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Selbstkritischer Kirchentag
von Erich Müller-Gangloff

LeerIn der Reihe der bisherigen Kirchentage von Hannover über Essen und Berlin bis Stuttgart stand der Stuttgarter am meisten in der Gefahr, zu einem vorwiegend innerkirchlichen Ereignis zu werden. Denn Württemberg ist eine der wenigen deutschen Landschaften, in denen es noch bedeutende Reste evangelischer Volksfrömmigkeit gibt, allerdings mit all den Besonderheiten schwäbischen Stammestums bis zum Sektierertum hin. Wäre der Kirchentag nicht wider alles vorherige Planen im Jahr zuvor nach Berlin gegangen, wodurch er eine ganz ungewöhnliche missionarische Kraft gewann, so wäre Stuttgart wahrscheinlich in der angedeuteten Weise zu einer kirchlichen Großveranstaltung geworden, sicher auch mit erheblichem Zulauf, aber doch wohl ohne die Strahlungskraft eines wirklichen Ereignisses. Nach Berlin ist Stuttgart nun etwas ganz anderes geworden. Jetzt war alles darauf angelegt, die Fülle der Problematik, die dem Kirchentag aus der Begegnung mit den Christen des Ostens zugeströmt war, ehrlich auszutragen. Es war dann sehr schmerzlich, daß die zu Zehntausenden erwarteten Teilnehmer aus dem Osten ausblieben. Da aber immerhin die sehr zahlreich vorgesehenen ostdeutschen Referenten kamen, tat das der Bewältigung der Probleme nur teilweise Eintrag.

LeerDafür stellte sich ganz etwas anderes heraus, was von den entscheidenden Trägern des Kirchentages in aller Offenheit und Öffentlichkeit zur Erörterung gestellt wurde. Heinrich Giesen, der theologische Generalsekretär des Kirchentages, warf in einer Pressebesprechung während des Stuttgarter Kirchentages in beinahe sensationeller Weise die Frage auf, ob sich der Kirchentag nicht mit einer allzu großen Freudigkeit und Selbstüberzeugtheit an Fragenkomplexe herangewagt habe, die zu bewältigen, über seine Möglichkeiten und Kräfte gehe. Es ist erfreulich, daß dieses selbstkritische Wort von Heinrich Giesen selber und nicht von einem Außenseiter gesprochen wurde, wie überhaupt an diesem Kirchentag alles, was an möglicher Kritik zu sagen war, von den führenden Männern selbst gesagt wurde. Es mag manchem allzu freudigen Kirchentagsbesucher sogar ärgerlich in den Ohren geklungen haben, als Martin Haug, der Bischof dieses Schwabenlandes, gleich in der Begrüßungsrede, fern jeder falschen Feierlichkeit, die Rolle des Hirten Amos zu der seinen machte und ernstlich fragte, mit welchem inneren Recht man eigentlich in solchen Massen hierher gekommen sei.

LeerWas Heinrich Giesen sagte, war nicht als eine Randfloskel gemeint. Es trifft einen ganz wesentlichen Sachverhalt, der nicht nur den Kirchentag, sondern viele Unternehmungen angeht, die heute im Rahmen der evangelischen Kirche betrieben werden. Es gibt heute überall eine erstaunliche Tendenz zu kirchlicher Betriebsamkeit, zu Tagungen und Kongressen, bei denen zum Teil ganz unglaublich herumdilettiert wird. Der Kirchentag hat sich von diesem Vorwurf bis jetzt freihalten können, da er mit der Behandlung der von ihm aufgeworfenen Fragen meist ausgesprochene Sachkenner betraut hat.

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LeerAllerdings muß gefragt werden, ob das allein genügt, um zu realen und konkreten Ergebnissen zu gelangen. Die üblichen Diskussionen vor Tausenden von Menschen sind zweifellos geeignet, verbreitete Meinungen zu ventilieren, nicht aber zu Arbeitsergebnissen hinzuführen.

LeerWahrscheinlich wird der Kirchentag gut tun, seine Methoden abzuwandeln. Es wäre ernsthaft zu erwägen, ob der Kirchentag seine Arbeitsweise nicht noch stärker, als er es ohnehin tut, der der Evangelischen Akademien angleichen sollte. Das könnte in der Weise geschehen, wie es sowohl beim Berliner Katholikentag als auch bei der Lutherischen Weltbundtagung in Hannover geschehen ist: daß man nämlich dem Massentreffen eine intensive Arbeitstagung vorangehen läßt, zu der man nicht zehn- oder hunderttausend, sondern vielleicht im ganzen tausend an den verschiedenen Fragestellungen auch arbeitsmäßig interessierte Menschen zusammenruft, um dann erst vor die Massen zu treten.

LeerMan wird gespannt sein dürfen, welchen Weg die Führung des Kirchentages nach dieser selbstkritischen Wendung zu gehen beginnt. Auf jeden Fall ist es ein erfreuliches Zeichen für das Leben, das einer Sache innewohnt, daß man sich nicht auf eine approbierte Methodik einschwört, sondern auch neue und ungewöhnliche Wege zu gehen bereit ist.

LeerAuch sonst wird man getrost behaupten dürfen, daß der Kirchentag auf gutem Wege ist. Er ist der so naheliegenden Versuchung, zu einem Massenbetrieb zu werden, nicht erlegen, sondern hat im Gegenteil eine zunehmende Verinnerlichung und Intensivierung erfahren. Vom einen zum anderen Kirchentag verlagern sich die Schwerpunkte immer mehr in die Gottesdienste und zur Bibelarbeit hin. Und man kann es gut und gerne auch eine Sensation nennen, daß es in Stuttgart möglich war. Tausende und Abertausende von Menschen an den verschiedensten Stätten um Texte aus dem Alten Testament zu sammeln, die dem durchschnittlichen Bibelleser kaum dem Hörensagen nach bekannt sind. Und es war erstaunlich, mit welcher Spannung diese doch zum Teil sehr kirchenfernen Menschen den Auslegungen lauschten, die vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten und damit von dem Beginn unserer Geschichte als des Volkes Gottes handelten. Wie wurden hier Abendmahl und Opfertod, aber auch die Auferstehung des Herrn in einen Sinnzusammenhang gerückt, der diese Ereignisse von vor über 3000 Jahren ganz unmittelbar mit unserer eigenen Existenz als Christen hier und heute verband!

LeerWenn irgend etwas, so erweist diese Bibelarbeit, daß hier wirklich das neue Israel auf dem Wege ist - allen Snobs zum Trotz, die nicht glauben mögen, daß es auch in Massensälen wirkliche Gemeinde Jesu Christi geben kann. Denn der Herr ist nicht nur dort, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, er kann, wie die Erfahrung der Kirchentage jedem Einsichtigen beweist, auch da sein, wo sich zwei- oder dreitausend und selbst dort, wo sich zwei- oder dreihunderttausend versammeln - wenn es nur in der Tat in seinem Namen geschieht.

Quatember 1953, S. 37-38

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-17
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