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Villigst - ein Ausweg ?
von Rolf Hildebrandt

LeerDas Dilemma der gegenwärtigen Universitätsausbildung ist seit langem offenkundig und allenthalben wird von der Reformbedürftigkeit der deutschen Hochschulen geschrieben und gesprochen. Wer viel mit Studenten zu tun hat, kann es von ihnen selber hören. Die Einzelwissenschaften streben immer weiter auseinander, übrig bleibt ein ungesundes Nurspezialistentum. Der zu bewältigende Wissensstoff häuft sich, ohne daß dabei echte Bildung erreicht wird. Die Studenten fühlen sich oft heimatlos an ihren überfüllten Hochschulen und die soziale Unsicherheit macht das Studium zu einer Hetze, die selbst den Bemühtesten kaum Zeit läßt, sich um die echten Probleme der Umwelt zu bekümmern. Die Liste könnte noch lange fortgesetzt werden, und man könnte eine weitere daran anschließen, in der die zahlreichen redlichen, aber selten gelungenen Versuche verzeichnet sind, vom Propaedeutikum über das Studium generale in den verschiedensten Formen bis zum Studentenwohnheim, die diesem Zustand abhelfen sollen. In der zweiten Liste würde ein Name auftauchen, der bekannt ist: Villigst.

LeerAls der Schreiber dieser Zeilen das Wort zum ersten Mal in einer norddeutschen Universitätsstadt hörte, konnte er sich gar nichts darunter vorstellen. Irgendjemand sagte: „Der und jener ist ein Villigster”, oder „dies und das machen hier die Villigster”. - Eine religiöse Sekte? Eine exklusive Jugendgruppe oder gar eine Korporation? Nein, nichts von alledem. Die Villigster sind Studenten, die dem evangelischen Studienwerk in Villigst bei Schwerte an der Ruhr angehören. Einmal auf sie aufmerksam geworden, fand man sie an fast allen deutschen Universitäten. Ganz selten allein, meist in kleinen Gruppen von 8-15. Sie sind stark an Sozialarbeit interessiert, oft in den Studentenvertretungen, vielfach in studentischen Gemeinschaften, immer in den Studentengemeinden aktiv, lebhaft, aufgeschlossen und hilfsbereit. Sie ähneln sich alle ein bißchen, und wenn sie von Villigst sprachen, so war das, als sprächen sie von einer gemeinsamen Heimat.

LeerEtwa 50 Abiturienten werden dort, auf einem Gutshof am Rande des Ruhrgebietes, nach einer sorgfältigen sich über Tage hinziehenden Auswahl zu einem Werksemester zusammengefaßt. Sie leben zusammen und fahren jeden Morgen, wie die Arbeiter aus den Dörfern der Umgebung, mit ihren Rädern zur Arbeit in die Fabriken. In diesem einen Werkhalbjahr legt die Verwaltung des Studienwerkes so viel Geld von ihrem Lohn zurück, daß sie damit die ersten beiden Studiensemester finanzieren können. Das Geld ist übrigens hart verdient, in einer Kettenfabrik, in einem Stahlwerk, in einer Papierfabrik und in einem Elektrizitätswerk hat man keine leichten Arbeiten für die Studenten reserviert. Während der ersten beiden Studiensemester werden die Studenten von Villigst nicht aus den Augen gelassen. Man hält Verbindung mit ihnen und in einer nochmaligen Auswahlfreizeit wird über die endgültige Aufnahme in das evangelische Studienwerk entschieden. Wer aufgenommen ist, erhält für den Rest seines Studiums ein Stipendium. Allerdings sollen die Stipendiaten einige Semesterferien dazu benutzen, um systematisch möglichst viele neue Förderer für das Studienwerk zu werben.

LeerEin kurzer Besuch in Villigst und Gespräche mit den Stipendiaten und Leitern vertieften den schon vorher gewonnenen Eindruck, daß auf diesem Gutshof am Rande des Ruhrgebietes in aller Stille ein Versuch unternommen wird, der höchste Aufmerksamkeit verdient. Wenn der Besucher neugierig nach der besonderen pädagogischen Methode forscht, die eine so typenbildende Kraft hat und die so offensichtliche Erfolge zeitigt, muß er verblüfft feststellen, daß es eine eigentliche pädagogische Methode in Villigst gar nicht gibt. Es ist das Zusammenspiel mannigfaltiger Faktoren, das zu diesem glücklichen Ergebnis geführt hat: Eine gemeinsame christliche Basis, die gemeinsame harte Arbeit und das gemeinsame Leben und Lernen sind die Kräfte des Schmelzprozesses. Die Initiatoren des Studienwerkes gehen von der Überzeugung aus, daß die Hauptprobleme der Gegenwart vor allem im Sozialen stecken.

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LeerEs ist wichtig, so sagen sie, daß der junge Mensch, ganz gleich aus welchem Lager er kommt, mit der sozialen Wirklichkeit konfrontiert wird. Man hat nicht zufällig als Zentrum des Studienwerkes Villigst am Rande des Ruhrgebietes gewählt, denn man will vom Rhythmus der Industrie gepackt, aber nicht überwältigt werden. Eine Neuordnung in dieser verworrenen Zeit ist nach Ansicht der Villigster nicht möglich ohne Basis, „und unsere Basis ist das Christentum”. Dabei wird betont, daß das nicht in einem engen etwa pietistischen Sinne gemeint ist, „wir nehmen besonders gerne suchende junge Menschen auf, und wir schießen sie auch nicht gleich mit der Missionsflinte ab”, sagte einer der Gründer lächelnd. Wenn der Besucher seine Verwunderung darüber ausdrückt, daß eine gemeinschaftsbildende Erziehung so intensiver Art ohne spürbare Eingriffe pädagogischer Natur möglich ist, erhält er zur Antwort: „Die leiden aneinander mehr als an uns. Im übrigen entwickeln wir uns mit unseren Studenten.

LeerWie sie ihre Erfahrungen in den Fabriken verarbeiten, was sie in ihrer Freizeit machen, ob sie die tägliche Abendandacht wollen und wie die Studienkreise aussehen, das haben wir alles den Studenten selbst überlassen. Einige Dinge wiederholen sich immer wieder, so daß man von einem Werksemesterrhythmus sprechen kann: Das vorsichtige Beschnüffeln in den ersten Wochen, die anfängliche Freude an der Arbeit, weil sie noch neu ist, die ersten körperlichen und seelischen Muskelkater, die Flucht vor der Gemeinschaft, weil man zu dicht aufeinander hockt, das Sich-Wiederfinden, weil man einander doch nötig hat, die zuerst winzigen Gruppen, die Sport treiben wollen, die dann aber am Ende das ganze Werksemester umfassen und vieles andere mehr. Das Beglückendste ist dann immer die tiefe Verbundenheit, die am Ende eines Werksemesters aus gemeinsamem Gebet, gemeinsamer Arbeit und gemeinsamem Studium entstanden ist.”

LeerAls ein Beispiel für die Art, in der die Leiter des Studienwerkes die Erziehung des Einzelnen der Gemeinschaft überlassen, erzählte ein Villigster in einer süddeutschen Universitätsstadt: „Vor mehreren Semestern hatten wir einmal einen Offizier unter uns, eigentlich ein feiner Kerl, aber etwas überheblich und im Ganzen ein scheinbar unbelehrbarer, verstockter Nazi, der sich allenthalben unbeliebt machte. Als es nicht mehr ging, haben wir eine Delegation zu einem der Leiter geschickt, er soll ihn doch aus dem Werksemester ausschließen. Wir erhielten zur Antwort: „Wenn ihr mir alle in die Hand versichern könnt, daß ihr alles, aber auch alles an dem Jungen getan habt, um ihn für unsere Sache zu gewinnen, dann setze ich ihn an die Luft, eher nicht!” Wir sind damals nachdenklich abgezogen und heute ist der ehemalige Leutnant einer unserer zuverlässigsten Kameraden.”

LeerEs mögen im Augenblick etwa 300 Villigster an deutschen Universitäten studieren. Sie fühlen sich mit ihrem gemeinsamem Glauben und ihrem gemeinsamem Erlebnis nirgendwo heimatlos. Vielleicht sind sie nicht Musterstudenten im üblichen Sinne. Denn sie haben in Villigst das Versprechen abgegeben, die Welt nicht nur zu betrachten und sie wissenschaftlich zu erfassen, sondern ihr auch etwas zu geben; und es sieht so aus. als ob sie dieses Versprechen halten würden.

Quatember 1953, S. 232-234

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-05
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