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Evangelische Akademie als Aufgabe
von Gerhard Hildmann

LeerDie Zeit der ersten Liebe der Kirchen zu ihren Akademien ist vorbei. Die meisten Akademien sind faktisch und rechtlich in das Leben der Kirchen eingegliedert. Eine gewisse Beruhigung ist eingetreten, auch bei dem Gesprächspartner der Akademie, „der Welt”. Nach der Katastrophe des Zusammenbruchs setzten nicht wenige Menschen Hoffnungen auf die Evangelische Akademie. Sie hofften, die Kirche werde als Mutter zu den Menschen kommen und ihnen helfen, ihr innerlich und äußerlich zerrüttetes Leben zu ordnen. Sei es nun, daß diese Hoffnungen zu groß oder unangebracht waren, solche Erwartungen führen heute „die Welt” nicht mehr in die Akademie. Sie ordnet ihre Verhältnisse anderweitig. Erst war es für Kirche und Welt anders. Für die Kirche, weil sie sich in der Akademie in einer neuen Weise zu den Menschen wagte. Die Akademie war die Folge eines Vorgangs im Glauben. Für die Welt, weil sie in ihrem Bankrott die Augen aufhob zu Gott, ob etwa seine Offenbarung Lebensfundamente böte. Auch für die Welt war die Akademie ein Glaubensvorgang. Heute wünscht sie, sie in ihre Zwecke einzuspannen.

LeerDie Zeit der ersten Liebe 'ist vorbei. Das muß kein Schade sein. Aus dem Überschwang reift manchmal etwas weit Wertvolleres, Dauerndes. Sind, was die Akademien betrifft, Ansätze dazu sichtbar? Wie steht es mit den Akademien selbst? Sind sie, die als Improvisationen begonnen haben, zu einer besseren Klarheit über sich selbst gekommen? Ich glaube, daß der Kampf um die Akademie noch keineswegs gewonnen ist. Immer noch steht die Akademie als eine Aufgabe vor uns, die erst gelöst werden muß.

LeerDie Akademie steht zunächst als Aufgabe vor denen, die sie unmittelbar zu tragen haben, vor den Studienleitern und ihren Mitarbeitern. Im geistigen Sinne leben die Akademien noch immer von den Gedanken der Männer, die in ihnen arbeiten. Das soll keine überhebliche Aussage sein, nur die Feststellung der Tatsache, daß die Akademie bis heute nicht aufgehört hat, für den Akademiearbeiter selbst eine nach Form und Inhalt immer neu zu lösende Aufgabe zu sein.

LeerWas den Inhalt der Bemühungen, das eigentliche Ziel der Akademie angeht, so sehe ich es in folgendem: Menschen zu Christus zu führen und den Sauerteig von Gesetz und Evangelium in die Weltverhältnisse hineinzubringen. Das lautet etwas ungeschickt. Gemeint ist die große christliche Frage der Inkarnation, des Glaubens in das zu lebende Leben hinein. Der Auftrag ist nur scheinbar ein doppelter. In Wahrheit ist es ein Vorgang von unlöslicher Einheit. Der Taufbefehl tut beides: er zeigt die apostolische Sendung der Christen zu den Menschen und stellt die Welt unter die Herrschaft des Pantokrators. Die Ausscheidung und der Auszug der Christen aus der Welt ist eine kirchengeschichtliche Tatsache, aber ihr Ghettoleben ist wider die Heilige Schrift, es darf um der Kirche und um der Welt willen nicht sein. Dabei ist es nicht entscheidend, ob die Welt das Salz des Gottesvolkes haben will oder nicht. Es ist eigenartig, daß trotz der Existenz vieler Gemeinden im Lande die Botschaft von Christus nur einen Bruchteil der Menschen erreicht. Es gehört zu den wesentlichen Bemühungen der Akademie, den Gründen nachzuspüren, warum die Stadt auf dem Berge nicht allen mehr sichtbar ist. Ein unsichtbarer, aber sehr realer Zaun trennt nicht nur das Leben der Gemeinden von der Mehrzahl der anderen Menschen, sondern auch das geistliche Leben der Christen von ihrer Berufs- und sonstigen säkularen Existenz in der Welt. Diesen Zaun zu überwinden und die Erkenntnis zu verbreiten, daß alle Lebensbereiche Gott untertan sind, ist Aufgabe der Akademie.

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LeerWie ist das zu erreichen? Voraussetzung ist, daß man Gott ernst nimmt und die Menschen ernst nimmt, auch die Menschen außerhalb der Kirche. Es zeigt sich bald, daß dort, wo die Menschen nicht ernst genommen werden, auch Gott nicht ernst genommen wird. Die einzelnen Akademien haben sehr verschiedene Weisen entwickelt. Sie versuchen durch Tagungen, Seminare, Disputationen, Meditationen, Feste die Menschen in Gespräche zu verwickeln, die zu einer Begegnung mit Gott und dem Sinn des Lebens hinführen oder dartun sollen, daß der umsonst sein Haus baut, der es ohne Gott baut. Der Weg zum Vertrauen der Menschen wird verschieden gesucht. Auf jeden Fall handelt es sich nicht um bestimmte Techniken. Nie dürfen hier Techniken entstehen. Der Heilige Geist verschmäht psychagogische Techniken. Die Methode des Vorgehens ist nicht wichtig. Entscheidend ist das andere: die Akademie ist dem Akademiearbeiter selbst auf eine unausweichliche Art als Krisis des Glaubens und seines geistlichen Erkenntnisstandes gestellt.

LeerEr lernt es bald, daß die Akademie etwas ist, das sich gegen ihn selbst richtet. Sie stürzt ihn in viele Nöte und will ihn nicht bleiben lassen, wie er ist. Die Akademie als Aufgabe heißt für ihn zunächst, immer neuen Bedrängnissen standzuhalten und nicht in den Schutz des Pfarramts zurückzufliehen. Er muß es lernen, wie weit die Menschen und die Kirche auseinander sind. Er muß es lernen, wie schwer es ist, das Vertrauen von Menschen zu gewinnen, die von der Kirche nichts erwarten. Er muß kämpfen mit dem Hochmut der Heiden, kämpfen mit dem Hochmut der Christen. Manche ahnungslose Kritik der Brüder will ihn lahmen. Er muß es lernen, daß es manchmal einsam macht, Christus zu gehorchen. Er muß das kennenlernen, was ich die „Gerechtigkeit der Heiden” nennen möchte, und einsehen, wie ungerecht manches Urteil der Gemeinde ist. Das Hingehen zu den Christus-Fernen besteht nicht in besonderer Methodik, sondern in einem Verändertwerden des Herzens. Es ist dies ein harter Prozeß, der den Verzicht auf vermeintliche christliche Vorrechte verlangt und den einzelnen aus der Geborgenheit des Gewohnten ruft und unerbittlich die Illusionen und Fragwürdigkeiten der kirchlichen und eigenen Existenz zutage bringt. Hilfe ist nur im Gehorsam und im Versuch der Nachfolge.

LeerDas Ziel aller dieser Geschehnisse ist: das biblische Verständnis dessen zu gewinnen, was es ist, ein Christ in der Welt zu sein. Wo man nicht recht um das Geheimnis der christlichen Existenz weiß, weiß man auch nicht, was Welt ist. Nun ist das Selbstverständnis der Gemeinde heute ein Konglomerat von biblischen Wahrheiten und säkularen, ererbten Lebensgewohnheiten, die kaum neutestamentliche Wurzeln haben. Hier ist eine große Aufgabe der Erkenntnis und Unterscheidung gestellt. In der Bemühung darum wird das Selbstbewußtsein umgeschmolzen: aus gesicherter kirchlich-theologischer Existenz geht es in Richtung einer apostolischen Existenz. Das ist ein weiter Weg, auf dem viel verloren, aber noch mehr gewonnen wird.

LeerNicht daß wir Akademiearbeiter glaubten, diesem Bilde zu entsprechen. Aber wir wissen, wohin die Richtung geht. Apostolisch, das heißt: der Sinn unserer christlichen Existenz ruht im Botenberuf. Wo die biblische Rechtfertigungslehre ernst genommen wird, fallen die Schranken zwischen Christen und Nichtchristen. Denn was macht den Unterschied zwischen beiden? Der Christ weiß, was Gott für ihn getan hat, der andere weiß es nicht. Aber um keiner Verdienste willen hat sich dem Christen die Offenbarung geöffnet. Es ist allein Christi Gnadenwahl, die ihn getroffen hat. Warum ihn und nicht einen anderen? Weil es Gott gefallen hat, ihn zum Boten zu machen für den anderen. Hier ist kein Raum für jene Indolenz und jene Selbsttäuschungen, die im Ghetto gedeihen. Christliche Güter sind nicht Besitz, sondern Lehen, das sich mehrt, je mehr es mit anderen geteilt wird.

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LeerDie in der Akademie zu praktizierenden Konsequenzen sind ungewohnt. Es gilt dem Bruder „nachzulaufen”. Die Kritik eines Amtsbruders, wo in aller Welt denn im Neuen Testament geschrieben oder geschildert sei, daß wir uns für die Gedanken der Nichtchristen interessieren sollen, ist symptomatisch. Es gehört zum „Hingehen in alle Welt”, daß man die Menschen an dem geistigen Ort aufsucht und sie dort abholt, wo sie leben. Dabei folgt man nur dem Erzhirten nach, der das Verlorene sucht und seine Knechte an die Hecken und Zäune ausschickt. So glaube ich, daß der Akademiearbeiter die Akademie zuerst ganz persönlich als Aufgabe in sich selbst austragen muß. Eine kritische Wachsamkeit wird dann der Entwicklung einer hohlen Vielgeschäftigkeit und eines kirchlichen Managertums wehren und ein Fortschreiten in biblischer Erkenntnis öffnen.

LeerAlso Seelen retten? Ja, aber nicht in der kurzschlüssigen Weise, die nicht mehr weiß, was dem Heiligen Geist zukommt und was dem Menschen, und darum gleich „Erfolge” sehen will. Und nicht in der falschen Weise eines individualistischen Mißverständnisses des Heils. Die Veränderung des Menschen bringt die Veränderung der Welt. Wo der erste Schritt getan wird, die Existenz des Menschen von Gott her zu begreifen, muß der zweite getan werden: die Welt und ihre Verhältnisse vom dreieinigen Gott her zu begreifen. Hier geht die Arbeit der Akademie über Mission und Seelsorge hinaus. Unter Führung der Fachleute gilt es, in die kulturpolitischen, sozialpolitischen und politischen Fragen einzudringen. Die Gefahr des Dilettantismus ist groß. Er kann nur durch strenge Selbstbescheidung vermieden werden. Andererseits ist es aber auch nötig, daß die Kirche an Kenntnissen der Weltverhältnisse zunimmt.

LeerMit zunehmenden Einsichten wird es zwar schwieriger zu urteilen, aber die Verkündigung gewinnt an Realität und Gerechtigkeit. So wie die Akademie die Menschen alle als Geschöpfe Gottes und die Getauften als präsumptive Erben des neuen Himmels und der neuen Erde ansieht, so achtet sie auch in den Weltverhältnissen das eschatologische Geheimnis. Hier vom Gesetz und Evangelium Gottes her mitzuraten bei der Gestaltung der Verhältnisse, ist die übergroße Aufgabe der Akademie. An allen Ecken und Enden mangelt die theologische Vorarbeit der Kirche dazu. Das Mißverhältnis von Kräften und Aufgaben ist groß.

LeerDie Akademie könnte guten Gewissens in dieses Feld nicht eintreten, wenn sich im Laufe der Tagungen nicht viele Anliegen auf tieferer Ebene immer wieder in drei gleichen Fragen träfen: In der Frage nach der Existenz des Christen in der Welt, in der Frage nach dem Seinsverständnis der Welt und in der Frage nach dem Wesen der Kirche. Sind diese Grundentscheidungen gesehen, dann lassen sich Ordnungslinien zu jedem Sektor des Lebens ausziehen. Es geht um diese Grundentscheidungen. Es ist deutlich, daß die Antwort auf diese drei Fragen sehr verschieden ausfallen wird, je nachdem, ob jemand die Hauptaufgabe der Kirche darin sieht, Menschen vor die Entscheidung zu stellen, oder ob sie darüber hinaus das Anliegen der Verleiblichung hat, das auf dem Satz ruht: finitum capax infiniti. Letztlich fallen die Entscheidungen aller Akademie - Aussagen in der theologischen Bemühung um die Auffassung der Heiligen Schrift, um die Bewertung der Bekenntnisschriften und der dogmengeschichtlichen Entwicklung. Die Gestalt der Akademie, ihr Ort und ihre Aufgabe,, ist ein eminent theologisches Problem.

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LeerDas darf aber nicht erneut zu ausschließlicher Introversion führen. Wer die Eindringlichkeit erlebt, mit der die Menschen auf den Tagungen fragen „was soll ich tun?”, weiß, daß das nicht angeht. Die Botschaft von den letzten Heilswahrheiten sind wir den Menschen nicht schuldig geblieben, aber wir blieben ihnen das Vorletzte schuldig. Wir gehen hier unausweichlichen Alternativen entgegen. Die evangelische Kirche muß aus ihrer praktischen Unverbindlichkeit heraustreten. Nur drei Fragen: Ist es richtig, das Wort zu verkündigen, vor die Entscheidung zu stellen und die Menschen dann sich selbst zu überlassen, oder ist es eine Kirche schuldig, durch verbindliche Ratschläge den Unmündigen zu helfen, den Glauben in alle konkreten Lebensbeziehungen hineinzuleben? Ist es richtig, die sorgfältige Abstinenz allen soziologischen Ordnungsversuchen gegenüber fortzuführen, oder ist die Kirche der Welt auf Grund der biblischen Offenbarung von der Schöpfung Hilfe schuldig?

LeerUnd schließlich: aus dem natürlichen Menschenwesen und der Zeit tauchen schöpferische Gedanken auf, die sich mit christlichen Glaubenskräften verbinden möchten zu Gestaltungen in Kunst, Philosophie und Politik. Dürfen sich diese durchaus relativ verstandenen Mischgebilde im christlichen Raum entfalten als äußerste Konsequenz des Ereignisses „Das Wort ward Fleisch”, oder hat die Kirche das einzige Amt, die prophetische Botschaft zu verwalten und solche Gebilde der „Religiosität” von ihrer Schwelle zu weisen? Wenn ein Akademiearbeiter die Akademie ernst nimmt, wird er in ihr den Ort der Kirche sehen, an dem die Argumente für solche Entscheidungen gesammelt werden. Es ist ihres Amtes, der Kirche die Dringlichkeit solcher Entscheidungen vorzuhalten und an ihnen zu arbeiten. Sie zu vollziehen, kann nur das gemeinsame Werk der ganzen Kirche sein.

LeerAlle Lebensäußerungen der Kirche haben mit einer Hypothek zu rechnen, mit dem Mißverständnis, als bedeute Christsein Kenntnis und Anerkenntnis eines Systems von Gedanken und Urteilen. Die Akademie steht nun auch in dem Sinne als Aufgabe vor den in ihr Wirkenden, daß sie diesem Mißverständnis keine Nahrung gibt. „Ich bin das Brot des Lebens, wer zu mir kommt, den wird nicht hungern.” (Joh. 6,35) Daß dieses Zu-Jesus-Kommen ein Geschehen am ganzen Menschen ist und nicht nur seine ratio betrifft, dies muß dem Gast mit der ganzen Atmosphäre der Akademie entgegenkommen. Mit anderen Worten: das schweigende Sein der Akademie muß stärker sein als ihr Reden.

LeerVon diesem ihrem Sein gehen vielleicht die entscheidenden Wirkungen aus. Die Akademie wird nur so lange ohne geistlichen Bluff ihre schwere Arbeit tun, als sie von einem Fond der Stille und Sammlung leben kann. Wo anders könnte sie einen solchen Schatz sammeln, als in einer geistlichen Ordnung des Hauses? Und durch Tagungen, in denen sie in aller Stille mit ihren Freunden nichts tut, als sich in die Geheimnisse Gottes zu versenken? Wir dürfen uns nicht von einem Zwang, Tagungen halten zu müssen, hetzen lassen, noch versuchen, aus der öffentlichen Anerkennung leben zu wollen. Leben kann die Akademie nur vom Ja Gottes. Das ist ihre Zuflucht und ihre Freiheit. Aber sie muß diesen Segen auch suchen in regelmäßigen Gottesdiensten, Gebet und Stille.

Quatember 1953, S. 65-69

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-29
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