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Kirche von Kreuz und Karfreitag?
von Gerhard Koch

LeerNicht allein von den Leiden und Verfolgungen her, die sie auf ihrem Wege von Anfang an erfahren hat, versteht sich die evangelische Kirche in besonderer Weise als die Kirche des Kreuzes, vielmehr hat sich ihr im Kreuz Jesu Christi das Tiefste und Letzte der göttlichen Offenbarung enthüllt. Im Ringen um Heilsgewißheit stieß sie durch alle Vorläufigkeiten des Institutionellen in die Mitte des Evangeliums vor, wo sich der barmherzige Gott um des von ihm fernen Menschen willen in die Kluft stellt und im Kreuzesgeschehen seine Liebe offenbart. Das Ereignis des Kreuzes als Ausdruck der vergebenden Liebe Gottes ist somit der evangelischen Kirche der Grund ihres Glaubens und ihres Hoffens geworden. Daß sie damit nicht irgendeine Linie des Neuen Testamentes, und schon gar keine nebensächliche, sondern wirklich den roten Faden gefunden und betont hat, ist unbestreitbar. Sowohl der Aufbau der Evangelien, die man ausgeführte Passionsgeschichten genannt hat, als auch der ständige Verweis der neutestamentlichen Briefe auf das Kreuz Christi bestätigen die Richtigkeit des evangelischen Ansatzes. Wer könnte denn überhören, daß der Apostel nichts anderes zu verkündigen gedachte als Christus, und zwar den gekreuzigten Christus!

LeerAber die Betonung des Kreuzes wäre noch nicht recht gewürdigt, wenn wir nur die historische Beziehung auf das Neue Testament berücksichtigten. Damit wäre noch nicht zum Ausdruck gebracht, daß mit dieser Art von Theologie die evangelische Kirche unentwegt das Ärgernis göttlicher Offenbarung enthüllt, die Gottes Weisheit unter den Menschen als Torheit erscheinen läßt und wiederum alle anmaßende menschliche Weisheit zur Torheit macht. Gibt sich Gott in dieser Weise in die Welt hinein, dann hört das Begreifen des Menschen einfach auf. So scheint seit den Tagen des Saulus bis heute dieser Weg nicht mit der „Ehre und Majestät Gottes” vereinbar zu sein. Alle vorzeitigen Ausgleichsversuche, alle Bemühungen der Religiösen, mit Gott Frieden machen zu können, werden hier von Grund auf um des eigenen und eigenwilligen göttlichen Handelns willen unmöglich gemacht. Gottes Handeln in seiner Offenbarung ist das der unbedingten Gnade, wobei Gnade nicht als Eigenschaft Gottes beschrieben wird, sondern sein geschichtliches Handeln unter den Menschen meint.

LeerDie evangelische Kirche hält somit die Stelle offen, an der Gott in seiner unbegreiflichen Weise sich zu den Menschen stellt und anders als von Menschen erwartet sein Heilswerk vollbringt. Theologie des Kreuzes ist daher nicht eine beliebige Weise, sich die Botschaft des Neuen Testamentes anzueignen; eine Weise, die zwar ihr relatives Recht unter anderen relativen beanspruchen dürfte, aber eben nur eine beliebige bleiben müßte. Theologie des Kreuzes ist vielmehr das Vorzeichen vor der Klammer, das jede Größe innerhalb der Klammer bestimmt. Die Kirche des Kreuzes bewahrt nicht nur die Eigenart der göttlichen Offenbarung, sie verhindert einen zu schnellen und friedlichen Ausgleich von Kirche und Welt, denn die so bestimmte Kirche wird mit besonderer Wachsamkeit die menschlichen Wege aus jeweiligen Nöten in irgendwelche Hoffnungen kritisch sichten müssen und kann sich nicht an dem Turmbau zu Babel beteiligen. Daraus resultiert, daß sie bereit sein muß, ecclesia pressa in der Welt zu sein. Sie läßt aber anderseits die Quelle sprudeln, an der die Müden und Verzweifelten Grund und Rettung finden.

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LeerWir können uns an drei Punkten klar machen, welche Eigenart die evangelische Kirche mit diesem eben gezeichneten Grundansatz aufweist. Da ist zuerst die Versöktluilg zu nennen. Steht die Versöhnung mit dem Kreuz in engster Verbindung, ja ist das Kreuz Ausdruck des versöhnenden Handelns Gottes, dann ist der evangelische Grundsatz keine metaphysische Spekulation. Gott hat so in der Geschichte gehandelt. Versöhnung und Kreuz treten hier nicht auseinander wie etwa Idee und Konkretisierung, vielmehr ist das Kreuz die Versöhnungstat Gottes. Damit verschwindet der Gegensatz von jenseits und Diesseits. Gott läßt sich im Diesseits der Geschichte finden. Im Handeln Gottes am Kreuz steckt bereits die Aussage, daß nicht Gott durch irgendwelche Bemühungen der Menschen versöhnt wird, sondern Gott selber versöhnt in Christo und beseitigt an diesem Ort und in dieser Person die Fremde der Welt. Es verschwindet die Rede von dein fernen Gott, die im Laufe der Geschichte nur allzu oft mit einem absoluten Wesen als Entgegensetzung der Welt verwechselt worden ist.

LeerGott schafft in der diesseitigen Wirklichkeit die Versöhnung. Er schafft sie so, daß er unter den Menschen der Welt Jesus Christus den gehorsamen Menschen sein läßt. In der Hinwendung zum Vater erfüllt Jesus das Gesetz, das ihm nicht zur höchsten Norm wird. Der repräsentative Gott „Gesetz” verdeckt ihm nicht den Vater. Erfüllung des Gesetzes ist ihm nicht Lebenssicherung gegen die andringende Bedrohung. Indem er so unter den Menschen - unter dem Gesetz und dennoch frei - lebt, hat er auch die Freiheit gegenüber den Mitmenschen; nicht die Freiheit, die sich gegen den Mitmenschen sichert, sondern die für ihn gerade frei ist. Ihn regieren nicht die Konventionen und die Anerkennung der von Menschen gezogenen Spaltungen. Er wird der Huren und Zöllner Geselle, ohne deswegen im Prinzip Antipharisäer zu werden. Er hat die Freiheit, um des Menschen willen die Grenzen zu überspringen und dem Menschen so der Nächste zu werden. Versöhnung geschieht auf keine andere Weise, als daß Gott unter den Menschen sein Ebenbild verwirklicht, auf das hin er die Menschen geschaffen hat. Gegen alles Laufen der Menschen, mit dem sie sich das Leben sichern wollen, schafft Gott in Christus in der Nachbarschaft zu Adam die Erfüllung seines Wollens mit der Welt. Darum ist das Kreuz Christi, in dem das Handeln Gottes zu seinem Abschluß kommt und in dem die falschen Bemühungen der Menschen als solche offenbar werden, Frohbotschaft, Evangelium, das Menschen erleuchten und befreien will. Denn von der Erfüllung her wird in der Welt nun hörbar: Kommet her zu mir!

LeerDamit stehen wir bei dem zweiten Punkt. Durch das barmherzige Handeln in Christo schafft Gott den Menschen Befreiung aus dem Gefängnis, in das sie in ihrer Selbstbehauptung geraten sind. Das ist der Inhalt der Rechtfertigungslehre. Der Mensch vermag sich selbst vor Gott nicht zu rechtfertigen; alle seine Bemühungen um Behauptung geschehen ja in eigenem Bemühen und damit in der Unfreiheit, weil aus Reaktion. Die Welt muß ihm darum immer wieder zur Fremde werden, die seine Existenz gefährdet, in der er daher stets bedroht sich zu sichern bemüht bleiben muß. Auch in seinem besten Teil kann er dieser Notwendigkeit nicht entrinnen. Darum ist und bleibt er der Einsame, einsam gegen Gott, weil seine Leistung ihn vor Gott ausweisen muß, einsam gegen den Mitmenschen, weil der ihn bedroht, einsam gegen die Dinge, weil sie sich als Schicksal gegen ihn wenden. Jetzt heißt es aber: Gott hat die Versöhnung gestiftet und damit dem Menschen gegen sein Laufen in Selbstbehauptung Boden unter die Füße gegeben.

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LeerRechtfertigung aus Gnaden ist die Absage gegen das falsche strebende Sichbemühen des Menschen. Sich darauf verlassen dürfen, daß Gott der gnädige Gott ist, ist die offenbarte Wahrheit. Hier kann nicht mehr die Norm ängstigen, weil Gott gegen sie den gehorsamen Erfüller Jesus Christus gesetzt hat. An Jesus Christus glauben heißt für den Gerechtfertigten, in kindlichem Vertrauen an dem barmherzigen Gott hängen. Der Christ getröstet sich in der Nähe Jesu Christi der vergebenden Liebe Gottes. Man wird nicht sagen dürfen, daß solcher Rechtfertigungsglaube zum Quietismus erziehe. Die Erwähnung des Vertrauens dürfte schon gewichtiger Grund dagegen sein; denn Vertrauen ist Existenzvollzug, der nicht ein für allemal gegeben sein kann. Sich darauf verlassen fordert vom Menschen allerdings Entscheidung, so daß er immer wieder im Ringen um Vertrauen gegen die Versuche der Selbstrechtfertigung steht.

LeerEin Zweites kommt noch hinzu. Ist der Gerechtfertigte nun nicht mehr der um sein Leben Besorgte, lebt er in der Geborgenheit in Gottes Barmherzigkeit, dann lebt er ebenfalls in der Christusfreiheit der Welt gegenüber. Diese Freiheit ist nicht ein Freisein von, sondern ein Freisein für. Freisein für die Welt, damit sie durch das Lebenszeugnis des Gerechtfertigten in ihrem falschen Laufen angehalten werde. Der Halt des Christen ist die von Gott geschenkte Gewißheit von der Wirklichkeit des Christus, die alle Wirklichkeiten der Gottwidrigkeit überwindet. Insofern verbindet sich mit dem Rechtfertigungsglauben die Zukunftsfreudigkeit der Christen, die sich nicht nur als Freude über den kommenden Herrn äußert und daher Missionsarbeit treibt, sondern eine Freudigkeit, die im Leben mit der Welt und in ihr zum Ausdruck kommt. Wird nämlich der Gegensatz von Diesseits und Jenseits zerbrochen, dann zerbricht unter der Hand der von Heilig und Profan ebenfalls und hervor tritt die echte, aus der Mitte her gekommene Weltfreudigkeit, die seit den Tagen der Reformation der Kirche vom Kreuz nie ganz verloren gegangen ist.

LeerDer dritte Punkt wurde bereits berührt. Die evangelische Kirche als Kirche vom Kreuz ist geschichtlich orientiert. Sie ist auf das Kreuz als Ereignis in der Geschichte orientiert. Das hindert sie nicht nur - wie bereits ausgeführt -, in metaphysische Spekulation zu geraten, sondern hindert sie ebenso, ihren Glauben als Mythologie mißzuverstehen. Damals unter Pontius Pilatus -, damals - an Jesus von Nazareth - hat sich Gottes Versöhnungshandeln zur Rechtfertigung des Menschen vollzogen. Die Betonung des Kreuzes ist das stärkste Bollwerk gegen jeden Versuch, den christlichen Glauben zu spiritualisieren oder ihn als eine Weise vorzustellen, sich die Wirklichkeit zu erklären. Das geschichtliche Ereignis, auf das sie bezogen ist, läßt die Kirche nicht in einer Richtung mit den Religionen stehen. Sie lebt vom geschichtlichen Handeln Gottes und betont demzufolge das einmal Geschehene. Es ist das Kreuz auf Golgatha, das Grund und Halt für alle Menschen zu allen Zeiten ist, weil es Gottes Tat ist.

LeerIn der hier gebotenen Kürze sollte die Tiefe und die Folgerichtigkeit des evangelischen Ansatzes aufgezeigt werden. Es wäre reizvoll, die hier angeführten Linien noch weiter auszuziehen und zu vervollständigen. Es muß uns hier genügen, das Kreuz Christi als die Mitte der evangelischen Theologie und als das Vorzeichen vor allen ihren Aussagen zu verstehen. Die so strukturierte Kirche hat im Chor der Kirchen und Konfessionen ihre eigene Stimme, auf die die Kirche Jesu Christi nur zu ihrem eigenen Schaden verzichten dürfte. Fehlt diese Stimme, dann besteht die Gefahr der Überwucherung durch Mythos und Magie.

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LeerIm Blick auf die evangelische Kirche der Gegenwart drängt sich nun aber die Frage auf, ob nicht die Betonung des Kreuzes, die den Karfreitag zum Höhepunkt des Kirchenjahres gemacht hat, eine Verengung bedeutet, die die Sache fragwürdig machen kann. Wir versuchen die Fragwürdigkeit genau an den drei Punkten zu skizzieren, die eben die besondere Eigenart der evangelischen Kirche hervortreten ließen.

LeerAuf die Frage nach dem Kreuz als Versöhnungstat hat man nach der Reformation mit der Aufnahme der Satisfaktionslehre Anselms von Canterbury geantwortet. Der Opfertod des Einen, der wahrer Gott und wahrer Mensch war, hat ein so unermeßliches Verdienst erworben, daß daraus die tausendfache Verschuldung des Menschengeschlechtes gesühnt werden kann. Mit diesem Ansatz ist das personale Handeln als Anruf Gottes in der Versöhnung und Antwort des Menschen in der Rechtfertigung aufgegeben. Auf der einen Seite steht nun eine Theorie, die das Gotteshandeln glaubt in einer Verrechenbarkeit erfassen zu können. Jeder Blutstropfen, auf Golgatha vergossen, tritt in seiner substantiellen Wertigkeit gegen die Vergehungen des Menschengeschlechtes.

LeerDie Versöhnungstheorie beeinträchtigt nicht nur Gottes Freiheit und verwandelt sie in eine Verfügbarkeit, sie rückt überhaupt den Versöhnung schaffenden Gott aus der Mitte. Seine Gnade ist nicht handelnde, dem Menschen sich zuwendende Gnade, sondern eine Eigenschaft Gottes. Zwischen den zu versöhnenden Gott und den Menschen tritt nun Jesus Christus als das Sühnemittel. Christus als Sühnemittel jedoch beeinträchtigt nicht allein die Personalität des Heilandes, sondern auch die des Menschen, der nun annehmen muß, daß Gehorsam Jesu als Verdienst auf ungehorsame Menschen übertragbar sein soll. So zerstört die objektive Lehre die Dynamik des personalen Handelns in der Versöhnung in die Statik der Anerkennung fordernden Theorie.

LeerWar erst einmal die eine Seite des Verhältnisses in eine Theorie umgeformt, dann mußte sich mit Notwendigkeit auch die andere Seite verändern. Die Rechtfertigung aus Gnaden als Antwort des Menschen auf Gottes Ja verwandelte sich in subjektive Gläubigkeit, die durch ihre Lebendigkeit der Theorie sichtbaren Ausdruck und Beweiskraft verleihen sollte. Selbst dort, wo die Gläubigkeit nicht in Form eines Enthusiasmus in Erscheinung trat, triumphierte die Subjektivität in der Form einer selbstgefälligen Gemeinde, die ihr Selbstverständnis von der Allgemeingültigkeit der Theorie ableitete und das lebendige Zeugnis und das Lebensopfer als Existential der Rechtfertigung nicht mehr mit vollzog. So reduzierte sich die Rechtfertigung auf einen Bewußtseinsvorgang.

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LeerAlle Schwierigkeiten jedoch verdichteten sich zur Schicksalsfrage nach der Geschichte. Hier lag die verwundbare Stelle der Kirche. Die Theorie vermochte ihre Gedankenblässe durch den Hinweis auf das Geschehen und seine biblische Dokumentierung zu verhüllen. Mochte auch der gekreuzigte Christus aus der Mitte zugunsten der Tatsache des „Kreuzes” getreten sein, solange die Schrift unzweifelbar das göttliche Dokument war, schien das ganze Gebäude einen tragfähigen Grund zu haben. Und noch immer bewies die Bindung an die Schrift die Kraft, mit der Tatsächlichkeit des Geschehens den Verdacht auf bloßen Mythos abzuweisen. Zur Schicksalsfrage aber wurde der evangelischen Theologie die historisch-kritische Forschung, die zunehmend der Kirche das gute Gefühl, auf gut verbürgte Tatsachen gegründet zu sein, entzogen hat.

LeerDie vergleichende Religionsgeschichte wies auf die Verwendung mythischen Anschauungsmaterials hin, die Quellenkritik tat das Ihre hinzu, um Fragen und Fragwürdigkeiten genug zu sichten. Wie sich Offenbarung und Geschichte, Glaube und Geschichte zueinander verhielten, in welcher Weise also das Ereignis der Vergangenheit und der Glaube der Gegenwart miteinander in Verbindung stehen, das wurde die verzweifelte Frage, die die evangelische Kirche und Theologie seit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts bis zur Stunde beunruhigt. Auch die Auseinandersetzung mit der Theologie Bultmanns ist eine Bemühung um diese Frage, die trotz der verschiedenen Lösungsversuche noch immer sich wie eine unlösbare Frage ausnimmt. Hier wird die Schwierigkeit offenkundig, die die evangelische Kirche durch die eingangs geschilderte Reduktion auf sich genommen hat.

LeerEben die Vorzüge machen nun auch die Nachteile kund, die noch viel genauer auszuführen wären. Die Frage erhebt sich, ob es eine Möglichkeit gibt, die Verengung zu durchbrechen, ohne daß damit die Vorzüge verloren gehen dürften. Ist die direkte Beziehung auf das Kreuz der Weg zur Mitte des Evangeliums, dann kann für die Kirche, will sie ihrem Auftrag treu bleiben, die Aufgabe nicht heißen, ob sie sich anders begründen wolle. Ihre Frage lautet vielmehr: auf welche Weise kann die Gegenwartsmächtigkeit des Kreuzes Jesu Christi glaubwürdig gemacht werden? Zwei Tatsachen mögen anzeigen, in welcher Richtung die Korrektur zu suchen ist.

LeerIm Neuen Testament wird eindeutig bezeugt, daß das Kreuz Jesu keinem einzigen Jünger einsichtig gewesen ist. Weder auf dem Wege nach Jerusalem, als Jesus von seinem Lebensausgang sprach, noch am Karfreitag selbst verstand auch nur einer, was sich da vollzogen hatte. Ihr Glaube brach zusammen. Es bedurfte der Selbstbezeugung des Auferstandenen, um Glauben zu erwecken. Erst der Auferstandene schuf das Kreuz als Heilsereignis. Von Ostern her fiel das Licht auf das dunkle Geschehen des Karfreitags.

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LeerEs ist aufschlußreich, Luthers Passionslieder zu studieren. Wir finden bei ihm kein ausgesprochenes Passionslied. Jedesmal, wenn er vom Kreuz Christi redete, schoß mit ein das Lied vom Siegmann gegen Tod, Teufel und Hölle und unmittelbar im Zusammenhang damit von der Teilnahme der Christen am Sieg Christi. In beiden Fällen ist die Kreuzestheologie vor dem Prinzip bewahrt geblieben durch ihre Interpretation von Ostern her. In dem Maße jedoch, wie das geschieht, wird die Kirche nicht in der Lage sein können, die Gegenwartsbedeutung des Kreuzes anders zu erhalten als durch den Versuch einer Theorie, die dann allerdings die Gefahr eines objektiv Geltenden mit sich bringt. Kreuz und Auferstehung sind wohl zwei unterschiedene Ereignisse innerhalb des Heilsgeschehens. Da sie aber an der einen Person Jesu Christi sich vollzogen haben, bilden sie eine unaufgebbare Einheit.

LeerDiese Einheit darf nicht so verstanden werden, daß das Osterereignis zur bloßen Interpretation des Kreuzes wird. In den Erscheinungen bekundet sich Christus als der von Gott eingesetzte Kyrios, der die Heilsbedeutung des Kreuzes offenbart. Zu diesem Zweck weist er auf die Nägelmale hin, die bezeugen sollen, daß kein anderer als der Gekreuzigte ihnen seine Gegenwart schenkt. Der mit Wundmalen vor den Jüngern seiende Christus erweist die Beständigkeit des barmherzigen Gottes, der durch das Kreuz Christi in der Gegenwart des erhöhten Herrn den Menschen seine Gnade zuwenden will. (Daß sich damit für die evangelische Theologie die Notwendigkeit ergibt, entschieden die Osterfrage aufzugreifen, kann hier nicht mehr ausgeführt werden. Eine falsche Ostertheologie würde die Abwanderung in die Metaphysik nur noch beschleunigen. Wird Erhöhung als Entfernung in das Jenseits interpretiert, dann ist der Weg heillos versperrt.)

LeerDas wird also die Schicksalsfrage der evangelischen Kirche und ihrer Theologie sein, ob sie in der Lage ist, diese Einheit von Kreuz und Auferstehung bewußt zu machen und so die Isolierung zu zerbrechen, die heute tatsächlich das Karfreitagsverständnis hat. In der Einheit jedoch von Kreuz und Auferstehung vermag sie die Kirche vom Kreuz zu sein, die vom gegenwärtigen und mitzeitlichen Herrn her das Kreuz als Heilsereignis bezeugen kann, ohne gezwungen zu sein, aus dem geschichtlichen Ereignis eine allgemeingültige Theorie zu machen. So, und nur so, wird die Kirche ihre eigene und eigentliche Stimme im ökumenischen Chor recht erklingen lassen, die im brüderlichen Austausch die Abirrung in die Mittel verhindert und vollmächtig Jesus Christus als die Hoffnung der Welt, nun wirklich ihn und kein Derivat, bezeugen und verkündigen kann.

Quatember 1954, S. 75-80

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-17
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