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(Nach einem Menschenalter IV.) von Karl Bernhard Ritter |
Die Jugendbewegung war es, die uns vor nunmehr vierunddreißig Jahren zusammengeführt hat. Dabei muß ich freilich feststellen, daß wir beide auf eine nicht ganz normale Weise zu dem Gründungstag des Jungdeutschen Bundes eingeladen worden waren, der in den strahlenden Augusttagen des Jahres 1919 an der Grenzscheide des Thüringer und fränkischen Landes, auf dem Lauenstein, zusammentrat. Mich hatte man geholt, weil ich in Berlin als einer der allerjüngsten Abgeordneten der „Verfassunggebenden preußischen Landesversammlung” aufgetaucht war, während Wilhelm Stählin in dieser Jugend als Vertrauensmann des „bewegten” Flügels im Bund deutscher Jugendvereine einen Namen hatte. Eigentlich gehörten wir also beide gar nicht dazu. Das hindert jedoch nicht, daß wir uns erst vor kurzem gestanden haben, wie sehr uns zuweilen das Heimweh überfällt nach jenen Jahren. in denen uns die Begegnung mit dieser Jugend eine große Hoffnung schenkte. Es ist wahrhaftig nicht die sentimentale Erinnerung des Alters an entschwundene schönere Tage, sondern die Trauer darüber, daß ein echter und in seiner Tiefe gesunder, verheißungsvoller Aufbruch der besten Kräfte einer jungen Generation unseres Volkes auf halbem Wege gehemmt, verfälscht und schließlich verschlungen wurde, die uns bei diesem Rückblick auf die Jahre nach dem ersten Weltkriege bedrängt. Schon bei dieser ersten Begegnung empfanden wir beide etwas von der gemeinsamen Verantwortung, die uns dadurch zufiel, daß man uns, die Theologen, mit so offenem Vertrauen in diesen Kreis aufnahm. Uns verband schon sehr bald, je mehr wir in den lebendigen Strom dieser Bewegung eintauchten, die bange Sorge, ob es zu einer Klärung und Vertiefung ihres Wollens. einer Reinigung und Festigung ihres Strebens aus der Kraft und Wahrheit des Evangeliums kommen würde. Eine bange Sorge deshalb, weil wir die Kirche und Gemeinde nicht sahen, die diese Jugend sich einzugliedern und mit ihrem Verlangen und Fragen aufzunehmen vermochte. Denn hier mußte nun schlechterdings ein Wortwesen versagen, das nur als christliche Ideologie verstanden werden konnte, weil ihm die Kraft zur überzeugenden Gestaltung des ganzen, leibhaftigen Lebens fehlte. Diese Jugend war aufs äußerste kritisch gestimmt gegenüber aller Behauptung, allem Reden und Bekennen, hinter dem kein entsprechendes Sein sichtbar und spürbar wurde. Damals ist uns unverlierbar deutlich geworden, wie wenig aller missionarische Eifer der Aufgabe gerecht zu werden vermag, die uns heute gestellt ist. Wir erkannten: Die Kirche entfaltet ihre stärkste werbende Kraft, sie ist dann am meisten ein wirkliches Zeugnis für die Welt, wenn sie als Kirche da ist. Ihr Kirche-Sein ist ihre Aufgabe, nichts anderes. Nicht danach wird gefragt, ob der Theologe in der Diskussion recht behält, sondern danach, ob er sich auch im theologischen Gespräch als der freiere, liebevollere, gütigere, der wahrhaft menschliche Gesprächspartner bewährt. Mit einem Wort, wir wurden, ob wir wollten oder nicht, von dieser Jugend gezwungen, der Frage nach der geistlichen Vollmacht, den geistlichen Wandlungskräften der Kirche den Vorrang vor allen anderen Fragen zu geben. Die Frage nach konkreten Orten oder Gemeinschaften, in denen das Kirche-Sein beispielhaft Gestalt gewinnen könnte, tauchte am Horizont auf. Zusammenhänge, die in der ärztlichen Wissenschaft des letzten Jahrzehnts immer klarer geworden sind und den kranken Menschen an Stelle des bloßen erkrankten körperlichen Organgefüges entdecken ließen, kurz und gut, die Einbettung des Menschen in den Kosmos, theologisch gesprochen, die Wahrheit und das Gewicht des ersten Artikels, der Lehre von der Schöpfung, wurden uns unmittelbar zum Erlebnisinhalt. Eines Tages durften wir dann gemeinsam - es war auf einer Tagung auf der Westerburg - von einem erfahrenen und wahrhaft weisen Arzt, unserem Freund und Bruder Carl Happich, lernen, welche Hilfen vom Leibe her für eine wirkliche Sammlung, für die innere Konzentration, für das rechte Hören und Beten möglich sind. Es gibt Judenchristen und es gibt Heidenchristen. Das weiß man zwar in der Kirche, aber man weiß es nicht als eine für alle Zeiten gültige Wirklichkeit. Man muß ein rechter Israeliter gewesen sein oder ein echter Heide, um ein Christ werden zu können. Judentum und Heidentum sind die Vorhöfe der christlichen Kirche. Nur dann versteht man die Botschaft des Paulus an die Juden von der Befreiung aus dem Joch des Gesetzes und an die Heiden von dem Triumphzug Christi, der „ausgezogen hat die Fürstentümer und die Gewaltigen und sie schaugetragen öffentlich und einen Triumph aus ihnen gemacht hat”. Die Begegnung mit der Jugendbewegung hat uns die Würde und Schönheit, aber auch die Macht und verführerische Gewalt dieser Götter erfahren lassen, hat uns so durch den Vorhof geführt und gerade so die echte Überwindung gelehrt. Wo dieser Weg durch den jüdischen oder heidnischen Vorhof nicht durchschritten wird, da bleibt das Christentum im Moralisieren stecken und auf der anderen Seite in der Angst vor der Welt und ihren Mächten. Da wird es ein ängstliches, blutleeres Wesen ohne Welthaftigkeit, von dem man nicht sagen kann wie der Apostel: „Alles ist euer”, sondern eher sagen müßte: „Nichts ist euer”. Mit welchen weitgespannten Hoffnungen haben wir zusammen mit Ludwig Heitmann und Wilhelm Thomas unsere große „Programmschrift”, das Berneuchener Buch, niedergeschrieben und ausgehen lassen, versehen mit den zustimmenden und die Verantwortung mitübernehmenden Unterschriften so vieler Freunde! Es wurde in der Mühle der nie ruhenden theologischen Diskussion nur allzu schnell zermahlen und dann ad acta gelegt, und doch sind wir beide auch heute noch der Überzeugung, daß die dringlichen Anliegen dieses Buches jenseits mancher vorläufigen, sicherlich fragwürdigen begrifflichen Formulierungen ihre Geltung behalten haben. Wir mußten Geduld lernen und einsehen, daß dort, wo es eben nicht um die bloße Fortsetzung der theologischen Diskussion, wo es um die geistliche Wirklichkeit der Kirche geht, die Gesetze des stillen und verborgenen Wachstums, ja noch mehr, das große heilige Gesetz des Weizenkorns waltet, das in die Erde fallen und sterben muß, wenn es Frucht tragen soll. Vielleicht ist aus den Andeutungen, die diese kurze Niederschrift enthält, doch schon erkennbar, wie wir beide auf unserem Wege immer mehr zu der Überzeugung geführt wurden, daß die Not der Kirche nicht zuletzt, sondern vor allem anderen darin begründet ist, daß in ihr an Stelle des trinitarischen Denkens, das allein der Fülle der Aussagen, die uns in der Heiligen Schrift begegnen, und der Durchdringung der Wirklichkeit gewachsen ist, ein isoliertes christologisches, ein dialektisches, zweipoliges Denken getreten ist, für das die Wirklichkeit der Kirche, ihre sakramentale Wirklichkeit entschwindet. Die Lehre von der Schöpfung und die Lehre vom Heiligen Geist verblassen in diesem Denken, und darum hat es keinen Raum für das Geheimnis der die Vergangenheit und Zukunft umspannenden wirksamen und mächtigen Gegenwart des dreieinigen Gottes. Eine isolierte Predigt von Christus wird immer vor die Qual der Fragen stellen, auf die sie in dieser Isolierung keine befreiende Antwort hat. Die sakramentale Feier der Liturgie hat uns darum immer mehr den Dienst getan, uns das Ohr zu öffnen für die Stimmen der Väter und das Zeugnis des Neuen Testaments und es in seiner realen Lebensbedeutung verstehen zu lehren. Darum machte ich ihm Not durch immer neue Wünsche, Forderungen und Vorschläge, durch meine ungeduldigen „Patrouillenritte”, darum hat er mir manchmal nicht geringe Not gemacht durch seine Bedenken, die ich beiseite zu schieben geneigt war „um der Sache willen”, die er in hartnäckigem Widerspruch aufrecht erhielt, um die gleiche Sache vor dem Scheitern zu bewahren. Aber in diesem Kampf gegeneinander und füreinander durften wir auch entdecken, daß es eine Liebe gibt, die durch keine noch so schmerzhafte Spannung in Frage gestellt wird. Bruderschaft in Christus kann nur immer aufs neue als wunderbares Geschenk empfangen werden. In ihr ist die Erfahrung wirksam, von der der Psalmist spricht: „Wenn Du mich demütigst, machst Du mich groß.” Wir sind miteinander alt geworden. Wilhelm Stählin ist mir einige Jahre voraus und feiert seinen siebenzigsten Geburtstag. Dennoch haben wir beide nicht das Gefühl, am Ende unseres gemeinsamen Weges angelangt zu sein. Hat er überhaupt ein Ende? Daß wir es so empfinden dürfen, liegt wohl vor allem daran, daß unsere Freundschaft in der Bruderschaft aufgegangen ist, die nun über uns hinauswächst und, will's Gott, eines Tages auch ohne uns weiter wachsen und ihren so nötigen Dienst tun wird, nämlich als ein Orden evangelischer Männer etwas von dem zu verwirklichen, was Kirche ist. Brannte uns damals auf dem Lauenstein das Herz im Gedanken an unser Volk, so ist uns nun in einer gründlich veränderten Welt der Blick geweitet worden, nicht nur dadurch, daß unsere Bruderschaft längst die Grenzen des deutschen Vaterlandes überschritten hat. Es dünkt uns, daß eine Zeit angebrochen ist, in der dem Christenmenschen das Volk Gottes in aller Welt zwar nicht an die Stelle der natürlichen Volksgemeinschaft getreten ist, in die ihn Gott hat geboren werden lassen - wie könnte das sein! -, in der aber die Sorge um die Erneuerung und Einigung der ganzen Christenheit auf Erden die Sorge um die Zukunft des eigenen Volkes in sich aufgenommen hat. Denn wir mußten ja erkennen, daß der Kampf um die Zukunft des deutschen Volkes untrennbar verbunden ist mit dem Kampf um die Rettung des Menschen in allen Völkern. Quatember 1953, S. 217-220 |
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