur göttlichen Höhe emporarbeiten, sich „vergöttlichen” oder „durchchristen”. Auch hier weiß der Glaube an die Inkarnation um eine strenge und unüberschreitbare Grenze; während in der Geburt des Gottmenschen die Grenze zwischen Gott und Mensch aufgehoben ist („..wahr' Mensch und wahrer Gott”), bleibt die Herabkunft Gottes schlechterdings das Primäre, und alles geistliche Leben bis hin zu dem „Schmecken der göttlichen Kräfte” bleibt Ausstrahlung und Antwort auf das, was Gott an uns getan hat. In keinem anderen Sinn gibt es einen „Weg des Menschen zu Gott”, als daß wir dem „entgegengehen” (entgegengehen dürfen und entgegengehen müssen), der uns begegnet und uns „heimsucht”.

LeerEs ist nicht möglich, kühnere Worte über die Teilnahme des Menschen an dem Leben Gottes zu gebrauchen, als es in unseren Weihnachtsliedern geschieht; aber sie sind dort am Platz und in ihrem Recht, weil alles ganz und gar gesagt ist in dem Strahlenglanz des großen Wunders, das in der Menschwerdung Gottes sich ereignet hat.
„Das Wort ward Fleisch,
und wir sahen Seine Herrlichkeit,
eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohns vom Vater,
voller Gnade und Wahrheit,
und von Seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.”
Quatember 1953, S. 13-19

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-05
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