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Ahnenprobe Stählin
von Heinrich Gürsching

LeerProfessor Otto Stählin, Wilhelm Stählins einziger Bruder hinterließ bei seinem Tode 1948 eine Familiengeschichte Stählin, deren Drucklegung im Kriege nicht mehr zustande kam. Bei ihrer Lektüre wird klar, wie nicht allein das „Blut” die Sippenzusammenhänge auferbaut, sondern der Geist, das Recht, die ständische Gliederung. Eine Ahnentafel könnte keine Anschauung geben vom geistigen Leitwerk der Mannes- und Namensstämme, das im Recht wurzelt. Aus ihm gewinnt der Geist die Form, auf die es geschichtlich ankommt.

LeerIm Herbst 1952 versammelten sich zahlreiche Stählinsnachfahren, um im Gedenken an den hundertsten Todestag eines frühvollendeten Knaben einen Familientag eigener Art zu begehen, in Weiltingen am Hesselberg. Der Weiltinger Ahnherr Martin Stählin (1781-1855) war einer jener bayerischen Rationalisten aus der Ära Montgelas, er hat das paritätische Universitätsexperiment des Grafen Montgelas zu Würzburg 1803-1806 zwei Semester lang miterlebt. Martin Stählins vierzehn Kinder, mit pestalozzihafter Sorgsamkeit und Opferfreudigkeit erzogen, wuchsen fast alle über Neuhumanismus und Erweckung in das Gefüge der bayerischen Landeskirche, wie sie seit 1848 nach heftigen Kämpfen um Agenden, Presbyterien, Gustav Adolf-Verein und „Kniebeugung”, zuletzt um Wesen und Werk Wilhelm Löhes, harmonisch in die Breite ging. Der älteste Sohn aus dem Weiltinger Kreise, Adolf von Stählin, hat diese Landeskirche im Zustande ihrer friedvollsten Entfaltung 1883-97 als Oberkonsistorialpräsident geleitet.

LeerVon den jüngeren Söhnen wurde Eduard, eine ältere Familientradition aufnehmend, Kaufmann in Verona, Alexander entschied sich für die Philologie, Otto, Wilhelm und Leonhard aber wurden Theologen. Wilhelm, unseres Bischofs Vater, verbringt lange Jahre im Dienste der Leipziger Mission in Indien, Leonhard, zu Ende seines Lebens Oberkonsistorialrat in Ansbach, hat in zahlreichen Schriften die philosophischen Leitthemen seines Jahrhunderts theologisch abgewandelt, selbst eine philosophische Natur systematisierender Anlage. Die jüngsten Töchter Therese und Marie Hedwig wurden Löhes Töchter in Neuendettelsau, die erstere als vielverehrte Oberin der Diakonissenanstalt, eine wahre Regentin. Große Einsätze und nobel bestandene Kämpfe kennzeichnen die ganze Generation, deren Raum von Indien bis zur geliebten Schwester Auguste Hanser in den USA, von Bayern bis Italien und sehr bald Griechenland reicht.

LeerDie volle Entfaltung des neugewonnenen Geistes mit dem Schwerpunkt akademisch-literarischer Erfüllung ist, fast ungebrochen, der zweiten aus Weiltingen hergekommenen Generation beschieden gewesen, der Wilhelm Stählin, der Bischof, als eines der jüngsten und letzten Glieder angehört. Hier finden sich die Monumentalleistungen Otto Stählins (Clemens Alexandrinus, 5 Bde. seit 1905). von Karl Stählin (Russische Geschichte, 5 Bde. seit 1923, eine Zukunftstat), hier vollendet sich das Forscherleben Friedrich Stählins (Topographie Griechenlands) stets in warmer Freundschaft mit den Brüdern und Vettern und ihren Familien. Von den drei Pfarrern gut bayerischer Art aus ihrem Kreise leben heute noch die beiden Patriarchen August und Hans Stählin; Paul Stählin gab in einer langen Leidenszeit ein Beispiel besonderer Nachfolge Christi. Die ökumenische Weite und nimmermüde Ausdruckskraft Wilhelm Stählins ist nicht zuletzt im Mikrokosmos der Sippe erwachsen.

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LeerMartin Stählin stammte aus Memmingen, er war Reichsstädter. Sechs Generationen Stählin wirken in dieser haushälterisch-engen Handelsstadt bis zurück zum „ehrenvesten” Handelsmann Bartholomäus Stählin, der siebzehn Jahre als Faktor großer Handelshäuser in Italien tätig war und 1605 in Memmingen seßhaft wurde. Er wurde hier sogar zum Rate gezogen. Er starb um 1635 wohl an der Pest, mitten im großen Kriege, der zugleich Haus und Reichtum verdarb. Die Familie scheint nach dem Tode des Steinheimer Pfarrers und Tübinger Magisters Bartholomäus Stählin 1678 ins Handwerkliche abzusinken, die Nachfahren bis zum Ende des Reiches 1806 sind gelernte Klempner, Krämer und Säckler, aber stets gewissermaßen lateinische Handwerker im reichsstädtischen Verleger-Stil mit Ratsämtern nebenher; so war der Vater Martins, der Säckler Jakob Stählin, reichsstädtischer Gerichtsprokurator.

LeerUm diese Männer herum wächst eine große Sippe mit bereits kräftiger Breitenstreuung; sie reicht bis Augsburg, Kempten, Schiltach, ja bis ins kaiserliche Österreich und an den Zarenhof; diese Wege sind allen Reichsstädten gemeinsam. Der erfolgreichste Memminger: Jakob von Stählin, russischer Staatsrat (1709-1785), in den deutschen Reichsadel aufgenommen, Erneuerer der Petersburger Akademie und Zarenerzieher, im übrigen Enzyklopädist, Kunstexperte großen Stiles und Wolffianer, dabei im Grunde stets Memminger Reichsstädter, der eine deutsche Predigertochter heiratet und niemals die Verbindung zur engen Heimat vergißt. Das Buch, das Karl Stählin 1926 über ihn schrieb, ist eine der buntesten Geschichtsdarstellungen zur russisch-abendländischen Annäherung. Hinter Jakob von Stählin steht ein Stück gereifter Reformation und die Zucht der lutherischen Lateinschule, die als eine Puppenuniversität für ein großes Stück Welt vorzubereiten wußte.

LeerDer alte Bartholomäus Stählin stammte aus dem Reichsstift Ottobeuren, wo er 1576 noch katholisch getauft worden war. Er bezog sich auf diese Herkunft, als er 1615 bei einem Straßburger kaiserlichen Pfalzgrafen einen Wappenbrief renovieren ließ, der noch heute in der Familie gehegt wird. Dieser Wappenbrief war keine Spielerei; neben dem renovierten Wappen mit Reichsadler und Armbrustschützen, kostbar gemalt, enthielt er den „Lehensarticul” als Befähigungsnachweis zum Empfang von Amt und Lehen. Die Forschungen von Otto Stählin und Heinrich Salier lehren uns viele Stähline in Ottobeuren bis ins I5. Jahrhundert zurück kennen, freie und kirchenleibeigene (öfters in ein und derselben Familie), von denen man indessen nur zwei Generationsträger mit Namen Alt- und Jung-Peter Stählin mit Sicherheit als Vorfahren des Memminger Ehrenvesten erkennen kann; versippt waren sie wohl allesamt.

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LeerRätselhafte Schicksale: wiederum ein Peter Stählin weicht als besiegter Aufrührer im Bauernkrieg in die Schweiz aus; ein noch älterer ist im Jahrzehnt vor 1500 Amman des Marktes Ottobeuren, der unmittelbar vom kaiserlichen Vogt bestellt wurde. So wenig wir die Breitenstreuung der Sippe im Reichsstift nachzumessen vermögen, so genau erfühlen wir ihr Ausmaß: sie umfaßt die Schweiz, ganz Oberschwaben bis zum Rhein und ins Ostfränkische. Das 1615 renovierte Wappen ist ungefähr das gleiche, das der Württemberger Geschichtsschreiber Christoph Friedrich von Stählin ererbte, dessen Herkunft bis nach Schiltach zurückgeführt wird; wahrscheinlich wurzelt auch dieser Stamm in Ottobeuren oder sonst in einer Gemeinsamkeit mit den späteren Memmingern.

LeerZugleich eröffnet sich nun der Blick in die älteste rechtlich-geistige Landschaft, die zwar nur Horizonte ahnen läßt, aber in einer Weite voller Reiz. Der Name Stählin, Stalin, Stähelin, Stecheli oder ähnlich ist einer der ältesten Zunamen deutscher Zunge und läßt sich in den Urkundenbüchern bis 1200 zurückverfolgen; er kommt, wie schon der Altmeister der Germanistik Andreas Schmeller nachwies, von der Armbrust, dem „Stachel”. Es ist ein nicht unfreundlicher Übername aus dem wehrhaften Bereich, wie es bis heute so viele gibt („Poilu”, „Landser”). Da der Name sich nicht durchaus auf den alemannisch-schwäbischen Bereich seiner Entstehung beschränkt und auf den gleichen Wegen wandert wie das staufische Reich, von Italien über die Schweiz, die Reichsabteien und Reichsstädte nach dem lützelburgischen Böhmen in die nordöstlichen Länder, so möchte man ihn wohl auch ursprungsmäßig mit dieser wehrhaft-merkantilen Reichskonzeption in Beziehung setzen, von der gerade die Stähline aus Ottobeuren-Memmingen so lange und deutlich leben. Die ältesten „Stehelli” finden sich als reichsministeriale Vorpatrizier in Straßburg, kurz nach 1200, sie hatten die Möglichkeiten der Dienstmannenschaft rasch durchlaufen.

LeerIm 14. Jahrhundert gründet ein Namensträger den „Stählernen Bund” vor Zürich im Sinne später, fast schon unbewußter Ghibellinentreue gegen die Habsburger Territorienbildung. Bei Marignano fallen ihrer mehrere, nunmehr fast schon Reisläufer geworden. Zwinglis Helfer in Zürich war ein Stähelin. Die bedeutende Basler Familie Stähelin, mit den Memmingern nicht oder längst nicht mehr blutsverwandt, weist bis heute Züge auf, die den oben gezeichneten fast spiegelbildmäßig ähneln; auch bei ihr löst sich die gewaltige reichsministeriale Spannung im Religiösen auf. Diese Spannung war schon nach dem Ende der Staufer zu groß, als daß sie diesen „knights” zu einer Rechtsverfassung verhelfen hätte, wie sie die bürgerliche gentry in England erhielt. Aber um so sorgsamer trugen diese Familien ihr Recht auf allen Wanderungen mit sich. Es lodert schließlich auf in den Flammenfiguren des Geistes.

Quatember 1953, S. 222-224

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-17
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