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Problem und Geheimnis der christlichen Gestalt
von Helmuth Uhrig

LeerDie Geschlossenheit einer christlichen Kultur und damit die Selbstverständlichkeit, daß alles Gestaltwerden und Gestaltgeben von der Kirche her bestimmend beeinflußt wird, ist seit der Renaissance nicht mehr vorhanden. Von da ab hat sich neben dem christlichen ein von ihm gänzlich unabhängiger, erst profaner, dann aber säkularer Bereich entwickelt. Diese Selbständigkeit besteht bis zum heutigen Tag und dokumentiert sich durch eigene künstlerische und gestalterische Probleme.

LeerIn der Mitte des vergangenen Jahrhunderts war das Schöpferische aus der Kirche ausgewandert. Man lebte nur noch in Erinnerungen an große Zeiten unnd verbarg seine Impotenz hinter Pseudostilen. Pseudogotik und Pseudoromanik sind in beschämender Erinnerung.

LeerIm säkularen Bereich, dem sich die schöpferischen Kräfte zugewendet hatten, entwickelten sich Möglichkeiten, die weiterführten. Es wurde erkannt, daß neue Wege beschritten werden müssen. Franz Marc hat in seiner Vorrede zur zweiten Auflage des „Blauen Reiters” die Situation mit folgenden Worten gekennzeichnet: „Die Welt ist zum Ersticken voll. Auf jeden Stein hat der Mensch ein Pfand seiner Klugheit gelegt. Jedes Wort ist gepachtet und belehnt. Was kann man tun zur Seligkeit als alles aufgeben und fliehen, als einen Strich ziehen zwischen dem Gestern und dem Heute? - In dieser Tat liegt die große Aufgabe unserer Zeit; die eine, für die es sich lohnt, zu leben und zu sterben. In diese Tat mischt sich keine Verächtung gegen die große Vergangenheit. Wir aber wollen anderes; wir wollen nicht wie die lustigen Erben leben, leben von der Vergangenheit. Und wenn wir es wollten, könnten wir es nicht. Das Erbe ist aufgezehrt; mit Surrogaten macht sich die Welt gemein. So wandem wir fort in neue Gebiete und erleben die große Erschütterung, daß alles noch unbetreten, ungefragt ist, undurchforscht und unerforscht. Die Welt liegt rein vor uns, unsere Schritte zittern.”

LeerBis dahin galt die Regel, daß der Schüler auf den Schultern des Meisters stehend seine Gestalt weiterentwickelte, so daß man eine Stetigkeit der Entfaltung verfolgen konnte. Diese Regel bestand jetzt nicht mehr. Der Bruch mit der Tradition war vollkommen.

LeerWas danach eintrat, war zunächst ein chaotisches Durcheinander auf allen Gebieten. Aber bald stellte sich heraus, daß dieses Chaos echt war und einen neuen Anfang ermöglichte. Dieser bewegte sich allerdings in einer ganz bestimmten Richtung: Der Quell der Kirche war versiegt, die höfische Gesellschaft und das freie Bürgertum waren nicht mehr schöpferisch; was blieb da anderes übrig, als die Möglichkeit des weiteren Schaffens auf den Gebieten zu suchen, die dem Gestalten rein äußerlich gesehen am nächsten waren. Das aber war Material, Funktion, Konstruktion und Ästhetik.

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LeerEntwickelte man in der Zeit des stetigen Stilfortschreitens einen Sessel aus den Stilelementen der Renaissance hinüber in solche des Barock und von da aus hinüber in die Gestalten des Rokoko, so galt von jetzt ab der Satz eines Le Corbusier: „Ein Stuhl ist zum Sitzen da.” Das hat man in der Zeit vor ihm nicht mehr gewußt. Man denke an die Häuser; sie waren ein Durcheinander von Türmchen, Ecken, Winkeln, Gängchen, ehe man erkannte, daß ein Haus den Wohnfunktionen und den Lebensgewohnheiten entsprechend zu bauen sei.

LeerEs wurden freikünstlerische Kompositionen aus Glas, Stoff, Holz, Zeitungspapier, Drahtgeflecht geschaffen. Sie wurden in Ausstellungen gezeigt und in Zeitschriften veröffentlicht. Das den inneren Zusammenhängen fernstehende Publikum schüttelte den Kopf und erklärte dieses „Gemache” für verrückt, ja für Charlatanerie. Wie sollte es auch begreifen, daß hier Grundlagenforschung aus einer tiefen inneren Not heraus und auf ungewöhnliche Art betrieben wurde. Positive Ergebnisse blieben nicht aus. Wer sich jahrelang mit Experimenten dieser Art beschäftigt hat, wer in Versuchsreihen Kompositionen aus Glas, Putz, Holz, Beton zusammengestellt und beobachtet hat, der wird bestätigen, daß man dabei sehr viel über das Wesen eines Materials erfahren konnte. Man begriff dadurch wieder, daß ein Raum aus Sandstein und Holz eine andere Aussagekraft besitzt als ein solcher aus Stuck, Spiegel und Farbe. Man verstand, daß rohes Leinen eine andere Atmosphäre verlangt als feingewobene Seide. Man entdeckte wieder neu, daß Menschen sich in einem Raum aus rohen Mauersteinen und Steinfliesen anders bewegen als in einem Saal mit blankem Parkett und vergoldeten Spiegelrahmen. Man begriff, daß eine Zeit, die hohe gotische Hallen aus Stein und Mosaikglas schuf, in ihrer geistigen und seelischen Haltung anders gewesen sein muß als eine Zeit, die stuckbeladene und reichbemalte Barockräume schuf.

LeerIn der bildenden Kunst gingen die Experimente und Versuche des Kubismus in der gleichen Richtung. Wenn man heute wieder weiß, daß Abbild- und Sinnbildkunst zwei ganz verschiedene Dinge sind, und daß es außer der Perspektive noch andere künstlerische Mittel gibt, so ist das nicht zuletzt den Anregungen des Kubismus zu danken.

LeerIm Ganzen gesehen ist diese Zeit der beginnenden Jahrhundertwende und bis hinein in die 30er Jahre lebendig und experimentierfreudig, wie selten eine Zeit zuvor. Wer selbst als Schaffender und Studierender diese Zeit durchlebt hat, kann sich nur in großer Dankbarkeit und Freude an sie erinnern.

LeerDennoch ist man gezwungen, im Jahre 1953 seine ernsten Bedenken anzumelden. Man mußte einseitig sein, wollte man Ergebnisse erzielen. Da sich das Interesse in allererster Linie auf Material, Konstruktion, Funktion und Komposition hin orientierte, lag ihre geistig-seelische Ausgangsstellung im Materiell-Physischen.

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LeerSolange man sich darauf beschränkte, lediglich Grundlagenforschung zu treiben, war alles in Ordnung. Als man aber anfing, dieses Tun für geistliche Offenbarung zu halten und daran zu glauben, mit anderen Worten: daraus die „Religion des Fortschritts” zu machen, trat eine gefährliche Wendung ein. Wer mit offenen Augen Ausstellungen, Bücher, Zeitschriften und sonstige Publikationen sieht und entsprechende Vorträge sich anhört, der kommt zu der Überzeugung, daß man dort der Meinung ist, „Avantgardismus” aus dem menschlichen Geist heraus und eine möglichste Vervollkommnung der äußeren Form genüge, um der Menschheit eine paradiesische Zukunft zu garantieren.

LeerVon dort her die Menschenseele retten zu wollen, ist im Grunde genommen genau das gleiche, was gewisse Wissenschaftler taten, als sie aus den physikalischen Einsichten und Experimenten die Existenz Gottes nachweisen wollten. Max Planck nannte so etwas einen „unerlaubten Grenzübertritt”.

LeerNichts gegen die materialgebundene, funktionsgerechte und gut geformte Gestalt. Sie gehört zum Lebensbereich des Menschen und spiegelt seine geistig-seelische Verfassung. Darin aber eine Erlösertat am Menschen zu erblicken, ist Hybris. Wenn auf einer Tagung Architekten einen halben Tag lang das Problem des Betons debattieren, seine Möglichkeit, überdimensionale Räume zu schaffen, beweisen und dann ernstlich den Rat erteilen, die Kirche täte gut daran, das Problem des evangelischen Kirchenbaues der Gegenwart vom Beton her zu lösen, dann war es höchste Zeit, daß ein Theologe die Bemerkung in die Debatte warf: „Ja, wissen denn die Herren, ob dem Herrgott heute überdimensionale Kirchenräume in Beton genehm sind?” Aus der romantischen Zeit entwichelte sich die Gotik nicht deshalb, weil die Ingenieure und Konstrukteure neue Möglichkeiten der Steinkonstruktion erdachten. Dieser Stilwandel vollzog sich, weil das ständige Ringen des Menschen mit dem Dreieinigen Gott in eine neue Phase eingetreten war.

LeerEs ist nicht so, daß, man den Kirchbau vom Beton her lösen kann, aber der Beton wird im Kirchbau Verwendung finden, wenn es dem Heiligen Geist gefällt. Das gilt gleichnishaft für alle christliche Gestalt. Sie beginnt bei der Heilsbotschaft des Herrn. Dann allerdings muß in letzter künstlerischer Verantwortung Material, Konstruktion, Funktion und was sonst noch alles dazu kommt, dem Worte Gottes dienstbar gemacht werden.

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LeerAber das sind Selbstverständlichkeiten. Das eigentliche Problem der christlichen Gestalt liegt anders: Die Tradition, aus der heraus in der Kirche ein Stil aus dem anderen sich entwickelte, ist im vergangenen Jahrhundert zum hohlen Traditionalismus geworden. Die Tatsache, daß vor dem zweiten Weltkrieg eine große Anzahl alter Kirchen, Altargeräte, Freskomalereien, Glasfenster noch zur Verfügung standen, ließ die tatsächliche Leere nicht sogleich spürbar werden. Nach dem Krieg aber, in dem vieles davon vernichtet wurde, trat die wirkliche Situation offen zutage. Eine große Unsicherheit herrscht bis heute in allen diesen Fragen. Die Geister stehen hart gegeneinander. Die einen verlangen einen Wiederaufbau und Weiterbau im Stile des Alten. Sie gehen stillschweigend davon aus, daß die Gestaltungen der Vergangenheit für alle Zeiten und damit auch für die unsrige die gültige Lösung seien. Die andern fordern einen modernen Wiederaufbau und moderne Gestaltungen. Hierbei wird „modern” ebenfalls stillschweigend gleichgesetzt mit „im Sinne des säkularen Geistes”. Beide Forderungen sind falsch. Denn die christliche Gestalt birgt in sich ein Geheimnis; sie ist Geschehen in der Geschichte. Das aber heißt, sie kommt aus einer Tradition und entfaltet sich hinein in Gegenwart und Zukunft. Seit Jesus Christus Mensch geworden und auferstanden ist, sind alle Christen und damit auch alle christlichen Gestaltungen unterwegs. Sie schreiten fort, entfalten und entwickeln sich bis hin zum Jüngsten Tag.

LeerDie ständige Spannung zwischen Tradition und Fortschritt ist das eigentliche Problem, und darin unterscheidet sich die christliche Gestalt von allem Säkularismus. Es gibt Realitäten in der Kirche, die fundamental sind und die weitergegeben werden müssen von Jahrhundert zu Jahrhundert. Man kann sie nicht ungestraft verändern. Hierzu gehören außer den theologisch-liturgischen Voraussetzungen vor allem die Grundlagen der christlichen Ikonologie. Zugleich aber gehört es zum Geheimnis der christlichen Gestalt, daß diese über alle Zeiten gültigen Realitäten sich immer wieder neu inkarnieren wollen. Ihr Gesetz heißt also: aus einer lebendigen Tradition kommend, sich in die Zukunft hinein entfalten. Dazu sind allerdings zwei Voraussetzungen nötig: eine lebendige Gestalt im liturgischen Vollzug und ein gehorsames Hören auf die Schrift und die echte Tradition in der Kirche. Wenn aber diese Tradition unterbrochen wurde durch eine unschöpferische Zeit, die sich dazwischen schob, so ist das Wiederanknüpfen an lebendiger Tradition und das Mühen darum genau so wichtig, wie das Vorstoßen in neue Gebiete. Das Beherrschen der künstlerischen Mittel ist eine selbstverständliche Voraussetzung, und die Ergebnisse der künstlerischen Grundlagenforschung gelten auch für das Gestalten in der Kirche, denn sie sind gültig für unser Jahrhundert. Jeder noch so gut gemeinte Dilettantismus muß als der Sache unwürdig abgelehnt werden. Christliche Gestalt ist Gestalt im Dienste des Herrn. Wo sie das nicht ist, hat sie kein Recht in der Kirche. Was aber Material, Konstruktion, Funktion und Ästhetik anlangt, so gilt auch hier das Pauluswort: „Alles ist Euer, Ihr aber seid Christi.”

Quatember 1953, S. 81-84

[Kunstsammlung Uhrig]

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-17
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