Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1953
Jahrgänge
Autoren
Suchen

Martin Luther und das Immerwährende Gebet
von Wolfgang Kretschmer

LeerBekanntlich wird in der orthodoxen Kirche dem „Immerwährenden Gebet” eine große Bedeutung beigemessen. Es wird auch „Jesusgebet” genannt, da es aus den Worten besteht:

Leer„Herr Jesu Christe, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner.” Dieses Gebet nun wird in fortschreitender Übung und Wiederholung so angeeignet, daß es sich ohne besonderes Zutun fortwährend im Menschen vollzieht. Dabei wird neben der sittlichen besonders auch der leiblichen Vorbereitung in Form von beruhigender Harmonisierung der Atmung und des Herzschlages große Aufmerksamkeit geschenkt, was der uralten religiösen Erfahrung entspricht, daß die geistliche Zucht auch eine leibliche Zucht voraussetzt. (Vergl. dazu P. Zacharias, Gebet und Entspannung, Der Weg zur Seele, 1952, Nr. 1.) Im 13. Jahrhundert von den hesychastischen Mönchen des Berges Athos entwickelt, verbreitete sich die geistliche Übung besonders in Rußland, wo sie bald die frommen Herzen gewann und eine ganze Gebetsmystik erstehen ließ. Die russischen „Erzählungen eines Pilgers” geben das beste anschauliche Bild von diesem Wege der Heiligung.

LeerDas in der jüngsten Zeit erwachende Interesse hierfür zeigt sich in den sorgfältigen Arbeiten von Michel Marx, einem amerikanischen Benediktiner: „Das unaufhörliche Gebet in der alten Mönchsliteratur” und von Georg Wunderle: „Die Psychologie des hesychastischen Gebets.” Aber nicht nur die römische Kirche ist an dieser Frage interessiert. Sie geht auch die Lutheraner an. Lesen wir, was Luther selbst darüber denkt, der wie die orthodoxen Väter das Gebet mit dem Herzschlag in Verbindung bringt: „Wie man beten soll:”

Leer” ... daß man keineswegs ablassen, sondern immerfort beten soll.”

LeerUnd an anderer Stelle: „Wo ein Christ ist, da ist recht eigentlich der heilige Geist, der nichts anderes tut als immerdar beten. Denn wenn er gleich nicht immerzu den Mund regt oder Worte macht, dennoch geht und schlägt das Herz - gleich wie die Pulsadern und das Herz im Leibe - ununterbrochen mit solchem Seufzen: Ach, lieber Vater, daß doch Dein Name geheiligt würde. Dein Reich käme. Dein Wille bei uns und jedermann geschehe usf.; und je stärker die Püffe oder Anfechtungen uns knuffen und drücken, desto kräftiger geht solch Seufzen und Bitten, auch mündlich, sodaß man keinen Christen finden kann ohne Gebet, so wie keinen lebendigen Menschen ohne den Puls, welcher nie stille steht, sich immer regt und für sich schlägt, auch wenn der Mensch schläft oder etwas anderes tut, sodaß er es gar nicht gewahr wird.”

Linie

LeerWir fragen nun, wie verhält sich die Anschauung Luthers zu der der orthodoxen Kirche? Was bei Luther persönliche Erfahrung blieb, die spontan aus seinem geistlichen Ringen herauswuchs, ist in der Orthodoxie systematische Methode, eine Methode allerdings, die größte Zucht und Glaubensinbrunst voraussetzt. Es ist unwahrscheinlich und auch ganz unwesentlich, ob Luther hier orthodoxe Einflüsse empfangen haben könnte. Die Gemeinsamkeit der Schau führt uns zu einer allgemein-menschlichen Erfahrungsmöglichkeit: Es ist die Erfahrung des sogenannten mystischen Gebetes, welche den Gläubigen durch verschiedene Stufen der geistlichen Formung hindurch nicht nur zu einer großen Vertiefung und Bereicherung der Glaubenserfahrung, sondern auch zu einer besonderen Heiligung des praktischen Lebens führen kann. Es läßt sich kaum denken, daß Luther zu seinen tiefen Gebetserlebnissen gekommen wäre ohne diese Methode des meditativen Betens, welche alle tiefen Kräfte des Menschen wachruft, gekannt und gepflegt zu haben. In der Klosterzeit hat er sicherlich die mönchische Gebetstradition des Mittelalters, die sich im Westen mehr in der praktischen Übung als im Ziel von der östlichen unterschied, angenommen und durch das Studium der Kirchenväter und besonders der deutschen Mystik vertieft. Leider kennen wir Luther noch kaum von dieser Seite.

LeerEntscheidend blieb, daß es ihm nicht gelang, diese wertvollen Erfahrungen dem Protestantismus wirksam und nachhaltig weiter zu vererben. Es hat zwar immer wieder große mystische Beter im Luthertum gegeben, doch ist ihr Wissen kaum über die persönliche Sphäre hinausgedrungen und hat keine bleibende Tradition gebildet.

LeerSo lernen wir den Unterschied zwischen der orthodoxen und der lutherischen Gebetsauffassung noch tiefer verstehen: Im Luthertum bleibt die geistliche Erfahrung persönlich gebunden und hat weder theologisch noch praktisch etwas allgemein Verpflichtendes. Der orthodoxe Christ erstrebt allgemein zugängliche Hilfen. Es genügt ihm nicht, von geistlichen Impulsen zu hören oder darüber zu reden. Er will sie auch verwirklichen. Nur so ist die große Verbreitung des immerwährenden Gebets im orthodoxen Bereich erklärlich. Man hat diesen kindlichen Drang des östlichen Menschen zur Verwirklichung biblischer Hinweise (Betet ohne Unterlaß!) als primitive rückständige Haltung belächelt. Wer jedoch einmal persönlich erlebt hat, bis zu welchem Grade der Demut und Verinnerlichung das Immerwährende Gebet den orthodoxen Christen führen kann, dem vergeht das Lachen ebenso wie der theologische Einwand, daß geistliche Methoden grundsätzlich unzulässig seien.

LeerIn diesem Einwand drückt sich vor allem die Scheu vor der einförmigen Wiederholung von Worten aus. Der heutige Protestant wird schon unwillig, wenn im Gottesdienst eine Gebetsformel dreimal gesagt wird. Diesem Mißverständnis liegt eine Veräußerlichung der religiösen Haltung zugrunde. Im Umgang mit der äußeren Welt, bei der Durchführung logischer Gedankengänge ist die dauernde Wiederholung eines Aktes in der Tat unerträglich. Im betenden Hineingehen in sich selbst schreitet der Mensch über die Kategorien von Raum und Zeit und damit auch über die Verstandestätigkeit hinaus, um sich dem wahren Sein des Christus aufzuschließen. Hier gibt es nur ein „Sein”, aber kein zeitliches Fortschreiten, weshalb es dann völlig belanglos ist, „wie oft” eine Vorstellung auftaucht. Die Vorstellung ist eben immer „da”. So ist der erwähnte Einwand sehr wohl berechtigt, wo äußerlich gebetet wird. Überall aber, wo mystisch gebetet wird, ist das Prinzip der Wiederholung eine angemessene Methode der Vorbereitung und Hinführung. Das weiß nicht nur der orthodoxe Beter, auch Luther hat es erfahren.

Quatember 1953, S. 30-31

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-17
Haftungsausschluss
TOP