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Natur und Kreatur
von Erwin Metzke

LeerDer Begriff der Natur hat im neuzeitlichen Denken eine eigentümliche Akzentuierung erfahren und ist im Abstoßen von der mittelalterlichen Tradition zu einem Pathos-Wort des modernen Menschen geworden. Die „Natur” (einschließlich der natürlichen Vernunft) als die Instanz entdeckt zu haben, auf die man sich in allen Bereichen des Erkennens und Lebens als eine letzte und feste Gegebenheit berufen kann, pflegt nach einer weitverbreiteten Auffassung vom Entwicklungsgang des abendländischen Welt- und Selbstbewußtseins als entscheidende Leistung der nachmittelalterlichen Philosophie und Wissenschaft angesehen zu werden. Erst das Durchbrechen der überkommenen theologisch bestimmten Vorstellungswelt scheint überhaupt einem „natürlichen” Wirklichkeitsverständnis befreiend den Weg geöffnet zu haben.

LeerGeht man dieser Auffassung näher nach, drängen sich freilich kritische Fragen auf. Zunächst: Worin besteht denn die Grunderkenntnis der neuzeitlichen Naturforschung? Was ist in der gewaltigen Arbeit der Forschergenerationen seit Kepler, Galilei und Newton als Natur entdeckt und erschlossen worden? Ein Reich der atmenden Kräfte, der schöpferischen Fülle, der lebendigen Ordnung? Die Grundbewegung der neuen Erkenntnis hat ein anderes Ziel und Ergebnis. Es ist die mechanistische, alle Qualitäten quantifizierende, alle Zusammenhänge in exakt mathematische Beziehungen auflösende Naturerklärung, die die scholastische Spekulation über Wesenheiten und Wesensformen abgelöst hat und die Naturauffassung Jahrhunderte hindurch produktiv bestimmen sollte, - nicht nur die Auffassung des Bereichs der außermenschlichen Naturdinge, sondern auch die der Natur des Menschen, des Staates, der Gesellschaft. Auch auf sie wurden die mechanistischen Erklärungsprinzipien, die sich in der Bestimmung der natürlichen Bewegungsvorgänge so erstaunlich bewährt hatten, angewandt. Bis jetzt, schreibt Descartes am Ende seiner „Principia philosophiae”, habe er „die Erde und die ganze sichtbare Welt nach der Art einer Maschine beschrieben”, nun sollen auch die „lebendigen Geschöpfe” in derselben Weise begriffen werden. Hobbes' Bild eines universalen Seinsmechanismus, hundert Jahre später Lamettries „l'homme machine” und schließlich die Laplacesche Vorstellung eines Dämons, der aus der Kenntnis einer Ausgangslage an Hand einer Gleichung den gesamten künftigen Weltlauf zu berechnen vermag, sind nur besonders bekannte Beispiele dieser sich schnell ausbreitenden Naturauffassung. Ihr Erkenntnisziel ist ein „natürliches System” des Wissens, das sich in der Totalkonstruktion der gesamten Wirklichkeit durch Kombination von Elementen nach festliegenden Regeln vollenden soll. Auch denen, die nicht einseitig mechanistisch dachten, schien die Mathematik endgültig das Mittel, „gleichsam den Ariadnefaden” (Vico) gegeben zu haben, um in das innerste Wesen der Natur einzudringen. Besonders auffallend tritt die Macht dieser Denkweise eines mathematisierenden Universalismus in Spinozas Philosophie hervor, denn obgleich als ihr Nerv das Wissen um die unendliche Potenz der göttlichen Wirksamkeit zu spüren ist und obgleich ihr Thema „Deus sive natura” für Goethe und Schelling den Durchbruch durch den Spiritualismus bedeutet hat, ist sie in einer so extremen Form „more geometrico” entwickelt, daß alle Realzusammenhänge und alles kosmische Geschehen in der Vielfalt seiner Prozesse zu einem einzigen, lückenlosen, logisch deduzierbaren Folgezusammenhang werden.

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LeerJe konsequenter diese Gedanken durchdacht wurden, um so zwingender mußte sich aber schließlich die Frage stellen, ob das Ergebnis dieser Gedanken nicht genau das Gegenteil von dem war, was in dem Bemühen um die neue Naturerkenntnis erstrebt worden war. Der Mensch hatte die Herrschaft über die Natur gewinnen, er hatte ihr Dunkel auflichten wollen, und er sah sich nun in ein nach unaufhebbaren Gesetzen funktionierendes wertindifferentes Natursystem eingeschlossen. Die Natur, in der der Mensch eine letzte und höchste Norm gefunden zu haben glaubte, stellte ihn selbst, seine Freiheit und sein ganzes persönliches Menschsein in Frage. Für Kant wurde diese Erkenntnis zu einem entscheidenden Impuls seines philosophischen Kampfes gegen den „Materialismus”, „Spinozismus” und „Fatalismus”. Mit seiner fundamentalen kritischen Unterscheidung zwischen der Welt der Erscheinungen, auf die allein sich die naturwissenschaftliche Erkenntnis beschränke, und der Welt der Dinge an sich, die ihr unzugänglich bleibe, suchte er den metaphysischen Ansprüchen der Naturwissenschaft eine Grenze zu setzen und dem Menschen den Raum für seine Verantwortung zu sichern. Kants Kritik erhält dadurch ihr besonderes Gewicht, daß sie zugleich positiv der Möglichkeit einer reinen Naturwissenschaft auf den Grund zu gehen sucht und die kopernikanische Entdeckung macht, „daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt”. Nicht die erscheinende Natur als solche wird in den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen entdeckt, sondern das denkende Ich mit seinen Kategorien wird als ihre vorgängige Bedingung sichtbar, so daß gerade das „Objektive” aller wissenschaftlichen Naturerkenntnis sich als Produkt des (freilich „transzendentalen”) Subjekts erweist: „der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor”.

LeerDoch hat Newton selbst - wenigstens in seinem Grundwerk über die principia mathematica einer philosophia naturalis - darauf hingewiesen, daß er sich bewußt auf die Darstellung der beobachtbaren Erscheinungen in mathematischer Sprache beschränke: nicht von realphysischen oder gar metaphysischen Kräften und Dingen spreche er, sondern nur „mathematice”. „Hypothesen, seien sie nun metaphysische oder physische oder diejenigen der verborgenen Eigenschaften, dürfen nicht in die Experimentalphysik aufgenommen werden.” Auch Galilei schon hatte nur darlegen wollen, in welcher Weise, aber nicht warum die Steine fallen. Es ist inzwischen nur immer deutlicher geworden - trotz des massiven Materialismus des 19. Jahrhunderts und ihm entgegen -, daß es gerade die großen Physiker sind, die ihre Begriffe und Formeln als Hilfsbegriffe und Hilfsformeln betrachten, und daß sie nicht beanspruchen, mit ihren kunstvollen und kühnen Abstraktionen das Seinsgeheimnis der gegebenen Natur zu offenbaren. Man darf sagen, daß sich in den am weitesten vordringenden Erkenntnissen die Physik in ein System von Rechenformeln verwandelt hat. Die Forschung ist sich dieses Vorganges durchaus bewußt. Die Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaft von der Natur hat sich als ein Prozeß immer subtilerer Abstraktionen und Konstruktionen - bis zum völligen Verzicht auf Anschaulichkeit - enthüllt. Muß das aber nicht zu der Frage drängen, ob das, was im Zuge dieser Erkenntnisentwicklung - ungeachtet der erstaunlichen Leistungen in der Erforschung der Bewegungsvorgänge - als Natur erscheint, nicht lediglich ein künstliches Produkt des wissenschaftlichen und technischen Denkens ist, sozusagen eine denaturierte Natur? Was von der Natur „übrig bleibt” - so hat es ein Theoretiker der modernen Physik ausgedrückt-, ist „etwas sehr Abstraktes, nämlich ein kahles Gerippe von Beziehungen, das sich nur in mathematischen Symbolen wiedergeben läßt.”

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LeerSchon Johann Georg Hamann, der Magus des Nordens, dessen Bedeutung steigend zu Tage tritt, hat im 18. Jahrhundert, als die neue Weise der Naturerklärung im Aufklärungsdenken zu allgemeiner Herrschaft drängte, von der „gewalttätigen Entkleidung” der Natur zu „nackten Begriffen” gesprochen. Gibt es, fragt er, etwa „einfache natürliche Punkte, auf die sich alles reduzieren läßt, oder besteht alles aus mathematischen Linien?” Mußten auf dem Wege der Physik nicht „alle ihre (der Natur) Schönheiten und Reichtümer zu Wasser werden?” Nicht nur der unzulänglichen Erfassung der Natur gelten diese heftigen Angriffe, sie gehen tiefer: „Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Wege geräumt”. Die Natur muß deshalb verstummen, „wider Willen der Eitelkeit und Knechtschaft des vergänglichen Systems unterworfen”. Hamann bleibt andererseits nicht bei der Kritik stehen, er fragt zugleich nach den Bedingungen, unter denen es gelingen kann, die „ausgestorbene Sprache der Natur von den Toten wieder aufzuwecken”. Er nimmt das Wort von dem „Text”, von dem „Buch” der Natur auf. Aber gegen Galileis These, es sei in mathematischen Lettern geschrieben, bringt er den ursprünglichen Sinn des Wortes vom „großen Naturbuch” neu zum Bewußtsein: es verlangt als erstes Vernehmen und Aufnehmen, Lesen und Hören; es genügt nicht die rechnende Ratio und nicht die Analyse und das Kombinieren von Elementen. „Gesetzt, wir kennen alle Buchstaben so gut wie möglich, wir können alle Wörter syllabieren und aussprechen... ist das alles schon genug, ein Buch zu verstehen?”

LeerHamanns Frage drängt weiter: Wirkt nicht vielleicht auch der Seinsbegriff als Hindernis? „Sein ist freilich das Ein und Alles jedes Dings, aber das το ον der alten Metaphysik hat sich leider in ein Ideal der reinen Vernunft verwandelt, dessen Sein oder Nichtsein von ihr nicht ausgemacht werden kann”, wie es in einem Brief an Jacobi heißt. Indem Hamann die Natur als „Wort” (das er ausdrücklich an die Stelle des Seins setzt) zu begreifen sucht, will er einen neuen Zugang zum Verständnis der Natur öffnen, das diese ursprünglicher begreifen läßt, als es in der Physik und Philosophie seines Jahrhunderts, die „aus einer allgemeinen Wissenschaft des Möglichen zu einer allgemeinen Unwissenheit des Wirklichen auszuarten” beginne, geschehen ist, - ursprünglicher begreifen, das heißt: nicht von den Postulaten und Maßstäben des Menschen her, nicht mehr als Produkt des Messens und Berechnens, nicht mehr lediglich als Objekt der Machtausübung, sondern von ihrem eigenen Ursprung her, von dem her, der sie geschaffen hat und in ihr seine „Herrlichkeit” offenbart, um „unsere Augen zu öffnen”. Die ganze Weisheit Newtons erscheint ihm unter diesem Gesichtspunkt nur als ein „Possenspiel gegen den Päan eines Morgensterns”.

LeerEs ist leicht erkennbar, wie weit Hamanns Zurückgehen auf das „Ur-kundliche der Natur” von jedem romantischen Naturempfinden entfernt ist, das gegen den rationalistischen Naturbegriff ein irrationalistisches Naturerleben setzt und damit den Menschen nur vollends im Subjektivismus sich verfangen läßt. Denn was in der üblichen mehr oder weniger schwärmerischen Naturromantik sich antithetisch zur Wissenschaft ausspricht, pflegt nichts anderes zu sein als ein Spiegel von Gefühlen, Sehnsüchten und Ressentiments. Die Natur wird zur Kulisse von Stimmungen. Gerade das, wodurch die Natur der Subjektivität Grenzen setzt, wird verdeckt. Die Wendung aber, die Hamann mit seinem leidenschaftlichen Fragen nach dem „Autor” des Textes der Natur in die neuzeitliche Diskussion des Naturproblems bringt, setzt diese überhaupt und im Ganzen in ein verändertes Licht: entgegen der Rede von der vermeintlichen Naturfeindschaft des christlichen Glaubens wird die christliche Überlieferung als Boden für ein Verständnis der Natur sichtbar, das diese nicht „auflöst”, sondern als Gabe des Schöpfers erfahren läßt.

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LeerGewiß ist nicht bestreitbar, daß es in der christlichen Tradition von früh an Tendenzen zur Naturentwertung gegeben hat, aber es läßt sich zeigen, daß sie aus dem Einwirken spätantiker Weltentfremdung und neuplatonischer Philosophie mit ihrer Verneinung alles Leibhaften, ihrem Herabstoßen der Materie „nach unten”, aber sicher nicht aus dem ursprünglichen biblischen Schöpfungsglauben kommt. Gerade in der Formulierung einer „Schöpfung aus dem Nichts” befreit der Schöpfungsglaube das Denken zu der Möglichkeit, die Natur als ein Ganzes zu bejahen, das Leibhafte und die Materie eingeschlossen. Denn auch die Materie ist von Gott geschaffen; sie ist nicht mehr verurteilt, lediglich Ursprung und Stätte aller Mängel, aller Unvollkommenheit, alles Negativen zu sein. Gottes Kraft verliert sich auch nicht nach „unten” hin. Sie ist im kleinsten Grashalm gegenwärtig. Gewiß vergeht diese unsere Welt. Es kommt ein neuer Himmel und eine neue Erde, aber eben doch ein neuer Himmel und eine neue Erde. Als Schöpfung, als Creatura Gottes bleibt die ganze Natur von Gottes Ja umschlossen. Auch nach dem Strafgericht der Sintflut läßt Gott nicht aufhören Saat und Ernte, Sommer und Winter, Tag und Nacht, sondern schenkt zum Zeichen des Bundes den Regenbogen.

LeerFreilich hat der Einfluß der antiken Philosophie mit ihrem Dualismus von Form und Materie die Neuwertung der Natur in ihrer Materialität und die produktive Entfaltung der in der christlichen Verkündigung enthaltenen Denkanstöße durch das ganze Mittelalter hindurch erschwert und gehemmt. Aber seit Nikolaus von Cues wird deutlich, wie umwälzend der Schöpfungsgedanke auf die Naturansicht zu wirken vermag. Denn die den Bann der traditionellen Autoritäten brechende Erforschung der Natur nimmt ihre Grundimpulse keineswegs aus einer Abwendung von dem christlichen Gottesglauben oder einer materialistischen Philosophie, sondern: in der Natur forschen, heißt für sie ursprünglich, Gott auch in der geschaffenen Welt aufsuchen und nicht nur in der „Schrift”.

LeerAllzuwenig beachtet wird in diesem Zusammenhange, daß auch Luther nicht im Gegensatz zu den hier sich anbahnenden Möglichkeiten eines veränderten Naturverhältnisses gestanden hat. Die „ganze Kreatur” ist auch für ihn „das schönste Buch oder Bibel, in denen Gott sich selbst beschrieben und abgemalt hat”. Das ist nicht ein bloßes Bild. Wider die Naturfremdheit sowohl der Scholastik wie auch des Humanismus hat er einen neuen Sinn für die Naturwirklichkeit zu erwecken gesucht und zwar eben aus seiner Glaubensüberzeugung heraus, daß Gott sich nicht droben im Himmel wie in einem „Kerker” „gefangen setzen” läßt, sondern frei ist, in der Welt nah und leibhaft seine Gegenwart zu bezeugen. Die Verkündigung, daß Gott in Christus auf die Erde gekommen ist, schränkt diese Allgegenwart nicht ein. Sie enthüllt für Luther vielmehr, nicht weniger als für Nikolaus von Cues, wenn auch in anderer Weise, das Wesen der uneingeschränkten Präsenz Gottes nur noch klarer, denn die Offenbarung in Christus macht Gottes Gegenwart an einer konkreten Stelle sichtbar und faßbar. Gott enthüllt sie selbst dem Menschen. Er macht sie, die unvorgreiflich schon immer da ist, für mich greifbar - denn es ist ein anderes, „wenn Gott da ist und wenn er  d i r  da ist” -; er eignet mir seine „Gegenwärtigkeit” zu und zwar nicht in abstrakter Innerlichkeit und reiner Geistigkeit, sondern in voller Leibhaftigkeit in dieser gefallenen Welt, auf dieser unserer Erde. Indem Gott sich in der Inkarnation „um unser willen aufs allertiefste herunterbegibt”, gibt er dem Menschen den Mut, zur Wirklichkeit auch in ihren unscheinbarsten Erscheinungen und im „geringsten Baumblatt” Ja zu sagen. „In seinen Kreaturen erkennen wir die Macht seines Wortes, wie gewaltig das sei”.

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LeerIndem von diesen Überzeugungen her der antik-scholastische Gradualismus, der die Welt nach festgelegten Seins- und Vollkommenheitsgraden abstufte, überwunden wurde, erhielt auch das mit exakten Mitteln in die Natur eindringende Wissenwollen erst seine ganze Weite und Offenheit. Jetzt erst wird die Welt im Ganzen unter und über dem Mond in gleicher Weise der Erkenntnis freigegeben. Auch das Rechnen und Messen steht im Zeichen des Bibelwortes, daß Gott alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet hat. Weder Kopernikus, noch Kepler, noch Galilei sind ohne den biblischen Grund zu denken. Er trägt ihre Arbeit.

LeerAllerdings hat nun die aus dem Schöpfungsglauben gewonnene Freiheit zur Erforschung der Welt in der Folgezeit, verführt durch die Kette von Erfolgen in der Beherrschung der Natur, sich selbst alsbald absolut gesetzt und den Weg geöffnet zu jener Inthronisierung des Subjekts, die die Erfahrung der Geschöpflichkeit hinter sich zurücklassen zu können glaubte. Es ist uns aber bereits bewußt geworden, daß mit dieser Absolutsetzung nicht etwa endgültig die Freiheit gewonnen wurde, sondern nun in Verkehrung der Ausgangsrichtung jene Vergötzung von Teilerkenntnissen der Wissenschaft begann, die die ursprüngliche Offenheit des Erfahrens einem Wissenschaftsabsolutismus auslieferte, der nicht weniger dogmatisch war als der bekämpfte kirchliche Dogmatismus. Auf diesem Wege muß, wie schon Hamann mit ungewöhnlicher Klarheit gesehen hat, jede Kreatur wechselweise zum Schlachtopfer oder zum Götzen werden.

LeerDiese Situation hat sich in den letzten Jahrzehnten zu verändern begonnen. In der Naturforschung selbst ist jene Annahme eines schlechthin souveränen Subjekts und der Anspruch absoluter Erkenntnis aufgegeben worden, und eine Rückbesinnung auf die unaufhebbaren Voraussetzungen jeder menschlichen Erkenntnis hat eingesetzt. Wie hinter dem Subjekt des Erkennens der lebendige Mensch sichtbar wird, der sinnlich wahrnehmen und mit seinen Händen experimentieren muß, so hinter dem Objekt die Wirklichkeit, die nicht in der Objektivierung aufgeht. Es zeigen sich die Grenzen der beliebigen Anwendbarkeit bestimmter Begriffe und Methoden. Die leibhafte Geschöpflichkeit als Bedingung jeder Erfahrung und jeden Experiments, damit aber auch als produktive Bedingung der Physik selbst, kommt neu zum Bewußtsein. Nicht einem absoluten Subjekt begegnet die Natur, sondern allein dem leibhaftigen Menschen, der nicht an einem absoluten Nullpunkt steht, sondern sich schon immer eingefügt weiß in die Zusammenhänge aller Kreatur, dessen Wort nicht erstes Wort, sondern immer schon Antwort ist. Damit wird nicht eine „dogmatische” Vorentscheidung gefällt. Vielmehr wird der Mensch aus dem Gefängnis der eigenen Absolutismen herausgerufen. Er sieht sich verwiesen auf den offenen Weg der Erfahrung, der immer inmitten der Wirklichkeit beginnen muß, der schrittweise, nie gesichert gegen Querschläge, immer ausgesetzt dem Unerwarteten, in die Welt eindringt, der hinter jeder beantworteten Frage stets neue, unbeantwortete auftauchen läßt. Diese Hinwendung zur Erfahrung der Natur in ihrer Unerschöpflichkeit ist nicht naiv und nicht sentimental, sondern das Ergebnis geschärfter kritischer Besinnung. In ihr vollzieht sich die Abkehr von dem Apriorismus eines Denkens, das, gestützt auf die Herrschaft eines vulgarisierten Platonismus, in fast selbstverständlich gewordener Selbstsicherheit des Erkenntnisanspruchs, sich des Seins aus eigener Kraft mächtig dünkt vor aller Erfahrung und unabhängig von aller Erfahrung. Aber es ist ebenso die beginnende Abkehr von einem Aktivismus, der keine Grenzen kennt und für den die Natur nur noch Material der Verarbeitung und der Machtausübung ist, so daß sie schließlich in der selbstproduzierten Welt des Subjekts völlig verschwindet.

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LeerWir erkennen heute die Entwicklungszusammenhänge, die von Bacons und Descartes' Programmen der Weltbemächtigung bis zu den existenzialistischen Bekenntnissen der Weltentfremdung und der Heimatlosigkeit als eines Weltschicksals reichen. Sie umspannen den Marxismus, für den die Natur zum „Lebensmittel”, zum Moment der Arbeit und des Produktionsprozesses wird, wie den Pragmatismus eines John Dewey, für den die Bedeutung eines Sees, eines Flusses, eines Berges nicht in ihrer „natürlichen Gegebenheit”, sondern nur noch in ihrer „sozialen Bedeutung” liegt. Wir erkennen zugleich die geschichtliche und philosophische Bedingtheit dieses Weltverständnisses und des in ihr leitenden Naturbegriffs. Angesichts des kosmologischen Nihilismus der modernen Subjektivität aber drängt sich die Erwägung auf, ob das Offenbarwerden der Natur in ihrer Wahrheit nicht überhaupt an die Erfahrung der Geschöpflichkeit unseres Menschseins gebunden ist. Keineswegs vom Fortschritt der Forschung überholt, sondern als ihre unüberholbare Bedingung erkannt, bewahrt sie nicht nur das Erkennen davor, das jeweils Erkannte für endgültig, für abschließend zu halten, sie läßt uns auch erst den konkreten faßlichen Gegenhalt finden, der uns aus der leeren Unbestimmtheit uferloser Möglichkeiten befreit und im Aufstieg des Gedankens, der Maß und Boden allzuleicht zu verlieren droht, die tragende Schwere der Erde spürbar macht. Wenn sich aber unsere Kreatürlichkeit am elementarsten in dem nahen und stets gegenwärtigen Geheimnis der Leibhaftigkeit unseres Daseins bezeugt, wenn in ihm der Mensch unmittelbar an seinen natürlichen endlichen Ort auch in der wie nie zuvor erschlossenen Weite des Alls erinnert wird, so könnte gerade dieses begrenzende konkrete und unauflösliche Faktum des leiblich-welthaften Daseins - härtester Anstoß sowohl für ein reines, auf Austilgung aller Erdenreste bedachtes Denken wie für einen sich unbedingt dünkenden Machtwillen - zum Ausgangspunkt werden, um unser Fragen nach der Natur auf der Höhe kritisch gereiften Bewußtseins in einer Ursprünglichkeit zu entfachen, die unser Gesamtverhältnis zur Weltwirklichkeit erneuert und Theologie, Philosophie und Einzelwissenschaft gemeinsam in Grunderfahrungen des Seins der Natur hineinführt, die bleibend sind.

Quatember 1954, S. 14-20

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-02
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