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Die „Untermühle”
von Walter Tappolet

LeerWo die Landstraße, die von Bebra aus nach Nordosten läuft, das Dörfchen Imshausen erreicht, muß sie einen weiten Bogen um einen schönen alten Baumbestand machen. Er gehörte seit Generationen der Familie von Trott zu Solz. Im Hintergrund des Parkes, da, wo dieser in Wiesen übergeht, liegt ein einfaches, aber stattliches Herrenhaus in den ruhigen und klaren Maßen des Barock um 1800, flankiert von einem eingeschossigen Haus im gleichen Stil, das von Verwandten der ehemaligen Besitzer bewohnt wird. Das Haupthaus beherbergt seit 3 Jahren die Lebensgemeinschaft, die vorher in der „Untermühle” gehaust hat und weiterhin diesen Namen trägt.

LeerDie Hausmutter, Vera von Trott zu Solz, ist hier aufgewachsen. Hierher kehrte sie auch zurück, nachdem sie im Burckhardthaus in Berlin ihre Ausbildung als Gemeindehelferin beendet hatte. Im Jahre 1937 wurde unweit von Imshausen eine Mühle, eben die „Untermühle” gepachtet; einzeln, zwischen Wiesen und bewaldeten Höhen gelegen. In diesem primitiv zu nennenden Hause entstand ein Mittelpunkt für die kirchliche Kinder- und Jugendarbeit. Obschon die eindeutig christliche Lebensform dieser Hausgemeinde den NS-Behörden ein Dorn im Auge war, gelang es diesen doch nie, einen Grund zum Einschreiten zu finden. In der Zeit der Widerstandsbewegung, an der Adam von Trott, der Bruder der Hausmutter, führend beteiligt war, baute die Fürbitte evangelischer und katholischer Freunde einen Schutzwall um die Untermühle. Dennoch mußte die organisierte Arbeit unter dem Druck der Gestapo aufgegeben werden.

LeerEs blieb der Kern, aus dem auch die bisherige Arbeit gelebt hatte, und dieser durfte wachsen. Als eine Art „offene Tür” diente die Untermühle den ganzen Krieg hindurch Vielen in vielerlei Weise, und es sammelte sich langsam in ihr und um sie ein Kreis junger Menschen, der sich nach dem Krieg zur Verfügung stellte, verwahrloste Jugend, heimatlose Kinder und allerlei hilfsbedürftig Gewordene in seiner Gemeinschaft aufzunehmen und ihnen zu dienen. Es war von Anfang an und seinem Wesen nach ein Werk des Glaubens und des Vertrauens ohne materielle Sicherung oder gar öffentliche Unterstützung. Die große Familie, die inzwischen auf 60-70 Menschen angewachsen ist, ist außer den Kindern, für die die öffentliche Fürsorge zahlt, weitgehend auf gelegentliche Spenden angewiesen. Alle Arbeit in und für die Untermühle wird als ein Dienst getan, der keinerlei Bezahlung erwartet. Die jungen oder älteren Menschen bringen ihre Kraft und Zeit als Gabe wie die Hirten an der Krippe.

LeerAls im Jahr 1949 die alte Mühle nicht mehr weiter gemietet werden konnte, wurde die Übersiedlung in das Herrenhaus in Imshausen möglich. Der „Verein der Freunde der Untermühle Imshausen” wurde gebildet, um das Haus zu erwerben und der Lebensgemeinschaft „Untermühle” ein Obdach zu geben. Seitdem sind hinter dem großen Haus kleine Neubauten entstanden: Werkstätten, Tagesräume, Wirtschaftsräume und Schlafkammern darüber für die älteren Burschen. Auch eine Sauna wurde gebaut, deren Ofen vielleicht für eine Töpferei verwendet werden könnte. Wer weiß, ob nicht bald einer der Burschen oder Helfer in die Töpferlehre nach Taizé gehen wird! - Die nächsten Vergrößerungspläne gehen dahin, im Haupthaus einen Flügel freizubekommen für Freizeiten und Retraiten-Gäste.

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LeerDie Berechtigung dazu ist wahrlich vorhanden und die Notwendigkeit nicht minder. Denn die meisten „christlichen Erholungsheime”, Interessenetablissements, wie irgend ein Hotel oder eine Pension, sind gar nicht mehr in der Lage, in Unordnung und Mutlosigkeit geratenen Menschenkindern zu helfen und ihnen den rechten Weg zu weisen. Eine wahrhaftige Stätte des Gebetes und der Nachfolge ist immer noch der heilkräftigste Ort, um in Verwirrung geratenen Menschen zu helfen. Und eine solche Stätte ist die „Untermühle”. Seit das „Gebet der Tageszeiten” und die Lesung für das Jahr der Kirche erschienen sind, sind sie hier heimisch. Bis heute ist das Stundengebet - jetzt nach Alpirsbacher Formen - in Gebrauch. Schon während des Krieges wurde die Feier des Heiligen Abendmahles im Hause in der Form der Deutschen Messe gehalten und als unentbehrliche Mitte des Miteinanderlebens erfahren. Wo gibt es sonst auf dem Boden der Evangelischen Kirche eine „Anstalt”, ein Kinderheim, das vom Altarsakrament als vom Quell des lebendigen Wassers her geführt wird?

LeerAls Geistlicher und Hausvater dient dem Hause seit Jahren Bruder Hans Eisenberg. Er beendete, aus dem Kriege zurückgekehrt, von der Untermühle aus sein theologisches Studium. Diese Auffassung der Führung einer großen Hausgemeinde vom täglichen Gottesdienst her ist auf dem Boden der evangelischen Landeskirche gewiß ein Novum. Es erstaunt daher nicht, daß die Hauseltern unwillkürlich auf eine weite ökumenische Gemeinschaft gewiesen wurden. Innerhalb der eigenen Konfession gibt es eigentlich nur Taizé und vor allem Grandchamp, wo sie Verständnis und Anerkennung ihres Weges erfahren haben, abgesehen von vielen einzelnen treuen Freunden.

LeerNeben der Feier des Sakramentes ruht das innere Leben des Hauses auf der Vollständigkeit der Hingabe und der freudigen Zucht, mit der die Hausmutter und Bruder Hans ihr Leben der Hausgemeinschaft zur Verfügung stellen. Diese Zucht schafft den Raum, in dem die Hausbewohner zusammengehalten sind, und der sich in offener Bereitschaft dem Fremdling auftut. Es vereinigen sich die innere Gehaltenheit und die offene Weite.

LeerDas lebengestaltende Element der Liturgie hat in der Untermühle seine ganz bestimmte Form angenommen: in der Abendfeier. Groß und Klein freut sich den ganzen Tag auf diese abendliche Feierstunde, von der man etwas Bestimmtes erwartet, die aber auch immer Überraschungen bringt. Nach dem Nachtessen versammelt sich alles in dem großen Festraum des Hauses, der die vier Wände entlang Stühle und Bänke enthält; außerdem nur das kleine Positiv und den Altartisch, der immer mit Blumen ,geschmückt ist. Wenn alle da sind, beginnt man im Licht der Wandleuchter mit Singen. Der Hausvater schlug, als ich kürzlich dort war, den Satz von Gerhard Schwarz (einem besonderen Freund des Hauses) zu dem Storm-Text „An die Freunde” mit dem Schluß der heimlichen Liebesbande „von Land zu Land” vor.

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LeerDas Kleinste der Kinder, ein blonder Lockenkopf, das überall hinter dem Hausvater hertrappelt, wenn er die Bücher holt und austeilt, und während des Singens zu seinen Füßen auf dem Boden sitzt, wünscht das „Klopfe, klopfe, Ringelchen”. Es schließen sich die Lieder der Jahreszeit und des Kirchenjahres an, Das Septemberlied von Schwarz, das Michaelslied, und das „Heut singt die liebe Christenheit” leiten über zum Abendgebet, zu dem eines der Kinder die Leuchter auf dem Altar anzündet, während die Wandleuchter gelöscht werden. Die Kinder sprechen nach der Abendlesung unaufgefordert, deutlich aber verhalten ihre Nachtgebetlein, ein größerer Junge einen Psalm, auf den alle mit dem „Ehre sei dem Vater . . .” anworten. Es folgen gemeinsam gesprochen ein Abendgebet um einen ruhigen tiefen Schlaf und gute Träume oder das Vater Unser, worauf der Hausvater mit dem Kreuzeszeichen den Segen erteilt.

LeerAls ich das erste Mal in der Untermühle war, am Vorabend von Christi Himmelfahrt, begann die Abendfeier damit, daß ich einiges auf dem Positiv spielte. Danach sangen wir alle Oster- und Himmelfahrtslieder aus dem „Gölz”. Die größeren Kinder sangen überall den cantus firmus oder auch den Alt mit, während die kleineren auf dem Schoß der Hausmutter oder einer der Helferinnen lagen, andere auf dem Boden. Bald schliefen die Kleinsten ein. Aber ob sie sangen, zuhörten oder schliefen, alle waren sie gleicherweise glückselig und im Frieden geborgen. Die Helferinnen trugen dann die Schlafenden in ihre Betten. Für die Erwachsenen schließt die Komplet den Tag.

LeerEin anderes Mal wird in der Abendfeier eine Geschichte erzählt oder etwas vorgelesen. Es herrscht im Vertrauen auf das Walten des Heiligen Geistes und auf Gottes heilige Engel über diesem Hause eine große Freiheit neben der strengen Form der gottesdienstlichen Liturgie, die „Freiheit der Kinder Gottes”, nicht nur in diesen Abendfeiern, die ähnlich wie die ganz anderen Formen in Taizé ebenso wohltuend wirken durch die große Natürlichkeit, die allen geistlichen Krampf ausschaltet, sondern im Leben des ganzen Tages, in das die Liturgie einbezogen ist und ihre Kräfte ausstrahlt. Diese gestaltende und einigende Macht, unterstützt durch das sorgsam gepflegte Laienspiel, ist um so wichtiger für das Leben der Hausgemeinde, als die Kinder auswärts unterrichtet werden, sei es in der Dorfschule, sei es in der Kreisstadt, was von den Größeren die Bewältigung eines weiten und umständlichen Schulweges mit Rad, Bus und Bahn erfordert. Eine Unterrichtsmöglichkeit für die größeren Knaben im Hause würde wohl manche Erleichterung bringen.

LeerAber die großen Schwierigkeiten und Aufgaben hierbei liegen weniger bei der Erziehung der Kinder als bei der Einbeziehung solcher Helfer und Helferinnen, die selbst getragen sein müssen, statt daß sie mittragen helfen. Aber liegt nicht ein besonderer Segen darin, daß dieses gegenseitige Aufeinander-Angewiesensein und das reich abgestufte gegenseitige Geben und Nehmen auch solchen eine Heimat oder eine vorübergehende Zeit der Gesundung und inneren Erstarkung bietet, die im harten Lebenskampf „draußen” unter die Räder geraten sind? Dabei verwandelt sich das Geben oft in ein Empfangen. Und wenn jeder Einzelne die ihm gegebenen Kräfte und Gaben einsetzt für das Ganze, ohne irgendwelche Entlohnung zu beanspruchen, so ergibt sich daraus, scheint es mir, eine beispielhafte Verwirklichung der Liebe Christi, über die die Landeskirche und über sie hinaus die weltweite Kirche nicht dankbar genug sein kann, auch wenn sie die unter besonderen Umständen gewachsenen Lebensformen und Gottesdienstgestaltungen noch etwas fremd anmuten.

Quatember 1953, S. 104-107

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-17
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