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von Wilhelm Stählin |
Vermutlich werden alle Teilnehmer der „3. Weltkonferenz für Glauben und (Kirchen-) Verfassung” die in Lund (Schweden) vom 15. bis 28. August dieses Jahres stattgefunden hat, in eine gewisse Verlegenheit kommen, wenn sie zu Hause über den Ertrag dieser großen und langdauernden ökumenischen Versammlung Rechenschaft geben sollen. Denn weder ist dort ein Wort an alle Kirchen der Welt oder (noch darüber hinaus) an Christen und Nicht-Christen beschlossen worden, das geeignet wäre, durch seinen Inhalt oder zündende Formulierungen eine Aufregung hervorzurufen und ein leidenschaftliches Für und Wider zu erwecken, noch auch sind die Hoffnungen derer erfüllt worden, die von Lund einen meßbaren Schritt „vorwärts” in der Richtung auf die sichtbare Darstellung der christlichen Einheit erwartet haben. Die Konferenz bot keine Sensationen, und der Elan eines großen neuen Erlebens, wie er der ersten großen Konferenz in Stockholm (1925) eignete, mußte hier, in diesen 2 Wochen einer anstrengenden und mühsamen Kleinarbeit, notwendigerweise fehlen. Der zweite und dritte Schritt sind immer mühsamer als der erste, der noch mit dem Schwung und Sprung eines kühnen Anlaufs getan werden kann. Aber eben dieser zweite oder dritte Schritt ist in Lund getan worden auf dem langen und weiten Weg eines zwischenkirchlichen Gesprächs über die Ursachen der Kirchenspaltung und die Voraussetzungen für einen stärkeren und besseren Ausdruck der geglaubten tatsächlichen Einheit. Das umfangreiche Dokument, das aus den Berichten der 5 Sektionen zusammengesetzt und von der Versammlung mit einem Vorwort und einem Nachwort versehen worden ist, wird seine Bedeutung nur im sorgfältigen Studium erschließen; aber wer sich diese Mühe nicht verdrießen läßt, wird immer stärker von dem Eindruck erfüllt sein, daß es sich hier um ein Dokument von kirchengeschichtlichem Rang und einer noch kaum zu übersehenden Tragweite handelt. (Ich habe noch von Lund aus angekündigt, daß ich im kommenden Winter meine Vorlesung an der theologischen Fakultät in Münster, statt über das zunächst angekündigte Thema, über „die theologische Bedeutung der Lunder Beschlüsse” halten werde, und ich möchte wünschen, daß ich nicht der einzige bleibe, der diese Berichte zum Gegenstand theologischer Erörterung in Vorlesungen und Seminarübungen macht.) Niemand konnte sich in Lund dem Eindruck entziehen, daß die Einigkeit weiter und tiefer reicht, und daß die getrennten christlichen Kirchen mehr gemeinsam zu sagen vermögen, als sie selber das gewußt haben. Wichtiger als alle Einzelheiten, in denen Übereinstimmung festgestellt werden konnte, sind drei sehr grundsätzliche Dinge: An erster Stelle steht die Einheit der christlichen Kirche, nicht als ein durch ökumenische Bewegungen zu erreichendes Ziel, sondern als die Voraussetzung jedes ökumenischen Gesprächs: „Wir erklären, daß es in der ganzen Christenheit, trotz aller Spaltungen, eine Einheit gibt, von Gott gegeben durch Christus, durch den die Kräfte der zukünftigen Welt schon unter uns wirksam sind. Diese Einheit und das Teilhaben jeder christlichen Gemeinschaft an ihr steht außer allem Zweifel.” (Dieses, wie alle folgenden Zitate, soweit nicht anders vermerkt, aus dem Bericht der Konferenz.) Es ist drittens - vielleicht ist dieses das Bemerkenswerteste - an die Stelle jenes Fortschrittsoptimismus, dessen Töne uns noch von Stockholm her in deutlicher Erinnerung sind, eine bewußte Hinwendung zu dem Ende der Zeit, besser gesagt, zu dem kommenden Christus getreten. Professor Schlink hat in seiner Rede über das wandernde Gottesvolk diesem gegen früher völlig veränderten Zeitgefühl einen die ganze Versammlung sehr bewegenden Ausdruck gegeben. Wir gehen der Scheidung im Gericht Gottes entgegen, und keine Kirche der Welt ist von dem Schicksal ausgenommen, daß diese Scheidung quer durch sie hindurch geht; und angesichts dieses Gerichts, wie in Zeiten der Verfolgung, sozusagen „auf dem Wege zur Hinrichtung” verlieren die meisten Dinge, die uns noch voneinander trennen, ihr Gewicht und ihre Bedeutung. In eben diesem Zusammenhang ist es auch überaus kennzeichnend, daß bei der Beschreibung dessen, was Häresie, was Schisma, was Apostasie (Abfall) ist, der Abfall definiert wurde als „Enthüllung einer satanischen Macht, die sich gegen Christus auflehnt, entweder als aggressive Form der Auflehnung oder als lauwarmes Treuebekenntnis zu ihm.” (Wie vieles in unserm wohltemperierten Christentum fällt, so betrachtet, unter den Begriff des großen Abfalls!) Es kann nicht ausbleiben, daß diese eben beschriebene dreifache Einigkeit vieles relativiert und damit in den zweiten Rang rückt, was seine erhebliche Rolle bei der Gespaltenheit der Christenheit spielt. Geschichtliche Überlieferungen, die die „alten” Kirchen des Abendlandes mit viel „ekklesiastischem Gepäck”, mit dem Ballast der Jahrhunderte, ausgestattet haben, können für die „jungen” Kirchen des asiatischen und afrikanischen Raumes, ja auch (wovon in Lund viel weniger die Rede gewesen ist) für manche der „protestantischen” Freikirchen Amerikas, keine reale Bedeutung haben. Können und dürfen wir auf dem Weg zu den Entscheidungskämpfen der Endzeit getrennt marschieren, weil wir aus verschiedenen Traditionen herkommen? Damit hängt die Relativierung der theologischen Aussagen und Begründungen eng zusammen. Seit Jahren ist die „Conference on Faith and Order” auf die Bedeutung der „nicht-theologischen Faktoren” für die Kirchentrennung aufmerksam geworden; niemals ist bisher so deutlich wie in Lund sichtbar geworden, niemals so nachdrücklich ausgesprochen worden, daß auch die theologischen Begründungen vielfach nur eine Verkleidung von Motiven und Gewohnheiten sind, die in sozialen, psychologischen, nationalen und allgemein kulturellen Verhältnissen und Verschiedenheiten wurzeln. Es zeichnen sich neue Fronten ab, die mit den geschichtlich überlieferten Konfessionsgrenzen nicht zusammenfallen. „Ich möchte wagen zu behaupten, daß es keine einzige wichtige theologische Frage gibt, in welcher nicht Übereinstimmungen unter Theologen verschiedener Kirchen und Differenzen zwischen Angehörigen der gleichen Kirche gefunden werden können” (Oliver Tomkins). Die von mir oft vertretene These von den quer durchlaufenden neuen Fronten ist in Lund zu einer allgemein anerkannten Beschreibung der gegenwärtigen Lage geworden. Das heißt aber, daß nicht nur die üblichen „Unterscheidungslehren” zwischen den verschiedenen christlichen Kirchen vielfach durch den Gang des Gesprächs überholt sind, sondern daß auf der Landkarte, welche in dem Bild der ganzen Christenheit die Grenzen der Konfessionen zeigt, neue Konturen, noch etwas blaß und unbestimmt, aber doch schon sichtbar und erkennbar sind, welche quer durch die alten Grenzen hindurch tiefer greifende neue Gegensätze, freilich auch ebenso tief greifende Gemeinsamkeiten über die Grenzen hinweg bezeichnen. Dieser in der Tat aufregende Sachverhalt kam in Lund u. a. darin zum Ausdruck, daß in den Berichten eben nicht, wie etliche es wünschten, die Ansichten der verschiedenen dort vertretenen Kirchen miteinander konfrontiert wurden, sondern immer wieder gesagt werden mußte: einige von uns sagen dieses, andere jenes - weil tatsächlich jene „einige” und diese „anderen” sich. hier und dort in den verschiedenen Kirchen befanden. Will man die Gesamtsituation beschreiben, wie sie sich dem Teilnehmer der Lunder Konferenz und vielleicht auch manchem außenstehenden Besucher oder Beobachter darstellt, dann könnte man etwa vier Gruppen unterscheiden: Die mehr oder weniger Zurückhaltenden, die weniger auf die Einheit der ganzen Christenheit als auf die Wahrung ihrer besonderen Überlieferung bedacht sind, so daß sie diese ihre Tradition als die allein mögliche Form einer kirchlichen Einheit betrachten; dazu gehören außer der römisch-katholischen Kirche (welche in Lund durch einige Beobachter vertreten war) vor allem die Orthodoxen, die (aus nicht ganz durchsichtigen Gründen, vielleicht auch unter Wirkung von nichttheologischen Faktoren) sich in Lund auffällig zurückgehalten und bei den Abstimmungen, soweit ich es erkennen konnte, nicht mit abgestimmt haben; aber auch eine Gruppe von Lutheranern, die ihre gewissensmäßigen Bedenken gegen eine allzu schnell und allzu leicht proklamierte Einigkeit oder Einigung glaubte vertreten zu müssen. (Über ihre Haltung in der Frage der Abendmahlsgemeinschaft muß in anderem Zusammenhang berichtet werden.) Ihnen stand und steht gegenüber die Gruppe derer, die klar wissen, daß es keine Einigung auf Kosten der strengen und unerbittlichen Wahrheitsfrage geben kann, und daß darum der mühselige Weg sauberer theologischer Gespräche und Verhandlungen weder gescheut werden darf, noch vermieden werden kann. Es ist bezeichnend, daß schon die Warnung laut werden konnte, man möge die nicht-theologischen Faktoren der Kirchenspaltung nicht überschätzen und die echten theologischen Differenzen, das heißt Verschiedenheiten im Verständnis des Evangeliums, doch ja nicht unterschätzen. Wer zu dieser Gruppe gehört, wird mit großer Dankbarkeit feststellen müssen, daß die Gefahr von trügerischen Kompromißformeln in Lund peinlich vermieden wurde, und daß bei aller Freude an der weitgehenden Übereinstimmung doch auch nüchtern und fair festgestellt worden ist, wo die noch nicht ausgeglichenen Verschiedenheiten liegen, und welches ihre tiefsten Ursachen sind. Die Zukunft der ganzen Arbeit wird, auch nach meiner Überzeugung, sehr wesentlich davon abhängen, ob auf allen Seiten die zähe Geduld dieses langen und langsamen Weges aufgebracht werden wird. Die neue Organisation der Commission on Faith and Order, ein Ausschuß mit 100 Mitgliedern, der aus seiner Mitte einen Arbeitsausschuß von 25 Mitgliedern bestellt hat, wird nur den äußeren Rahmen bilden; die eigentliche Arbeit wird auch in Zukunft in den zu bildenden theologischen Kommissionen getan werden müssen, hoffentlich in enger Verbindung mit der „Studienabteilung” des Weltrates der Kirchen, die weithin mit den gleichen Fragen befaßt ist. Wir werden in unseren Jahresbriefen auf den Bericht hinweisen, sobald er in deutscher Sprache vorliegt, und behalten uns vor, auf einzelne Fragen, um die in Lund heiß gerungen worden ist, der Reihe nach zurückzukommen. Keine dieser Fragen wird rasch überholt sein; darum meinen wir nicht, es müsse mit der Eile journalistischer Berichterstattung alles sofort gesagt werden. Quatember 1953, S. 34-37 |
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