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Pastor und Lokator
von Erich Müller-Gangloff

LeerAuf einer Vertriebenentagung, die die Evangelische Akademie von Hessen-Nassau im vergangenen Jahre auf Schloß Assenheim hielt, wurde von einem der Flüchtlingsreferenten mit Nachdruck auf die entscheidende Rolle hingewiesen, die bei der Ostwanderung des Mittelalters die Lokatoren spielten. Wenn diese Kolonisation sich trotz aller uns heute unvorstellbar gewordenen äußeren Schwierigkeiten wie ein organischer Wachstumsvorgang vollzog, so sei das, wurde gesagt, in der Hauptsache darauf zurückzuführen, daß sich damals die Masse der Siedlungswilligen nicht als ein wilder und ungeordneter Haufen über das Land ergoß, sondern daß in kleinen, überschaubaren Gruppen gesiedelt wurde, für die jeweils ein Lokator verantwortlich war. Aus diesen Lokatorenfamilien ist dann teilweise der landgesessene Adel, zum andern Teil aber auch das dörfliche Erbrichter- und Schulzentum hervorgegangen.

LeerAuf der Assenheimer Akademietagung wurde seinerzeit sehr eindrücklich festgestellt, daß das millionenfache Rückfluten der einst in den Osten gewanderten Menschen nach der Katastrophe von 1945 heute deshalb gerade auf dem Lande unlösbare Schwierigkeiten aufwirft, weil es in der Massengesellschaft unserer Zeit an Lokatoren fehlt. Siedlungsgesetze mögen noch so sorgfältig ausgearbeitet sein, sie helfen wenig, wenn es nicht neben den Menschen, die nur nach dem wirtschaftlichen Nutzeffekt fragen, auch solche gibt, die Ordnung in sich tragen und daher selber Ordnung stiften können.

LeerEs war wohl kein Zufall, daß solche Gedanken auf der Tagung einer Evangelischen Akademie laut wurden, denn wenn die Kirche der Botschaft, aus der sie lebt, nicht ganz entfremdet ist, muß sie ja wohl der Ort sein, an dem man auch in einer Zeit der totalen Vermassung noch etwas von echter Ordnung weiß. Und wenn die Kirche nicht jede Öffentlichkeitsaufgabe verneint, dürfte eine solche wohl hier liegen, wo es um Not und Bedrängnis vertriebener Menschen geht, die Zuflucht und neue Ordnung suchen. So ist die Vertriebenenfrage Gegenstand zahlreicher Akademietagungen geworden, und in Hermannsburg - nunmehr Loccum - wurde eine eigene Forschungsstelle eingerichtet, an der Frau Dr. Stella Seeberg (aus der bekannten baltischen Theologenfamilie) seit Jahr und Tag die Problematik der Vertriebenenumsiedlung mit ebensoviel Fürsorge wie Sachkunde bearbeitet. Durch den außerordentlichen Zustrom bäuerlicher Flüchtlinge aus der Ostzone hat diese Problematik nun eine ganz neue Dringlichkeit erhalten.

LeerDas wurde auf einer west-östlichen Jungbauerntagung deutlich, die die Evangelische Akademie Berlin mit Hilfe von Frau Seeberg-Loccum und unter starker Anteilnahme junger Bauern aus dem Westen, die in der Hauptsache von der Bauernhochschule Fredeburg kamen, im Januar veranstaltete. Selbstverständlich standen bei dieser Tagung die Nöte der ostzonalen Bauern im Vordergrund, die heute von der Kolchosierung bedroht sind. Es ist gewiß, daß die Kirche sie vor dieser Gefahr nicht im mindesten bewahren kann. Gleichwohl fragen die Bauern auch hier, wie der Zustrom zu Akademietagungen für Bauern beweist, die Kirche in ihrer Bedrängnis um Rat. Und in der Tat bilden die Christen unter den Bauern, die sich unter dem Evangelium sammeln, eine Insel der Besonnenheit in einer Situation, in der Hunderte, ja Tausende von Bauern in ihrer Verzweiflung zum Stricke greifen oder nach Berlin fliehen. Und es liegt nicht selten an dem Pfarrer, ob die Gemeinde, in der er wirkt, von der Verzweiflung ergriffen wird oder ob er den Menschen die Zuversicht geben kann, daß sie auch den Verlust ihres Eigentums, sei es in einer Produktionsgenossenschaft, sei es durch einen neuen Anfang unter ganz neuen Umständen, als Christen überstehen können.

LeerSo ist der Pastor heute vielerorts im Osten, wenn auch allerdings nur in retrospektiver Weise, zum Lokator geworden. Er allein kann oft einen Ort, der sich aufzulösen droht, noch zusammenhalten, und zwar nicht allein die Christengemeinde durch Seelsorge und Verkündigung, sondern auch die Bauerngemeinde durch ganz konkrete Beratung. Frau Dr. Seeberg machte darauf aufmerksam, daß die Kirche damit nur einen Dienst fortführt, den sie seinerzeit bereits bei der Kolonisierung des östlichen Landes im weitesten Umfang getan hat. Jedermann weiß, welch entscheidenden Anteil an der mittelalterlichen Landnahme die großen Mönchsorden, vor allem die Zisterzienser, hatten.

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LeerDoch gilt dies, wie der Verlauf der Tagung zeigte, nicht allein für die besonderen Bedrängnisse des Ostens. Da die Zahl der aus der Ostzone flüchtenden Bauern immer bedrohlicher anwächst, stand das Referat von Stella Seeberg über die Lage der Flüchtlingsbauern in der westdeutschen Landwirtschaft im Mittelpunkt der Tagung. Aus ihren Ausführungen ergab sich, daß die Bauern unter den Vertriebenen die eigentlichen Leidtragenden des Zusammenbruchs von 1945 sind. Während die meisten anderen Flüchtlinge sich inzwischen neue Existenzgrundlagen schaffen konnten, ist für die Bauern noch fast nichts geschehen. Auch das Flüchtlingssiedlungsgesetz, das Frau Seeberg ausführlich erläuterte und begründete, konnte bisher nur notdürftig Abhilfe schaffen, weil unter den besonderen Voraussetzungen der bäuerlichen Existenz ein Gesetz, das notwendigerweise abstrahieren und verallgemeinern muß, nur eben als Handhabe dienen kann.

LeerIm Gespräch erwies sich die ganze Ratlosigkeit der Bauern, die auch beim besten persönlichen Willen nur selten eine Möglichkeit finden, von sich aus zur Lösung des Problems beizutragen. Wenn es vor Jahrhunderten Lokatoren unter ihnen gab, die sich mit einer großartigen Initiative an die Aufgabe der Ostsiedlung wagten, so scheinen diese Fähigkeiten heute erloschen. Dabei muß allerdings auch gesehen und zugestanden werden, daß es eine ungleich einfachere Aufgabe sein kann, ein neues Dorf zu begründen als in die Lebensgemeinschaft eines schon bestehenden Dorfes neue Kolonisten einzufügen.

LeerDie Referentin wies darauf hin, daß es zwar in nur sehr wenigen, aber um so ermutigenderen Fällen vorgekommen sei, daß Dorfpfarrer sich der Flüchtlinge ihrer Gemeinde angenommen haben. Sie berichtete von ganz erstaunlichen Erfolgen, die bei solchen Bemühungen zu verzeichnen waren, und meinte, gewiß mit Recht, daß gerade in dieser Richtung weiteres geschehen müsse. Die Kirche sei heute, nachdem der Staat seine ehemalige Autorität verloren hat und die .Menschen nur noch Interessengruppen kennen, denen sie mit äußerstem Argwohn gegenüberstehen, eine der wenigen Institutionen, die sich noch eine gewisse Glaubwürdigkeit bewahrt habe. Daher dürfe sie sich der Not eines ganzen Standes, wenn es auch eine sehr „weltliche” Not sei, nicht versagen, kurz: die Pfarrer müßten auch im Westen Lokatoren werden, soweit ihnen dazu die Voraussetzungen gegeben sind.

LeerAn einem ganz konkreten Problem wurde es dann allerdings wieder recht fraglich, ob die Kirche als Institution das Zutrauen auch verdient, das mit solchen Erwägungen in sie gesetzt wird. Ein junger Bauer aus dem Hannoverschen stellte die Frage, warum die Kirche denn ihr Kirchenland, das sie gerade in Hannover in solchem Umfang besitze, nicht zur Verfügung stelle, um Flüchtlingsbauern anzusiedeln. Damit hat er, wie sich herausstellte, in der Tat einen der heikelsten Punkte berührt: in dieser Hinsicht ist von kirchlicher Seite bisher so gut wie nichts geschehen, obwohl ausländische Stellen sich in hochherziger Weise bereit erklärt haben, die dadurch entstehenden wirtschaftlichen Einbußen zu übernehmen. Hier wäre es vielleicht Sache des Kirchentages, als Anwalt der Bedrängten aufzutreten und das Gewissen der verfaßten Kirche zu schärfen. Die Evangelischen Akademien können selber gleichsam nur Lokatorenarbeit tun, die von anderen aufgenommen werden muß, wenn sie zur umfassenden Wirkung gelangen soll.

Quatember 1953, S. 102-103

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-29
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