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Wir brauchen Evangelische Bursen
von Erich Müller-Gangloff

LeerWer von Bruderschaft spricht, ist es der Mitwelt schuldig, auch ganz konkret etwas darüber auszusagen, wie sie verwirklicht werden kann. Die bloße Einsicht, daß es der Kirche von heute an Möglichkeiten sozialer Gliederung und Formgestaltung fehlt, ist unzureichend. Wer es. etwa aus solcher Einsicht heraus unternähme, einen neuen Orden zu gründen, würde wahrscheinlich sehr bald scheitern. Selbst wenn er solchem Gebilde eine wohldurchdachte Regel gäbe und selbst wenn er bei diesem Unterfangen eine gewisse Anhängerschaft fände, würde er, wenn es dabei nur darum ginge, einem erkannten Mangel abzuhelfen, bestenfalls beim Status eines regulierten Vereins anlangen. Es kann keine bruderschaftliche Programmatik etwa von der Art geben, wie es heute in der Kirche „Männerarbeit” oder Bemühungen um die sogenannten Laien und speziell um die fehlenden Arbeiter gibt. Ist es schon bei solchen Unternehmungen einigermaßen fraglich, ob hier nicht an Symptomen kuriert wird, so ist vollends bei der Frage nach der neuen sozialen Gestalt der Kirche jeder voreilige Pragmatismus verfehlt.

LeerEinen Schritt weiter führt es schon, sich Gedanken über die Grundlagen etwaiger bruderschaftlicher oder ordensmäßiger Gestaltung zu machen. Es braucht an dieser Stelle nicht näher ausgeführt zu werden, welche Bedeutung es hat, in einer typisch spätbürgerlich verfaßten Kirche wie der unseren wieder Verständnis dafür zu wecken, was Liturgie und Sakrament, was Meditation und Exerzitium und was eine vita contemplativa ist. All das können aber große und anspruchsvolle Worte bleiben, denen gerade das, worauf sie hindrängen, nämlich die Verleiblichung, fehlt. Es gibt gewiß in der angelsächsischen Welt eine sehr weitreichende Retreat-Bewegung, und es gibt in Deutschland mancherlei Ansätze in den Evangelischen Akademien, aber wer wollte sich erkühnen, hier von Bruderschaft und Orden oder gar von einer neuen sozialen Gestalt der Kirche zu sprechen?

LeerEs ist vielleicht kein Schade, daß sich hier der allzu gewohnte idealistisch-deduktive Weg von der Erkenntnis zur Realisierung - der Weg von oben nach unten - als kaum gangbar erweist. Wir sind viel mehr auf den umgekehrten Weg gewiesen, das heißt auf bruderschaftliche Gestaltung überall dort, wo sie als konkrete Antwort auf vorhandene Fragen und Nöte geschieht. Hier aber kommt heute ein Problem mit einer solchen Unausweichlichkeit auf uns zu, daß wir uns ihm einfach stellen müssen: die Frage nach einer verantwortlichen und zeitgerechten Gestaltung der studentischen Gemeinschaftsformen.

LeerDie Evangelische Akademie Berlin hat im vergangenen Wintersemester eine ungewöhnlich bewegte und lebendige Tagung über diesen Gegenstand gehalten, bei der nicht nur die vielschichtige Problematik in ihrer ganzen Fülle ausgebreitet, sondern mit bemerkenswerter Einmütigkeit auch ein reales und greifbares Ergebnis erzielt wurde. Dieses Ergebnis lautet, auf eine kurze und prägnante Formel gebracht: Wir brauchen christliche Studentenwohnheime, oder noch prägnanter: Evangelische Bursen.

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LeerBerlin ist vielleicht ein prädestinierter Tagungsort für diesen Gegenstand gerade in seiner derzeitigen Situation. Es ist von dem für die westdeutsche Entwicklung so charakteristischen restaurativen Sog im ganzen nur sehr mittelbar erfaßt, bietet aber anderseits für bestimmte restaurative Versuchungen auch wieder ganz besondere Chancen. So hat die Wiederkehr der Korporationen alten Stils in Berlin sehr viel später und zögernder als in Westdeutschland eingesetzt und ist auch noch jetzt durch materielle wie ideelle Hemmungen beengt und beschränkt. Zugleich aber haben gerade die Korporationen ältesten Stils zur Zeit eine unvergleichliche Anziehungskraft für jene Oststudenten, die, von ihrer Familie in der Zone je länger um so mehr abgeschnitten, eine neue Beheimatung suchen, die ihnen nirgends sonst so bereitwillig geboten wird.

LeerSo ist die Frage „Korporation oder Wohnheim?”, unter der die Tagung stand, in Berlin wirklich eine Existenzfrage für Tausende junger Menschen. Sie ist hier mit anderen bedrängenden Problemen wie der Flüchtlingsfrage und der Jugendarbeitslosigkeit aufs engste verknüpft. Aber vielleicht wurde gerade in dieser „existentiellen” Zuspitzung das zugrundeliegende Problem besonders deutlich.

LeerWilhelm Flitner hat in einer eindringenden Studie darauf hingewiesen, daß Geist und Sozialform der abendländischen Universität auf zwei recht verschiedene Ursprünge zurückweisen: auf einen mittelalterlich-korporativen, der sein Urbild im Monasterium hat, und auf einen neuzeitlich-humanistischen, dessen Urbild die platonische Akademie ist. Von der monastisch-mittelalterlichen Gestalt, der eigentlichen Universitas litterarum, ist noch heute das englische und amerikanische Hochschulwesen aufs stärkste bestimmt; so lebt die Bursa des Mittelalters hier im College und im dormitory, aber auch in der fraternity und sorority, der Bruder- und Schwesterschaft, fort.

LeerBei uns hat die Universität schon früh mit dem Überwiegen des spezifisch „Akademischen” ihr korporatives Sozialgefüge zu einem wesentlichen Teil verloren. Der Einbruch des platonischen Dualismus spiegelte sich gleichsam auch in der neuen Sozialform wider: während die Universitas magistrorum et scholarium die Studenten und ihre Lehrer ohne scharfe Scheidung gemeinsam umfaßte, entstanden jetzt auf der einen Seite die großen Gelehrten-Gesellschaften, die sich unter dem Namen Akademie verstanden. Dadurch wurde auf der anderen Seite die korporative Struktur zu einem Teilphänomen, das sich mehr und mehr auf die Studierenden beschränkte, an deren Verbänden, die zeitweilig bemerkenswerterweise Orden genannt wurden, der ursprünglich viel umfassendere Name Korporation schließlich hängen blieb.

LeerHeute stehen wir am Ende einer fast tausendjährigen Entwicklung, deren erste Hälfte mehr im Zeichen der Universitas, deren zweite mehr in dem der Akademie stand. In ihrem Verlauf sind die Akademien längst gleich den Universitäten zu staatlichen Institutionen geworden, die sich zu bloßen Fachhochschulen-zu entwickeln drohen. Aber eben die drohende, soweit nicht bereits vorhandene Verfachlichung gibt nun der Frage nach den studentischen Gemeinschaftsformen eine ganz neue Dringlichkeit. Auch viele andere Fragen, etwa die eines Studium generale oder nach der Zweckmäßigkeit eines Tutorensystems, werden in diesem Zusammenhang akut, aber keine ist wohl auch nur annähernd so dringend wie die der Gemeinschaftsformen.

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LeerEs liegt nahe, hier zunächst nach den historischen Korporationen zu fragen, zumal sie je nach ihrem Alter ein nicht unbeträchtliches Erbe an ordensmäßiger Überlieferung bewahrt haben. Sie sind in Struktur und Ritual ein wahres Museum bemerkenswerter Traditionen, bei dem durch viele säkulare Verhüllungen nicht selten noch das monastische Urbild hindurchscheint, etwa in dem Schäbigkeitsprinzip einiger sehr alter Corps und im Keuschheitsprinzip mancher Burschenschaften, die unschwer auf die „evangelischen Räte” der alten Mönchsorden zurückweisen.

LeerÜberlieferte Formen können etwas Ehrwürdiges, sie können aber auch, wenn sie ihres Inhalts entleert sind, etwas Gespenstisches an sich haben. Der ursprünglich christliche Inhalt der studentischen „Orden” kann mindestens seit dem Jahrhundert der Freimaurer und Illuminaten, in dem sie deren Namen übernahmen, in Frage gestellt werden. Vollends heute entsprechen den Rudimenten einer einstmals christlich-bruderschaftlichen Form nur in ganz seltenen Fällen noch karge Reste christlichen Inhalts.

LeerDas wurde auf der Berliner Tagung nicht deshalb deutlich, weil es sich um eine Evangelische Akademie handelte. Die Korporationsstudenten hatten auf dieser Tagung ganz ungewöhnliche Möglichkeiten, ihre Sache zu vertreten, und sie machten zuerst nicht ohne Erfolg von den ihnen großzügig eingeräumten Möglichkeiten Gebrauch. Sie konnten sehr eindrucksvoll darauf hinweisen, daß es kaum der Werbung bedürfe, um die an ihrer Hochschule praktisch unbehausten Studenten zu gewinnen, und daß sie in einer formlos gewordenen Zeit immerhin eine Form anzubieten haben. Ihre Argumente blieben auch bei den grundsätzlich gegnerischen Gruppen nicht ohne Widerhall, weil die Korporationen dem Anschein nach die einzigen waren, die auf die Frage des jungen Menschen nach bindender Gemeinschaft und Bruderschaft überhaupt eine Antwort gaben.

LeerEs bedurfte erst einer sehr drastischen Begegnung mit dem Ritual des Corpsstudententums, um allen eindeutig klar zu machen, daß dieser Weg nur in die Vergangenheit und nicht in die Zukunft weist. Dadurch wurde Leerdie Frage aber nur um so erschreckender und bedrängender, in welcher Weise denn nun künftige Gemeinschaftsgestaltung an den Universitäten und Hochschulen erfolgen könne. Wenn die Antwort der Korporationen nur für einen sehr kleinen Teil derer, die ernsthaft nach bruderschaftlicher Bindung suchen, in Frage kommen kann, welchen Weg können wir den anderen zeigen, vor allem jenen, die als junge Christen mit ganz besonderem Grunde nach Bruderschaft fragen?

LeerEs wäre zu billig gewesen, diese Frage mit dem Hinweis auf die vorhandene Studentengemeinde zu verharmlosen. Denn eine offene Gemeinde, die mit gutem Recht für alle Gelegenheitsbesucher zugänglich bleiben will, kann nie bindende Bruderschaft in dem von den unbehausten Jungstudenten erstrebten Sinne sein. So kam die Antwort von einer ganz anderen Seite, von einem beinahe banal anmutenden technischen Faktum her: vom Gedanken des Wohnheims.

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LeerDas convivium war von jeher ein wesentliches Merkmal aller Bruderschaft. Im Miteinanderleben und -wohnen kann ich dem anderen erst wirklich zum Bruder werden. Nicht zuletzt auf diese Tatsache sind die erstaunlichen Wirkungen zurückzuführen, die von Tagungen Evangelischer Akademien auszustrahlen pflegen: auch hier ist das Convivium, wenn es auch nur für wenige Tage vollzogen wird, ein bestimmender, ja entscheidender Faktor.

LeerEntsprechend war im Mittelalter die Bursa das bruderschaftliche Strukturelement der korporativ verfaßten Universitas. Es ist gewiß kein Zufall, wenn das von daher kommende Wort Bursch im studentischen Dasein einen ganz anderen Vollklang als außerhalb behielt - bis zur Wiederaufnahme des Namens durch die Burschenschaften.

LeerDas Institut der Burse - deutsch auch „die Bursch” genannt - verfiel mit dem ausgehenden Mittelalter, fast genau zu der gleichen Zeit beginnend, in der die ersten Akademiegründungen erfolgten. In unserer Zeit ist es auch dem Namen nach wieder aufgelebt: es gab nach dem ersten Weltkrieg in Marburg, Tübingen und anderen Universitätsstädten Wohngemeinschaften von auslanddeutschen Studenten, die die sen Namen führten.

LeerNicht dem Namen, aber der Sache nach schienen die zahlreichen Studentenwohnheime, die nach 1945 in verschiedenen Universitätsstädten unter den mannigfaltigsten Namen eingerichtet wurden, die so aufgelebte Bursenüberlieferung fortzuführen. Aber wer erwartet hatte, daß sich hier eine neue Gestalt studentischer Gemeinschaft siegreich durchsetzen werde, wurde enttäuscht: über beachtliche Ansätze ist die anscheinend so verheißungsvoll begonnene Entwicklung nicht hinausgediehen.

LeerDas wurde auch auf der Berliner Tagung deutlich, auf der mit einem ausführlichen Referat über das neueste aller Studentenwohnheime, das in Erlangen, berichtet wurde. Das Referat machte die Gefahr geradezu plastisch deutlich, die alle Wohnheimprojekte bedroht: daß sie nämlich zu einer Art Studentenhotel werden, das den jungen Studenten aus seiner Unbehaustheit eher in die Vermassung als zur Gemeinschaft führt.

LeerGleichwohl wurde unverkennbar deutlich, daß der rechte Weg in dieser Richtung gesucht werden muß. Das Wohnheim ist eine Sozialform unserer Zeit, die es in vielen Abwandlungen gibt, von Lehrlings- und Schülerwohnheimen bis zu Künstler- und anderen Gruppenwohnheimen, die von ideenreichen Leuten in unvermietbaren Großwohnungen organisiert wurden. Gleichwohl ist das Wohnheim kein technisches Patent, mit dem sich alles Beliebige beginnen ließe. Es will mit Weisheit bedacht und gestaltet werden. Wenn es zur Gestaltung wirklicher Bruderschaft führen soll, darf es eine bestimmte Größenordnung - dreißig bis fünfzig Menschen - nicht übersteigen.

LeerVor allem aber muß es von einem einigermaßen einheitlichen Geiste erfüllt sein. Es ist gewiß kein Zufall, daß die wohl bis heute erfreulichste Gestaltung des Wohnheimgedankens in Zürich gelungen ist, wo es nicht weniger als vier evangelische Studentenhäuser gibt, die sich der unmittelbaren Betreuung durch den praktischen Theologen der Züricher Fakultät erfreuen.

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LeerVon diesem und anderen ermutigenden Beispielen angeregt, kam die Tagung der Berliner Akademie am letzten Tag zu bemerkenswert konkreten Schlüssen, die bis zur kühnen Frage nach einer möglichen Bruderschaftsregel führten. Es wurde gefragt, ob nicht sogar manche Formen der Korporationen in der Bruderschaft einer Burse neuen Sinn erhalten könnten: könnte nicht der Fuchsmajor die Rolle eines Probemeisters und entsprechend der Leibbursch für seinen Leibfuchsen die Rolle des seelsorgerlichen Helfers übernehmen? Könnte nicht das Stundengebet, maßvoll gebraucht, für eine evangelische Burse an die Stelle jenes entleerten Rituals treten, das der sogenannte Comment darstellt?

LeerAll dies sind Fragen, die nur durch die unmittelbare Erprobung in der Realisierung beantwortet werden können. Aber es ist wichtig, daß sie überhaupt in ihrer Dringlichkeit und Unausweichlichkeit gesehen werden. Es könnte sonst sein, daß die ganze junge Generation von heute uns einmal dafür verantwortlich macht, daß wir ihr in einer entscheidenden Stunde die Antwort auf eine ihre ganze Existenz bewegende Frage schuldig blieben und von Bruderschaft nur gesprochen hätten, ohne bei ihrer Konkretisierung mit Hand angelegt zu haben.

Quatember 1953, S. 85-89

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-29
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