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von Arthur Graf |
Wer aus dem zentralen Voralpengebiet der Schweiz und aus der Gegend um Bern westwärts fährt, gelangt zunächst in das hügelreiche Uechtland, das noch durchaus alemannisches Gebiet ist. Wie er aber die Sprachgrenze erreicht, ändert sich alles. Es ist nicht nur ausgesprochenes Bauernland, sondern ist gesättigt mit Werten, die nicht einfach von jedem festgestellt werden können, sich aber dem erschließen, der aufmerksam zu beobachten und auf die sozusagen unterirdischen Lebensströme zu achten versteht. Hatte dieser Kreis sich erst „Ordre et Tradition” genannt und sehr deutlich von politischem Pathos getragene Schriften herausgegeben, so bedeutet „Eglise et Liturgie” eine durchaus kirchlich-theologische Arbeitsgemeinschaft. Emile Doumergue hatte zur Zeit der großen Calvinjubiläen durch sein monumentales Werk „Jean Calvin, les hommes et les choses de son temps” (6 Bde. in folio) die neuere Calvinforschung mächtig angeregt. Es entstand der „Neo-Calvinismus” zumal in Genf, wo ein Kreis die bibliophile Ausgabe von Calvins „Institutio” (4 Bde., Editions de Beiles lettres, Paris) herausgab. Calvin wurde als der „ökumenische” unter den Reformatoren verstanden, und ökumenisches Interesse leitete die Arbeiten der genannten Arbeitskreise. Schon 1931 war eine „Liturgie de communion” erschienen, 1933 folgte deren zweiter Teil, 1936 eine „Liturgie de bapteme et de confirmation”. 1943 gab Richard Paquier das „Office divin de l'Eglise universelle” heraus, das 1949 in stark umgearbeiteter und erweiterter Auflage unter dem Titel „L'Office divin de chaque jour” als das Gebetbuch für „Eglise et Liturgie”, die Communaute de Taize-les-Cluny und die Schwesternschaft von Grandchamp bei Deladiaux et Niestle in Neuchâtel erschien. Es ist ein sehr reichhaltiger Band, Lektionar, Gebetbuch und Hymnensammlung in einem. Schließlich sei die schöne Sammlung „Liturgies de communion” erwähnt, welche 1952 herausgegeben wurde. Nicht unerwähnt sei die theologische Zeitschritt „Verbum caro”, in der recht bedeutende Studien erschienen, darunter: Paquier, Le fondement christologique de la Liturgie. Es muß aber auch gesagt werden, daß bei all den genannten Bestrebungen von Romantik nicht die Rede sein kann. Denn es handelt sich nicht um Repristination, wie man es gewöhnlich denkt, wenn man glaubt, „katholisierende Neigungen” feststellen zu sollen. Davon hört man bezeichnenderweise so gut wie nichts. Dafür ist ein anderes zu beachten: Schon der erwähnte Pfarrer Amiguet hatte ein auch für seine Zeit außerordentliches soziales Interesse. Sein Herz schlug für das Volk, zumal die Armen im Volk. Man hat dem Gottesdienst in den genannten Kreisen darum so großes Interesse entgegengebracht, weil darin sichtbar werden soll, daß die Kirche Jesu Christi Bruderschaft ist. Aber man war sich schon sehr bald darüber klar, daß es mit einer Erneuerung des Gottesdienstes allein nicht getan ist, solange es nicht zur konkreten Verwirklichung dessen kommt, was die feiernde Gemeinde wesentlich ist. Sie ist nicht Zuhörerschaft, sondern leibhafte Gemeinschaft, in der jeder einzelne Glied ist. Es darf daher nicht bei einer bloßen „liturgischen” Erneuerung bleiben. Es muß zur Erneuerung der Kirche und ihrer Gemeinden kommen, und dazu vor allem zur Bildung von lebendigen Zellen, in denen beispielhaft dargelebt wird, was die Kirche werden und sein soll. So kam es zu den auch in Deutschland bekannten „Communautes”, einer Bruder- und einer Schwesternschaft, deren gemeinsames Leben gewiß von der Liturgie her seinen Rhythmus empfängt, seinem Wesen nach aber ein Leben „in Christo” ist mit allen Folgerungen, die sich praktisch ergeben. Wir wenden uns daher der Bruderschaft zu, welche ihren Sitz in Taize les Cluny, in Burgund, unweit Mâcon, hat. Dort hat eine eher kleine Schar entschlossener Christen gewagt, ihre „vie communautaire” auf der Basis der Ehelosigkeit und der Gütergemeinschaft aufzubauen. Es ist zum Verständnis dieser Bruderschaft nützlich, auf das zu hören, was deren geistliches Haupt, Max Thurian, sagt. Er schreibt: „Es ist einfach nicht wahr, daß es genügt, schriftgemäß zu predigen, damit die Kirche lebendig sei und ihren Dienst an der Welt ausrichte. Es sei denn, man verstehe unter schriftgemäß mehr, als gewöhnlich der Fall ist, nämlich ein konkretes Geschehen, welches die unserer Zeit gemäße Modalität der Inkarnation ist. Die Erfahrung bestätigt nämlich, daß ein Pfarrer wohl als Neo-Calvinist oder Schüler von Karl Barth die reine Lehre treulich und unverfälscht predigen kann; das hindert keineswegs, daß er in einem Raum, der 500 Menschen faßt, deren vielleicht 50 zusammenbringt - wenn es hoch kommt. Die Not der Zeit und der Kirche kann einfach nicht durch bloße Neuausrichtung des theologischen Kurses behoben werden. Die Menschen unserer Zeit verlangen nach anderem, nach Gemeinschaft nämlich. Sie sind auch bereit, dafür einigermaßen erstaunliche Opfer zu bringen. Sie verlangen nicht weniger nach Wirklichkeit. Sie haben es satt, fromme oder gelehrte Abhandlungen als geistliche Speise gelten zu lassen, wenn die Wirklichkeiten, davon sie handeln, sich nicht verleiblichen. Der Intellektualismus ist heute am Ende. Die Stunde eines biblischen Realismus hat geschlagen. Die Menschen haben wieder Sinn und Verständnis für das Gleichnis, das Symbol, das Zeichen, das Sakrament. Die Kirche kann es sich heute einfach nicht leisten, Zeuge zu sein, wie die Menschen allerwärts nach echter Gemeinschaft suchen, und dabei zuschauend abseits zu stehen. Ist sie denn nicht - wenn sie in Wahrheit Kirche ist - qualifizierte Gemeinschaft, Bruderschaft im eminentesten Sinn des Wortes? Sie hat wohl in pathetischer, wortreicher Sprache von diesen Dingen gesprochen und ist darob unglaubwürdig geworden. Woran liegt es, daß sie es nicht oder in so ungenügendem Ausmaß zur Verwirklichung dessen brachte, davon sie so beredt zu sprechen wußte? Die Kirche hat nicht ganz selten einen Weg beschritten, der scheinbar zum Ziel führte: Sie vollzog die Trennung vom Staat, konstituierte sich als Freikirche mit Bekenntnis und Kirchenzucht, sie wollte, wie das die Täufer im 16. Jahrhundert versuchten, gleichsam die Gemeinde der Erwählten mitten in der argen Welt darstellen. Wie oft aber verfiel sie dabei dem Geist des Sektierertums? Es ist bestimmt richtiger, wenn innerhalb der Volkskirche (französisch sagt man wohl richtiger „eglise de multitude”), ja innerhalb ihrer Gemeinden Bruderschaften entstehen, welche als konkretes, prophetisches Zeichen sichtbar werden lassen, was Kirche ist. Wie es von Anbeginn gewesen ist: Männer und Frauen vernahmen den Ruf des Herrn, „verließen alles und folgten Ihm nach”, so wird es immer wieder sein müssen. Die, „so mit Ernst Christen sein wollen”, brauchen sich nicht abzusondern und zur Sekte zu werden. Sie werden dennoch „alles verlassen”, werden auf Eigentum und Familie, persönliche Freiheit und Unabhängigkeit verzichten, um in Ehelosigkeit, Armut und Gehorsam ihr Leben zu führen, demütig, schlicht und tapfer; in der Welt, aber als Gäste und Fremdlinge in ihr, dabei allezeit fröhlich. Ein solches „Zeichen” will Taize sein. Nicht nur in der Urzeit, auch im weiteren Verlauf der Kirchengeschichte hat es dergleichen gegeben, man wird uns von Seiten der Brüder von Taize nicht nur an die Brüdergemeinde erinnern, sondern auch an. die „Messieurs de Port Royal” (17. Jahrhundert) und dann besonders an die neueren anglikanischen Orden. Urbild aber sind „die Zwölf”, die der Herr selbst berief. Wie durch eine Fügung wurde diesem Werk ein Schloß in Burgund zur Verfügung gestellt, das Roger Schütz zunächst allein bezog. 1942 traten zwei weitere Brüder ein, welche dem Kreis bisher nicht angehört hatten. Vor der Invasion zog sich die kleine Schar nach Genf zurück, wo sie nahe am Münster eine bescheidene Wohnung bezog, kleinere Freizeiten hielt und unter der Arbeiterschaft evangelisierte. Hatte man sich in Frankreich mehr an das Vorbild von Port Royal gehalten, so jetzt an das der ursprünglichen franziskanischen Bruderschaft. Den Gottesdiensten lagen die Ordnungen des anglikanischen Prayer-Book zu Grunde. Man feierte täglich in St. Pierre. Seit dem Herbst 1944 lebt die Bruderschaft wieder in Taize, wo man das verlassene Landgut neu aufgebaut und in Betrieb genommen hat, eine Schar Kriegswaisen betreut und erzieht, sogenannte „retreats” - Freizeiten oder geistliche Wochen -, auch theologische Besinnungswochen hält und ökumenischen Geist in Studium und Gebet wie in brüderlicher Aussprache über die konfessionellen Grenzen hinweg pflegt. Wer eintritt, fügt sich im Gehorsam in die Ordnung und das Leben des Hauses ein und empfängt von der Bruderschaft die nötigen Weisungen für seine besonderen Aufgaben. Daß neben der erwähnten Tätigkeit auch Handarbeit in Haus und Küche, Werkstatt und Garten nicht fehlt, daß man geradezu von einem landwirtschaftlichen Musterbetrieb sprechen kann, der dem Bruderhaus angegliedert ist, darf nicht unerwähnt bleiben. Nach einer Probezeit von mindestens einem Jahr bindet sich der Probebruder auf Grund der Markus 10,29 ff. gegebenen Verheißung des Herrn, denn Brudersein ist ein Geschenk der Gnade, der Gehorsam des Bruders und sein Verzicht auf die Güter der Welt sind seine dankbare und fröhliche Antwort auf die Gnade. Der Bruder erwählt getrosten Mutes und frohen Sinnes apostolische Armut und Ehelosigkeit. Er läßt sich genügen an dem, was ihm die Bruderschaft zu bieten hat. Die Ehelosigkeit wird nicht an sich gewertet, sondern als notwendiges Gegenstück zur Ehe gesehen: man ist entweder zum einen oder zum anderen berufen und soll aus solcher Berufung das eine oder das andere wählen, nicht aus eigener Willkür. Taize ist auf die künftige Eine Kirche ausgerichtet. Es leidet unter der Zerrissenheit der Christenheit. Es will sich daher von allem lösen, was letztlich Vor-Urteil ist. Man will den ändern verstehen, achten, lieben. In dieser Haltung geht man an die biblisch-exegetische wie an die historische Arbeit, die denn auch ganz anders getan wird, als sonst üblich ist. So sehr man der eigenen, der reformierten Kirche treu sein will, so sehr teilt man brennenden Herzens das Anliegen von Tommy Fallot und Wilfred Monod, welche wünschten, unsere Kirche möchte sich als „reformierte katholische Kirche” bezeichnen. Hat das nicht schon 1644 der zürcherische Antistes Breitinger, einer der Väter von Dordrecht, in einem Kirchengebet getan? Aber gerade weil Taize in Frankreich liegt, kann es nur wünschen, daß die Kirche des Landes im Vollsinn katholisch und evangelisch sein möge. So stellt die Bruderschaft von Taize schon das kontinentale Gegenstück zu den anglikanischen Orden etwa von St. John the Evangelist, oder von Mirfield oder Kelham dar. Man will nicht römische Vorbilder nachahmen, sondern in neuen, durch die Gegenwart bedingten Voraussetzungen einer altkirchlichen Aufgabe gerecht werden, die darum überzeitlich ist, weil es zu allen Zeiten Menschen gibt, die in echter Weise zum gemeinsamen Leben berufen sind. Es dürfte hier an die „Brüder vom Gemeinsamen Leben” erinnert werden, wie sie im Rahmen des Schweizer Diakonie-Vereins seit Jahrzehnten bestehen. Damit, daß man die Gefahren erkennt, welche auch auf diesem Wege durchaus bestehen, kann eine Ablehnung des Weges nicht begründet werden. Wir haben die Gewohnheit, über dergleichen zu theoretisieren. Taize geht den Weg der Verwirklichung. Die Treue dem Erbe der Reformation gegenüber wird sich darin zeigen, daß alle Dinge unter das Licht des göttlichen Wortes und unter die Zucht des Heiligen Geistes gestellt werden. Es ist der Ort, an dem ökumenische Weite in die reformierte Kirche einziehen will, sie zu befreien von allem, was sie mit sektiererischer Verhärtung bedroht, aus der sie zu echtem ökumenischem Gespräch unfähig werden müßte. In den Tagen, da „das Ende aller Dinge nahe herbeigekommen” war, sind der Kirche Christi die großen Orden geschenkt worden. Ihre Häuser standen wie Burgen in der Welt, darin der köstliche Schatz inniger Liebe zum kommenden Herrn wie zu seinen Brüdern, lobpreisender Dankbarkeit und unerschütterlicher Hoffnung auf Sein kommendes Reich treu gehütet und bewahrt wurde. Dessen bedarf auch die Kirche unserer Tage. Quatember 1953, S. 149-154 |
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