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Bruderschaft im Alten Gottesvolk
von Claus Westermann

LeerGegenüber den Bedrohungen des gemeinsamen Lebens in unserer Zeit erhebt sich die Frage: gibt es eigentlich noch Gemeinschaft in Verantwortung, gibt es noch echte Bruderschaft? Das heißt aber nicht: gibt es noch Gemeinschaften, in denen der eine oder andere Verantwortungsgefühl hat. Wir reden von Verantwortungsgefühl oder Verantwortungsbewußtsein. Damit ist das in der Bibel mit Verantwortung Gemeinte in gefährlicher Weise subjektiviert. Man kann dabei zu leicht davon abstrahieren, daß es Verantwortung nur gibt, wo zwei sind. Verantwortungsgefühl ohne ein personales Gegenüber ist wie ein Schatten ohne Gestalt. Sich verantworten ist auf jeden Fall ein Antworten, und dies kann nur im personalen Gegenüber geschehen. Es gibt daher Verantwortung im echten Sinn weder einer Idee noch einer Institution, weder einem Gedanken noch einer unpersönlichen Instanz gegenüber, sondern allein gegenüber einem wirklichen Du. Das gilt für die Verantwortung eines Menschen vor einem Menschen ebenso, wie für die Verantwortung des Menschen vor Gott.

LeerVon der Bibel her ist es nun ganz klar, daß Verantwortung zwischen den Menschen aufhören muß, wo die Menschen sich nicht mehr Gott verantwortlich wissen. Die Bibel sagt auf den ersten Blättern, was hier wirklich gemeint ist: Gen. 3, 9: „Und Gott der Herr rief den Menschen und sprach zu ihm: wo bist du?” Und nun muß der Mensch antworten, nun muß er sich verantworten. Gen. 4,9: „Und der Herr sprach zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel?” Gott fragt: wo bist du? und Gott fragt: wo ist dein Bruder? Hier ist der Ursprung aller Verantwortung. Wo dies Gegenüber aufhört, muß schließlich auch Verantwortung aufhören. Wo aber Verantwortung aufhört, muß auch Gemeinschaft aufhören.

LeerEs gibt im Alten Testament zwei Grundformen der Gemeinschaft: die Gemeinschaft des Blutes und die Gemeinschaft des Bundes. Beide haben sie ihre Grundlage in dem, was wir Familie nennen. Das Schließen einer Ehe ist eine Art der Bundschließung. Bei uns ist der Ausdruck „den Bund der Ehe schließen” ein wenig altmodisch und hochtrabend geworden. In Wirklichkeit fassen wir die Ehe nicht als Bund aussondern als eine Lebensform des Individuums, als deren Fundament weithin die Einstellung der zwei Individuen zueinander angesehen wird, nicht aber der Bund, das heißt das durch das einander gegebene Wort entstandene Fundament eines neuen Organismus, eines neuen Baumes, der nun Früchte tragen soll. Ehe als Bund bedeutet aber auch, daß nicht eine bestimmte Form der Ehe das Fundament ist. Es ist nicht gesagt, daß die Form der Ehe unbedingt immer die gleiche sein muß.

LeerDer Bund der Ehe begründet die andere Form der Gemeinschaft: die des Blutes. Es wäre eine Frage für sich, wie sich diese beiden Grundformen der Gemeinschaft durch die Weltgeschichte hindurch in den großen Epochen und den großen Kulturkreisen zueinander verhalten haben und wie sie sich eigentlich heute zueinander verhalten. Daß sich hier wirklich einiges gewandelt hat und wandelt, zeigt etwa ein Vergleich zwischen den Geschichten des Alten Testaments und den Geschichten, die heute in den .Filmen gezeigt werden. Es ist doch merkwürdig: ich kenne im Alten Testament keine einzige Geschichte, die auf das vom heutigen Filmpublikum so erwünschte happy end hinausliefe, nämlich „daß sie sich kriegen”. Während zum Beispiel die Menschen brennend interessiert sind an dem, was da anfängt, wo unsere Romane und Filme zum großen Teil aufhören: dem Alltag der Familie und seinen großen Problemen. Es mag aber sein, daß die eben ein wenig karikierende Zeichnung des Publikumsgeschmacks heute schon nicht mehr ganz stimmt.

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LeerJedoch ist es unbestreitbare Tatsache, daß hier gewaltige Verschiebungen vor sich gegangen sind. Im Kreis der Abrahamgeschichten dreht sich alles in einer gedämpften, aber mächtigen Dramatik um das eine: daß ein Kind geboren werde. Diese Dramatik setzt im Leben der beteiligten Personen erst ein, wo im modernen Lebensgefühl das eigentliche Leben fast schon vorbei ist, wo all das schon weit zurückliegt, was heute so vielen Menschen das Leben erst lobenswert macht. Dies eben ist in einem modernen Drama oder Film oder Roman kaum denkbar, daß alles andere: Liebe, Genuß und Erfolg, Geltung und Aufstieg, Besitz und Kultur vollkommen in den Hintergrund tritt vor dem einen einzigen, das hier wesentlich ist: daß ein Kind geboren werde.

LeerAber gerade dieser Vergleich mag imstande sein, andeutend zu zeigen, was diese zweite Grundform: die Gemeinschaft des Blutes, den Menschen damals bedeutete.

LeerSie hat ihrem Wesen nach zwei Ausprägungen: die Gemeinschaft der Folge und die Gemeinschaft des Kreises, die Gemeinschaft des Nacheinander und die des Nebeneinander, die der Kategorie der Zeit und die der Kategorie des Raumes zugehörige Gemeinschaftsform: Eltern und Kinder einerseits, Bruder und Bruder andererseits.

LeerAber es gibt niemanden, der nur Vater oder Mutter wäre, auch wenn er keine Geschwister im engsten Sinn dieses Wortes hat. Die Gemeinschaft der Geschwister - im engeren oder weiteren Sinn - ist darin von der Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern unterschieden, daß die Geschwister zunächst vor den Eltern füreinander Antwort geben müssen. Die Geschichte von Kain und Abel zeigt zwar, daß auch der Bruder für den Bruder vor Gott verantwortlich ist, .doch zeigen etwa die Josefgeschichten, daß die zunächst fragende und Antwort fordernde Instanz hier der Vater ist.

LeerDas bedeutet: Aus unserem Geschaffensein als Menschen, die Menschen durch Zeugung und Geburt sind, folgen zwei Grundfunktionen der Gemeinschaft: Die Vaterschaft (die Gott allein verantwortliche Form) und die Bruderschaft (die einem Menschen verantwortliche Form der Gemeinschaft). Gemeinsam ist beiden, daß sie ihren Ursprung in einem Vorgang haben, der den Menschen mit allem Lebendigen zusammenschließt: Gebären und Geborenwerden, Erzeugtwerden und Erzeugen.

LeerDazu tritt als dritte die andere Form der Gemeinschaft, die auf Entscheidung und Wort begründete Form des Bundes. Während die beiden anderen ihrem Wesen nach zeitlich unbegrenzt sind, das heißt ihr normales Ende im Tod haben, kann der Bund zeitlich begrenzt sein. Er ist es nur da nicht, wo er sich mit den anderen beiden, den gewachsenen Formen berührt oder sich mit ihnen verbindet wie in der Ehe (eventuell auch einer Freundschaft); wo der Bund nur Bund ist, ist er ursprünglich meist zeitlich und sachlich begrenzt. Hier ist auch die Beziehung zu Gott eine andere. Gott wird im Augenblick des Bundschlusses angerufen: „der Herr sei zwischen mir und dir”; er wird angerufen, über diesem bestimmten Vertrag zu wachen; jeder der beiden Partner nimmt es vor Zeugen auf sich, daß Gott gegen ihn eingreifen wird, wenn er den Bund bricht.

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LeerAuf diesen beiden beziehungsweise drei Grundformen beruht im Alten Testament alles gemeinsame Leben.

LeerAus der ersten Grundform, aus Vater- und Bruderschaft, die „das Haus des Vaters” bilden, wächst die Großfamilie, die Sippe, der Stamm.

LeerBis hin zum Stamm ist die Kraft von Vaterschaft und Bruderschaft so stark, daß es keinerlei neuer Gemeinschaftsformen bedarf und keinerlei Zwischeninstanzen und Überinstanzen außerhalb der Autorität der Vaterschaft. Es gibt keine Instanz über den Ältesten des Stammes.

LeerDie Familie ist die Grundlage aller Gemeinschaft in Israel. Es gibt kein anderes Wort für Gemeinschaft als mišpaha. Das kann in einem sehr weiten Sinn gebraucht werden. Amos 3, 2 heißt wörtlich: „dich allein habe ich erkannt von allen Familien der Erde” (ebenso Gen. 12, 3). Wenn der Israelit sagen will „alle Menschen”, so ist ihm dafür der natürlichste Ausdruck: „alle Familien der Erde”; nicht der Einzelmensch ist die Grundeinheit, mit der das Alte Testament rechnet, sondern die Familie.

LeerDas Heilsein oder In-Ordnung-sein dieser Urgemeinschaft heißt im Alten Testament Friede. Der ursprüngliche Sinn des Wortes ist nicht: Friede zwischen Gott und Mensch, auch nicht innerer Friede, Seelenfriede - Friede ist ganz streng bezogen auf das Leben der Gemeinschaft. Hier bedeutet es aber auch nicht den Zustand der Ruhe, an dem wir etwa bei dem Wort „Abendfrieden” denken, sondern Friede ist das Heilsein der Gemeinschaft, das das ganze pulsierende Leben der Gemeinschaft umfängt: Lachen und Weinen, Zorn und Neigung, Warten und Erfüllung, Wachsen und Abnehmen. Weder ein Mensch allein noch eine Masse kann Frieden haben; Frieden gibt es nur in den Gemeinschaften, die auf den beiden Grundformen beruhen. Streng genommen ist der Gegensatz dieses Begriffes Frieden nicht der Krieg, sondern die Zerstörung der Gemeinschaft. Die Josefgeschichte erzählt, wie der Frieden der Familie Jakobs tödlich bedroht wird durch den Mordplan der Brüder an dem vom Vater vorgezogenen jüngsten Bruder, und wie dann Gott durch sein wunderbares Walten den Frieden wieder heilt, indem er die Menschen bis zu dem Punkt führt, wo die einen bekennen: „Gott hat unsere Schuld an den Tag gebracht”, und der andere vergibt.

LeerIn Israel wird aus den Stämmen ein Volk durch den Zusammenschluß der Stämme in Form eines Bundes. Der diesen Bund Zusammenhaltende ist auch hier keine übergeordnete Instanz, sondern allein Jahwe, der Gott des Bundes, den alle anerkennen und als dessen Volk sie sich bekennen. Er allein ist wirklich Herr dieses Bundes. Aber auch dieser Stämmebund weiß sich noch zusammengehörig durch gemeinsame Abstammung. Sie alle sind „Söhne Israels”. Niemals ist in Israel an die Stelle dieses Namens der gemeinsamen Abkunft ein vom Land her genommener Name getreten. Sie bleiben die Söhne eines Vaters. Im Volksbewußtsein wie in der Volksgeschichte sind also die beiden Grundformen der Gemeinschaft die denkbar engste Verbindung eingegangen: die Bruderschaft und der Bund. Das Volk ist niemals etwas wesensmäßig anderes geworden als die Familie.

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LeerNeben dieser einen Hauptlinie laufen eine Fülle von Verzweigungen und Variationen der Grundformen her. Beherrschend blieb immer jene Hauptlinie. Auf dieser Linie ist ein höchst eigenartiges Nationalbewußtsein entstanden. Zusammengehalten weiß sich das Volk durch das gemeinsame Herkommen von einem Vater. Daß aber aus diesem Vater ein Volk wurde, ist Gottes Tat. Es hat daher hier weder eine Verherrlichung oder Vergöttlichung der Ahnen noch des Volkes gegeben. Wo das Volk und seine Väter gerühmt werden, wird Gott gerühmt. Dt. 6,10-12: „Wenn dich nun der Herr, dein Gott, in das Land bringt, von dem er deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen hat, daß er es ihnen geben wolle: große und schöne Städte, die du nicht gebaut hast, Häuser, voll von allerlei Gut, die du nicht gefüllt hast, ausgehauene Zisternen, die du nicht ausgehauen hast, Weinberge und Olivengärten, die du nicht gepflanzt hast, und wenn du davon issest und dich davon sättigst: so hüte dich, daß du nicht des Herrn vergessest, der dich aus dem Lande Ägypten, aus dem Sklavenhaus herausgeführt hat.”

LeerDarüber hinaus aber hat das Volk das Land, das ihm Gott draußen im Elend verheißen hatte, im Ernst als Gottes Geschenk verstanden. Es hat keinen absoluten Anspruch auf dieses Land erhoben. Man braucht nur einmal darauf zu achten, mit welcher Monotonie im Dt. immer wieder eingeschärft wird: das Land, das dir Gott gegeben hat. Das wird auch auf die Güter des Landes ausgedehnt: Dt. 6,10-12. Dies alles, das Land und seine Güter, ist nicht im strengen Sinn Besitz Israels, sondern es -ist ihm von Gott überlassen. Das heißt: Gott kann es ihm auch wieder nehmen. Das ist geschehen. Und es ist bewegend, in den Klageliedern zu hören, wie das Volk darum ringt, diese Fortnahme des Landes zu bejahen: Gott mußte es uns nehmen. Denn wir waren ungehorsam.

LeerEs ist zu fragen, ob hier nicht ganz klare und unausweichliche Warnzeichen zu erkennen sind, die jedem Teil der Kirche in jedem Land hier gesetzt sind. Ist es möglich, daß die, die sich als ein Teil des Volkes Gottes wissen, einen Nationalismus bejahen und bestätigen, in dem das eigene Land als Land, die Nation als Nation verherrlicht wird? Dienen wir unserm Volk nicht besser und wirksamer, wenn wir es zur Nüchternheit rufen und deutlicher zum Ausdruck bringen, daß auch wir nicht anders können, als dieses unser Land als Gottes Gabe an unser Volk zu sehen, eine Gäbe, über die zuletzt nicht wir verfügen, sondern Gott allein? Es ist aber darüber hinaus zu fragen, ob nicht jeder säkularisierte Nationalismus notwendig der Gefahr ausgesetzt ist, daß die Gabe an die Stelle des Gebers tritt, daß also Land, Volk oder Staat so hoch gestellt werden, wie nur Gott stehen dürfte. Das ist meines Erachtens schon dort der Fall, wo das eigene Land oder Volk „ewig” genannt wird.

LeerIn den politischen Geschehnissen der letzten Jahrzehnte ist zur Frage geworden, was denn eigentlich ein Volk sei, was ein Volk zum Volk mache. Die Frage ist uns in besonderer Weise gestellt. Es kann hier zur Besinnung helfen, daß das Wort und die Sache im Alten Testament einen wesentlich anderen Sinn und Klang hat.

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Leer1. „Volk” ist eine Weise des Daseins. Wenn einer sein Volk verliert oder aus ihm herausgestoßen wird, weil er dessen fundamentale Lebensgesetze verletzt hat, verliert er seine Existenz. Er kann dann vielleicht noch vegetieren, aber nicht mehr existieren. Menschliche Existenz gibt es nur in der Zugehörigkeit zu einem Volk.

Leer2. „Volk” ist eine Erweiterung der Familie. Es hat seine Mitte im Vaterhaus und ist Ausweitung des Vaterhauses. Das Wort für Volk kann sowohl den engeren wie den weiteren Kreis bedeuten. Das bedeutet einmal: das Ganze ist vor dem Einzelnen da. Dieses Ganze ist immer stärker, wichtiger, wesentlicher als der Einzelne. Der Einzelne fühlt sich und weiß sich in allen seinen Lebensäußerungen zuerst und wesentlich als Glied, als Zweig. (Das entgegengesetzte Lebensgefühl ist wohl das des Mikrokosmos im Makrokosmos.) Die Zugehörigkeit zum Ganzen ist hier eine gewachsene und daher selbstverständliche. Der bewußte und betonte Nationalismus der Neuzeit ist demgegenüber nur ein Zeichen, daß jene Selbstverständlichkeit verloren ist. Niemals wird „unser Volk” gesagt; dagegen sagt Jahwe oft „mein Volk”.

LeerDazu kommt aber nun ein weiteres: Daß das Volk nur die erweiterte Familie ist, bedeutet hier: das Wissen des Zusammengehörens in einem Volk ist im wesentlichen das gleiche wie in einer Familie. Das schließt vor allem die gegenseitige Verantwortung ein. Die Volksgenossen sind Brüder. Und zwar ist mir Bruder der jeweils mir Begegnende (genau entsprechend dem „Nächsten” im Neuen Testament). Der Bruder hat Anspruch auf die Hilfe des Bruders, wenn er ihrer bedarf. Wer sie verweigert, macht sich schuldig. Und Gott wacht darüber, daß die Schuld bezahlt wird.

LeerWie es in der Familie die Verantwortung der Brüder und die der Eltern gibt, so auch im Volk. Im König ist die Verantwortung des Vaters und die Autorität des Vaters erweitert. Beide sind aber im Wesen gleich. Es gibt keinen abgesonderten politischen Bereich mit eigenen Lebensgesetzen. Der König hat in seinem Amt genau so Gott zu antworten wie der Vater in seinem Amt. Der König ist so wenig absolut wie der Vater.

LeerDie Gefahr, die die Leiter eines Volkes aus dieser Begrenzung hinausdrängte in Richtung auf eine eigene politische Macht und Majestät, wurde sehr deutlich gesehen. So gibt es im Alten Testament das wohl merkwürdigste Königsgesetz; ein Gesetz, das die Macht der Regierung in gar keiner Weise fundiert und stützt, sondern sie nur begrenzt: Dt. 17,14-20.

LeerEs ist hier erkannt: die Grenze einer Staatsregierung ist überschritten, wo sie einen Status herbeiführt, der die Urform der Familie ausgeschlossen hat, wo also Vertrauen und Verantwortung nicht mehr das Fundament sind. Sie können es schon da nicht mehr sein, wo die Regierung sich durch Macht und Repräsentation zu weit von den Regierten entfernt hat.

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LeerDie beiden Grundformen der Gemeinschaft (des Blutes und des Bundes) verzweigen und verbinden sich zu einer Fülle von Gemeinschaftsformen: die Familie erweitert sich zur Großfamilie, zur Sippe, zum Stamm; die zwölf Stämme der gleichen Urfamilie, die schon eine lange Zeit selbständigen Lebens hinter sich haben, verbinden sich zum Volk.

LeerDie Gruppe und das Ganze können Bünde schließen, zum Beispiel mit kanaanäischen Städten, mit Nachbarvölkern, mit einzelnen Gruppen. Auch innerhalb des Volkes kann es unter Umständen Gruppenbildungen geben, die die Form des Bundes haben.

LeerJedoch gibt es in der .Frühzeit keine wesentlich andere Form der Gemeinschaft. Es gab noch keine sich scharf voneinander abhebenden sozialen Klassen, und es gab vor allem keine Kirche oder Gemeinde, also keine Glaubens- und Religionsgemeinschaften. Hier unterscheidet sich das gemeinsame Leben im Alten Testament am stärksten vom Neuen Testament, aber auch von unserer Zeit. Das Deuteronomium, das Buch, das vor allem das Leben des Gottesvolkes beschreibt, kennt nur die selbstverständliche und vorbehaltlose Einheit von Gottesvolk und politischem Volk. Daß dies beides irgendwie auseinanderfallen könnte, wird hier auch nicht im entferntesten erwogen. Man kann hier nicht einmal mit unseren Begriffen sagen: Volk und Kirche falle zusammen. Es gibt vielmehr so etwas wie Kirche schlechthin nicht.

LeerIn einer Hinsicht ist dieser Zustand dem abendländischen Mittelälter ähnlich: so wie Israel sich als Gottes Volk wußte, so wußten sich die Völker des abendländischen Mittelalters als die Christenheit. In einer anderen Hinsicht jedoch war es im frühen Israel ganz anders: es gab nicht die Kirche als Institution, es gab keinen Klerus, keine Hierarchie. Die entstanden erst ganz allmählich. Bis zu Beginn der Königszeit gab es auch nur relativ wenig Priester, und die Funktionen dieser Priester der ganz frühen Zeit waren sehr beschränkt. Wir wissen aus den Vätergeschichten, daß ursprünglich das Opfer ganz Sache des Hausvaters war; eines Priesters bedurfte es dazu gar nicht. Institutionelle Regelung und Bindung der Beziehung der Gemeinschaften, also der Familie, der Sippe, des Stammes zu Gott gab es kaum; jedenfalls wissen wir davon nichts. Die Vätergeschichten, vor allem die zusammenhängende Josefgeschichte, bezeugen das deutlich genug.

LeerIm Lauf der Geschichte Israels ist das sehr anders geworden. In der nachexilischen Zeit wurde Israel ein Kirchenstaat, eine reine Theokratie oder besser Hierokratie. Der Hohepriester bekam die königlichen Insignien. Die Priesterschaft war gegliedert in einen höheren und einen niederen Klerus, die gottesdienstlichen Institutionen und Gesetze bestimmten das Leben des Volkes im Politischen (soweit die Provinz der aufeinanderfolgenden Großreiche jetzt noch politisch handeln konnte), im Sozialen, in allen anderen Lebensgebieten. In der Mitte des Volkslebens stand der ausgedehnte, bis ins Letzte geregelte Tempeldienst in Jerusalem. - Diese Spätzeit bildet also das genaue Gegenbild zur Frühzeit vor und während der Einwanderung. Fragt man nun aber, wie es zu dieser völligen Wandlung kam, so gibt das Alte Testament eine überraschende Antwort.

LeerEs zeigt sich zunächst eine gerade, ungebrochene Linie des allmählichen Anwachsens der kirchlichen Institutionen, vor allem des Priestertums. Es bekam eine höhere Bedeutung zuerst durch die Könige, dann allmählich auch eine gewisse selbständige Bedeutung neben dem Königtum; zu einer Konkurrenz zwischen König und Priester kam es in Israel nie. Teilweise trat dann der Hohepriester das Erbe des Königs an.

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LeerDaneben aber geht eine andere, gebrochene Linie her: vom ersten König Gesamtisraels bis zum letzten König Judas geht die Linie der Boten Gottes, die dem Volk Gottes und den gesalbten Königen im Auftrag Gottes entgegentraten. Sie traten immer dann auf, wenn das Volk in seinem Charakter als Gottes Volk bedroht war. Das war immer eine Bedrohung von innen; das, wogegen sie auftraten, war jedesmal ein Nicht-Hören der Verantwortlichen auf Gott. Allein auf dieser Linie führte der Weg zur Kirche des Neuen Testaments. Es ist eine gebrochene Linie. Es entstand nicht etwa eine allmählich wachsende und erstarkende Bewegung, sondern jeder dieser Propheten hatte seine wenigen oder vielen Schritte auf diesem Weg allein durchzustehen, jeder hatte von vorn anzufangen. Es war ein Weg, der zu einem Leidensweg werden wußte, in dem Maß, als der Ungehorsam des Volkes und der Verantwortlichen wuchs. Es ist die Linie, deren Endpunkt die Gottesknechtlieder des Deuterojesaja zeigen, die unmittelbar zum Leiden des Christus hinüberweisen.

LeerNur ein kleiner Kreis von Gefährten oder Jüngern stand neben einigen dieser Propheten. Ihnen verdanken wir wohl weithin das Weitertragen der Prophetenworte. Sonst wissen wir nichts von ihnen und ihrem Wirken. Es kann nur ein stilles und verborgenes gewesen sein, geschichtlich direkt greifbar wird es nicht. Trotzdem sind es diese kleinen und unscheinbaren Gruppen, durch die Gottes Geschichte mit seinem Volk weitergeht. Denn mit der Gerichtspredigt der Propheten hat die selbstverständliche Einheit Volk = Gottes Volk aufgehört. Die Verheißung hat nicht mehr das Volk als Ganzes, sondern der Rest: „Wer glaubt, der bleibt.” Hier hebt mitten im Alten Bund die Kirche im eigentlichen, im neutestamentlichen Sinn an, eine Kirche allerdings ganz im Warten, aber doch mit der Verheißung, daß in ihr das Gottesvolk bleibt. Warum mußte diese Abspaltung, diese Zerstörung der Einheit von Volk und Gottesvolk kommen? Wir sagten oben: weil das Volk in seinem Charakter als Gottesvolk bedroht war. Darauf müssen wir nun näher eingehen:

LeerEs wird zum Verständnis helfen, wenn wir zunächst einmal sehen, worin die Bedrohung nicht bestand: Die Bedrohung bestand nicht in mangelnder oder zurückgehender Kirchlichkeit. Sondern sie bestand darin, daß die kirchlichen und zum Teil sehr kirchlichen Leute, die von Gott redeten, zu ihm beteten, ihm Opfer brachten, ihn in alledem nicht mehr ernst nahmen. Dies zeigte sich - so meinten die Propheten - im gemeinsamen Leben. Es zeigte sich im Erkranken der Gemeinschaften.

LeerIch will dies an einem Punkt ausführen: die soziale Anklage tritt in der Prophetie am stärksten hervor, von Amos über Jesaja und Micha bis Jeremia. Die Propheten haben gesehen: das Volk Gottes verlor seinen Charakter als Gottes Volk, wenn gewisse soziale Schäden einrissen und Zustände herbeiführten, die dann als unvermeidbar hingenommen wurden. Diese Gefahr sahen sie vor allem in der sozialen Zerklüftung des Gottesvolkes.

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LeerSie sahen: der Grundcharakter des Volkes, die Bruderschaft, war gefährdet, wenn zwei Schichten im Volk entstanden, die sich in der Weise von Klassen gegenüberstanden. Dies war in der Frühzeit des Volkes nicht der Fall, obwohl es immer Reiche und Arme gab. Besonders klar zeigt das die Verkündigung des Amos: die soziale Anklage wird hier geschichtlich genau in dem Augenblick erhoben, in dem die sozialen Unterschiede sich zu Klassengegensätzen verdichten. Sie wird aber nicht im Namen der Armen erhoben, sondern im Namen Gottes, der die Gewaltigen vom Stuhl stößt und die Niedrigen erhöht; aber der auch die einmal Niedriggewesenen wieder stürzen wird, wenn sie die Macht als einen Raub an sich reißen. Denn Gott steht nicht auf der einen oder auf der anderen Seite, sondern über beiden. Ihm geht es niemals um den Sieg einer Gruppe, sondern immer um die Heilung der Gemeinschaft.

LeerDie Bedrohung also zeigte sich den Propheten im Erkranken der Gemeinschaften. „Den Schaden Josefs (das heißt des Gottesvolkes) sehen sie nicht”, sagt Amos. Sie sehen ihn nicht, obwohl das Reden, Handeln, Segnen im Namen Gottes weitergeht. Sie sagen ihrem Volk, das nicht sehen will: du sollst deines Bruders Hüter sein!, und wenn du das nicht sehen willst, dann bist du Gottes Volk nicht mehr.

LeerDie Propheten haben keine völlige Reformation ihres Volkes erreicht. Darum mußte das Gericht kommen. Aber in ihrem Gehorsam und in ihrem Leiden ging die gebrochene Linie weiter, die zum neuen Gottesvolk führte.

LeerDas neue Gottesvolk ist in alle Welt gesandt. Wo aber eine Gemeinde ist, steht sie notwendig mit dem gemeinsamen Leben in all seinen Formen in irgendeiner Verbindung. Sie kann sich hier der Verantwortung nicht entziehen. Das Verhältnis der Kirche zu den sie umgebenden Gemeinschaftsformen wandelt sich und muß sich wandeln. In einer geschichtlichen Stunde, in der fast alle überkommenen Gemeinschaftsformen tödlich bedroht sind, ist es der Kirche unbedingt geboten, gerade an dieser Stelle nach Gottes Willen zu fragen, daß sie hier ihres Bruders Hüter sei und ja nicht selbstgenügsam darauf aus sei, die eigene, abgesonderte Gemeinschaft zu pflegen. In dieser der Kirche gebotenen Aufgabe gibt das Alte Testament für die Grundformen gemeinsamen Lebens in der Geschichte des Gottesvolkes des Alten Bundes klare Hinweise, an denen wir nicht vorbeigehen dürfen.

Quatember 1953, S. 136-143

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-05
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