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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerIn der Dankrede, die der Gründer und Leiter des Bärenreiter-Verlages, Karl Vötterle, nach der Verleihung des theologischen Ehrendoktors in Leipzig gehalten hat, weist Vötterle am Ende auf die erstaunliche Entdeckung hin, daß ursprünglich nicht die heilige Cäcilia (nach der so viele kirchenmusikalische Vereinigungen auf dem Boden der römisch-katholischen Kirche benannt sind), sondern erstaunlicherweise Hiob Schutzpatron der Kirchenmusiker gewesen ist.

LeerDiese überraschende Erkenntnis verdanken wir einer Arbeit von Valentin Denis (Saint Job, patron des musiciens-, erschienen in Revue belge d'Archéologie et d'Histoire de l'Art; XXI, 1952, Heft 4), über die Karl Vötterle in „Musik und Kirche”, Heft 6/1953 ausführlich berichtet. Denis belegt seine These mit zahlreichen Dokumenten, vor allem aber mit einer Reihe von eindrucksvollen Abbildungen aus Gemälden, Holzschnitten, Miniaturen aus dem 15. und 16. Jahrhundert, welche Hiob mit zwei oder drei Musikanten mit Laute, Harfe, Flöte, Trompete oder Trommel zeigen. Es scheint, daß den Anlaß zu dieser Verbindung Hiobs mit den Musikern einige Bemerkungen im Buch Hiob selber gegeben haben; dort sagt Hiob (30, 31): „Meine Harfe ist eine Klage geworden und meine Flöte ein Weinen.” Daraus und aus der anderen Erwähnung (21, 12) von Musikinstrumenten glaubte man offenbar schließen zu dürfen, daß Hiob die Musik als eine der guten Gaben Gottes geschätzt und in gesunden Tagen selbst geübt habe. Wichtiger erscheint uns, daß das Wort, mit dem Hiob allen Schreckensbotschaften sein unerschütterliches Gottvertrauen entgegenstellt, „der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt” (1, 21) in der gleichen Zeit, in der jene Bilder entstanden sind, vielfältig komponiert wurde und in der Kirchenmusik eine erhebliche Rolle gespielt hat.

LeerWas bedeutet das nun, wenn nicht die liebliche und sanfte Jungfrau Cäcilia, sondern der leidende Hiob, der mit Gott ringt und der bekennt, eben in der Auswegslosigkeit und Unbegreiflichkeit seines Leidens Gott „von Angesicht zu Angesicht” erkannt zu haben, das biblische Leitbild ist, unter dem die Kirchenmusik ihren höchsten Beruf erkennen und erfüllen soll?

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LeerEs wird selten geschehen, daß man einen Sonderdruck aus einer juristischen Fachzeitschrift mit innerster Bewegung des Herzens und Gewissens liest. Anders aber vermag ich den Eindruck nicht zu beschreiben, mit dem ich den Aufsatz in mich aufgenommen habe, den Rechtsanwalt Otto Küster-Stuttgart in Nr. 1/2 (15. Januar 1954) der „Juristenzeitung” (9. Jahrgang der Deutschen Rechts-Zeitschrift und der Süddeutschen Juristenzeitung) unter der Überschrift „Poena aut satisfactio” (Strafe oder Wiedergutmachung) veröffentlicht hat. Küster geht aus von dem am 21. März 1953 (am 20. Jahrestag des „Tages von Potsdam”) in Kraft getretenen Abkommen zwischen Deutschland und dem Staat Israel über die an Israel zu leistende Genugtuung. Die Deutung dieses Begriffs „Genugtuung” aber, von Strafe, Schadensersatz und Schmerzensgeld charakteristisch unterschieden, greift in letzte Fragen unseres Rechtswesens und - unserer Theologie. Wer hätte es noch vor kurzem für möglich gehalten, daß für juristische Theorien und politische Verhaltungsweisen die letzten Begründungen in der Theologie jenes Anselm von Canterbury gesucht und gefunden werden, der mit seinem „Cur Deus Homo?” (Warum Gott Mensch geworden ist?) der Schöpfer der ganzen Theologie von dem Tode Christi als der großen, Gott geleisteten Satisfactio vicaria (stellvertretende Genugtuung) geworden ist? Meine Gedanken entfernten sich freilich, während ich den aufwühlenden Aufsatz von Küster las, von dessen unmittelbarem Anlaß und Gegenstand und suchten den Begriff der satisfactio da, wo er uns zunächst begegnete und wo er uns am unmittelbarsten angeht, im Zusammenhang der Beichte. War es notwendig, richtig und heilsam, daß wir aus der Theologie und ebenso der Praxis der Beichte den Begriff der satisfactio operis völlig verbannt haben? Ist es damit, daß wir wahrhaftig vor Gott nichts „wieder gut machen”, niemals für das, was wir verfehlt haben, „genug”tun und unsere Schuld - mea maxima culpa - durch keinerlei Sühneleistung aus der Welt schaffen oder auch nur verkleinern können, ist es damit gerechtfertigt, daß wir jeden Versuch im Keim verwerfen und abwehren, die Echtheit der Reue durch freiwillige Sühne vor uns selbst und anderen zu bestätigen und durch eine freiwillig übernommene oder auferlegte Buße ebenso dem Ernst unserer Verfehlung wie dem Ernst unseres guten Willens Genüge zu tun?

LeerWenn sich einmal Theologen und Juristen zu einem Gespräch über diese Frage zusammensetzen wollten, würden vielleicht Juristen von der Art des Herrn Küster uns Theologen darüber belehren, daß die Satisfaktions-Theologie Anselms nicht nur für unsere Wiedergutmachung an Israel, sondern selbst für unsere kirchliche Praxis eine höchst aktuelle Bedeutung hat, und daß mit unserem Widerspruch gegen die Verrechtlichung der satisfactio und gegen jede Berechnung des „Genug” noch wenig oder nichts gegen eine echte Sühneleistung gesagt ist.

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LeerVon verschiedenen Seiten bin ich mündlich und schriftlich angesprochen worden auf die Äußerungen des hamburgischen Jugendpfarrers Dr. Hans-Otto Wölber zu den Fragen der Beziehungen der Geschlechter. Alle diese Anfragen waren ausgelöst durch Pressenachrichten (in der „Welt”), die in zum Teil sehr sensationeller Aufmachung ( „Liebe nicht mehr heikel”, „Hamburger Geistlicher spricht offen mit jungen Menschen”) von der „Wendung” der Evangelischen Kirche in der Behandlung sexualpädagogischer Fragen berichteten. Ich habe es für richtig gehalten, Pastor Dr. Wölber nach seiner eigenen Stellung zu diesen Presseberichten zu fragen. Seine Antwort scheint mir zu bestätigen, daß hier wieder einmal die Journalistik ihrer spezifischen Versuchung erlegen ist, aus dem sachlich Erregenden eine ganz überflüssige Aufregung und aus ehrlichen Antworten auf ernsthafte Fragen eine Sensation zu machen. (Grund genug, nicht alles zu glauben, was journalistische Interviews als angebliche Äußerungen weitergeben.)

LeerIn der Sache ist es dem Hamburger Jugendpastor offenbar darum gegangen, deutlich zu machen, daß die rechtliche Legitimation des geschlechtlichen Lebens mißverstanden werden muß, solange die christliche Botschaft durch die griechische Aufspaltung des Menschen in Natur und Geist vorbelastet und dann die Unterwerfung der geschlechtlich triebhaften Kräfte zum Kernpunkt der persönlichen Glaubensentscheidung gemacht wird. „Die Menschen sind heute unfähig, den gesamtmenschlichen Auftrag nach Leib, Seele und Geist wahrzunehmen und zu erfüllen.” Genau dieses habe ich als den Grundgedanken aus dem umfangreichen Buch von Dr. Fritz Leist „Liebe und Geschlecht” herausgelesen, und ich glaube mit beiden, daß diese Bestimmung des Menschen zur Ganzheit in der Begegnung (und Partnerschaft) nicht durch eine einseitig moralische Wertung oder Abwertung der leiblichen Seite unseres Lebens verfälscht werden darf.

LeerEs ist nicht jedermanns Sache, sich mit den Fragen der Geschlechtlichkeit literarisch zu beschäftigen. Wer, sei es um seiner selbst willen oder um seiner erzieherischen Verantwortung willen, sich selbst einen Eindruck davon verschaffen will, welche neuen Wege der Sexualerziehung heute gesucht und beschritten werden, sei darauf hingewiesen, daß P. Dr. Wölber seine Gedanken in zwei Aufsätzen entwickelt hat, die in dem Informationsblatt für die Gemeinden in den Niederdeutschen Lutherischen Landeskirchen (II 1953, Nr. 10 und Nr. 20) erschienen sind, und vor allem auf die Studienblätter für evangelische Jugendführung „Die Erziehung der Geschlechter”, die Anfang April erscheinen werden.

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LeerIn Braunschweig gibt es eine Kirche, die als ehemalige Franziskanerkirche die „Brüdern-Kirche” heißt. Dort wird ein hochkirchlicher Gottesdienst nach der reichen Ordnung der Messe mit liturgischem Gesang, mit Gewändern, Kerzen, ewigem Licht und Weihrauch gepflegt. Es kann nicht ausbleiben, daß das, was in „Brüdern” geschieht, weit über den Bereich der Braunschweigischen Landeskirche hinaus die Gemüter in heftigen Gegensätzen bewegt. Während die einen mit großer Dankbarkeit bekennen, in Brüdern eine kirchliche und gottesdienstliche Heimat gefunden zu haben, die sie bisher in protestantischen Gottesdiensten schmerzlich vermißt haben, regen sich andere um so mehr darüber auf, daß dort so vieles geschieht, was der protestantischen Überlieferung fremd ist und als „katholisch” erscheint. „Brüdern” hat in einer weit verbreiteten Broschüre eine „Apologie oder Verteidigung” gegeben, die ganz auf den Nachweis gerichtet ist, daß alles streng an das „Bekenntnis” gebunden sei, wie es in den Bekenntnisschriften der Lutherischen Kirche seinen verbindlichen Ausdruck gefunden hat. Ich habe keine Veranlassung, mich als Anwalt oder Verteidiger von „Brüdern” aufzuspielen, und die streng konfessionelle, um nicht zu sagen konfessionalistische Gebundenheit, auf die Brüdern in seiner Verteidigung entscheidenden Wert legt, ist eher geeignet, meine Bedenken zu vermehren als zu zerstreuen. Aber nun bereitet die Landeskirche ein Gesetz vor, durch das bestimmte Dinge, die als besonders anstößig empfunden werden, verboten werden sollen; und dieses scheint mir nun allerdings schwer erträglich. Was ist das für ein merkwürdiger Zustand: eine Kirche, die durch Jahrzehnte hindurch und bis zum heutigen Tage jegliche Formen der Auflösung, der Willkür, der Säkularisation, die betonte Formlosigkeit und die Entleerung und Verfälschung christlicher Wahrheit ertragen, geduldet und wenn möglich noch als einen Erweis „evangelischer Freiheit” gerechtfertigt hat, ruft plötzlich nach gesetzlichem Zwang, wenn in der Freude an Schönheit und Reichtum des Gottesdienstes und an tiefsinnigen Symbolen Dinge wieder hervorgeholt werden, die nach der Meinung der Reformatoren zwar keineswegs notwendig, am wenigsten heilsnotwendig sind, aber eben zu jenen „Mitteldingen” (Adiaphora) gehören, in denen eine gewisse Verschiedenheit durchaus möglich ist. Es gibt wahrhaftig Dinge, die viel näher an der Mitte christlichen Gottesdienstes sind, als Weihrauch, Kerzen, Gewänder es sein können, aber eben darum auch Dinge, wo es viel dringlicher ist, offenbare Unklarheiten in der Sache, theologische Willkür, Mißbräuche in der Form durch eine bessere Erziehung der Pfarrer und der Gemeinde, durch strengere Verpflichtung usw. zu überwinden und die Kirche zu reinigen. Ein solches Gesetz bedeutet, daß die antikatholisch-protestantischen Affekte des Kirchenvolkes in der Kirche der Reformation eine stärker wirkende Verpflichtung bedeuten als die Fülle der Heiligen Schrift.

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LeerKomisch, um nicht zu sagen lächerlich, aber wird dieser gegen „Brüdern” erwachte Eifer dadurch, daß all die Dinge, die hier oder anderswo als katholisch verboten werden sollen, in der Sprache unserer Lieder und der Liturgie ihr unbestrittenes Heimatrecht in der Kirche haben. Man liest zwar „Ich beuge mein Knie vor dem Vater unseres Herrn Jesu Christi”, aber wirklich und leibhaftig knieen darf (und kann) man in der evangelischen Kirche nicht; man singt zwar „macht eure Lampen fertig”, aber man darf keine Lampe bereiten, die als das Sinnbild des immerwährenden Gebets und der Wachbereitschaft in der Kirche brennt {eine solche „ewige Lampe” brannte übrigens noch zu meiner Zeit in St. Sebald in Nürnberg unangefochten vor einem der vielen Altäre!); man singt zwar „nimm den Weihrauch des Gebets” oder in der Vesper „Mein Gebet soll vor Dir taugen wie ein Rauchopfer, meiner Hände Aufheben wie ein Abendopfer”, aber man darf weder beim Gebet die Hände aufheben (wie es 1. Tim. 2, als urchristliche Sitte vorausgesetzt ist) noch den Weihrauch gebrauchen (wie es in manchen evangelischen Kirchen bis in das 20. Jahrhundert hinein üblich gewesen ist). Man darf nur noch sagen, man tue etwas, aber man darf es nicht wirklich vollziehen; man darf alles nur noch „symbolisch” verstehen, man darf das Sinnbild nur noch sprachlich, aber nicht leibhaft gebrauchen. Statt darüber zu wachen, daß unserer kirchlichen Sprache die sinnenhafte Fülle leibhafter Anschauung nicht fehle, wacht man eifersüchtig darüber, daß sich die spiritualistische Entleerung unserer bildhaften Worte zur bloßen Metapher ohne realen Hintergrund doch ja vollende! Ist das nicht eine verdrehte Welt?

[Internetseite über die Brüderkirche]

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LeerEs gibt Leute, die es übel nehmen und sich heftig beklagen, wenn sie zu irgend welchen Veranstaltungen nicht eingeladen und nicht zugezogen werden; sie meinen, sie hätten einen Anspruch darauf, überall dabei zu sein, und können nicht einsehen, daß es auch in der Kirche Jesu Christi engere Kreise geben darf, die nicht für jedermann ohne weiteres ihre Pforten öffnen können, daß engere Arbeitskreise, Pfarrer oder andere Träger irgend eines Amtes, Glieder einer Bruderschaft (oder was sonst einen solchen inneren Kreis zusammenführen und bilden mag) um ihres Auftrags willen einmal unter sich, ohne Gäste (vielleicht auch ohne ihre eigenen Frauen) zusammen sein wollen. Vielleicht sollte ich in QUATEMBER einmal über das Gesetz der „konzentrischen Kreise” als ein Lebensgesetz der christlichen Kirche schreiben. Dieses Gesetz wohnt der christlichen Kirche von Anfang an inne, und es ist ihr herzlich schlecht bekommen, wenn sie dieses Gesetz außer Acht gelassen und ihm entgegen gehandelt hat. Man stelle sich einmal vor, daß irgend ein Mann oder eine Frau aus dem Kreis der 70, die der Herr (nach Luk. 10, l ff.) ausgesondert hat, sich bei dem Herrn Jesus darüber beschwert hätte, daß er nicht in den Kreis der Zwölf berufen worden wäre, oder daß Philippus oder Thomas oder Andreas beleidigt gewesen wären, weil sie nicht auf den Berg der Verklärung mitgenommen waren, wo es doch „so interessant” war! Aber bei manchen heutigen Christen könnte man diese Art von Beleidigtsein durchaus feststellen. - Sind wir schon so weit von dem Gift der Gleichmacherei - auch im Raum der Kirche und des geistlichen Lebens! - durchdrungen, daß wir bestimmte einfache Lebensgesetze nicht mehr verstehen?

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LeerEin Leser macht mich auf ein Beispiel falschen Sprachgebrauchs aufmerksam, das nach seiner Meinung auch unter den Begriff „Neubabylon” gehört. „Ich habe mich von Anfang an, als er im „Kirchenkampf” aufkam und Mode wurde, über den Ausdruck „Bibelarbeit” geärgert. Es könnte sich als ein witziger Einfall empfehlen, das, was man früher schlicht und einfach nur Bibelstunde nannte, durch die Bezeichnung „Bibelarbeit” mit etwas von dem aus dem weltlichen Zeitgeist geborgten Glanz der „Arbeit” zu zieren. Aber man würde doch auch nicht den Eifer, mit dem eine Karawane alten Stils nach längerer Wüstenwanderung verdurstet an der endlich gefundenen Oase sich daran macht, die köstliche Gelegenheit auszunützen, als „Wasserarbeit” bezeichnen. Das bißchen Arbeit ist bei dieser Situation doch ganz unwesentlich, die Hauptsache ist doch dies, daß es Wasser gibt, mit dem man den lechzenden Durst löschen kann. Sollte es nicht in einer gesegneten Bibelstunde so ähnlich sein? . .. Was ist Arbeit im biblischen Sinn? Könnte man zu einem Pfarrer sagen: Im Schweiß deines Angesichtes sollst du deine Bibelarbeit vorbereiten, oder zu der versammelten Gemeinde: Im Schweiß eures Angesichtes sollt ihr bei der Auslegung des Bibeltextes mitarbeiten?” - Das scheint mir nun nicht richtig zu sein, und ich möchte das Wort „Bibelarbeit” nicht in das Lexikon des neubabylonischen Dialekts übernehmen. Es ist mit der Bibel nicht so einfach, wie die Kamele in der Oase ihren Durst löschen können; da ist schon wirklich Mühe und Arbeit um das rechte Verstehen, und das ist es ja gerade, daß wir unsere Gemeindeglieder einladen, teilzunehmen an der geduldigen Plage, die wir Prediger uns mit der Auslegung der Bibeltexte machen und machen müssen. Aber vielleicht sollten wir in der Tat das gute Wort „Bibelstunde” (Stunde der Bibel!) nicht seinem rein erbaulichen Gebrauch überlassen. Man muß sich weder nach Kanaan noch nach Babylon verlaufen, wenn man unbefangen von Bibelstunde oder Bibelarbeit redet.

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LeerEine Mutter schreibt mir: „Nun ‚testet’ man unsere kleinen Kinder spielerisch schon im Kindergarten, und die Aufnahme in die höhere Schule wird von den Resultaten dieser Methode abhängig gemacht. Das ist mir unheimlich!”

LeerDas ist in der Tat eine höchst unheimliche Sache, eines der vielen erschreckenden Beispiele dafür, daß man die durch liebenden Umgang gewonnene Erkenntnis und Einsicht durch „exakte” und meßbare Beobachtungen und die verantwortliche Entscheidung durch Auszählen von Punkten ersetzen will. Welcher unheimlich weite Weg in der Bedeutungsgeschichte des Wortes  t e s t i s , das mit persönlichem Zeugnis und leibhafter Zeugung, also jedenfalls mit wagendem Leben etwas zu tun hat, bis zu diesem rationellen „Test”-Verfahren, das den Menschen als Roboter taxiert. Aber ich muß es jemandem, der diese Dinge aus größerer Nähe kennt, überlassen, uns an Beispielen deutlich zu machen, warum jener Mutter - wie ich glaube, mit sehr gutem Recht - dieses Testen von der Wiege bis zur Bahre unheimlich ist. Ist es nicht ein Trost, daß wir im jüngsten Gericht eben nicht getestet werden?

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LeerVor einiger Zeit stellte nach dem Bericht einer katholischen Kirchenzeitung in der Quarta einer höheren Schule ein Studienrat seinen Schülern die Frage: „Was erwarte ich von meinen Eltern?” zur schriftlichen Beantwortung. Er versprach, die Antworten vertraulich zu behandeln. Das Ergebnis lautete, in der Reihenfolge der Häufigkeit der einzelnen Antworten wiedergegeben, folgendermaßen: 1. Eltern sollen sich niemals in Gegenwart ihrer Kinder streiten. - 2. Sie sollen ein Kind so lieb haben wie das andere. - 3. Nie sollen sie ihre Kinder belügen. - 4. Sie sollen darum besorgt sein, daß ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen ihnen und den Kindern besteht. - 5. Unsere eingeladenen Gäste sollen sie genau so behandeln, wie sie es mit den Ihren tun. - 6. Unsere Fragen sollen sie klar und eindeutig beantworten. - 7. Sie sollen uns nie ungerecht behandeln. - 8. Sie sollen uns nie in Gegenwart von Nachbarskindern strafen oder in deren Beisein tadeln. - 9. Sie sollen uns nicht immer wieder unsere Fehler vorhalten. - 10. Sie sollen darum besorgt sein, daß sie nicht zu oft schlechter Laune sind.

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LeerAus meiner Briefmappe:

Leer„Sie beklagen sich, daß Sie auf Ihre Anfrage keine Antwort bekommen haben. Ich muß leider Ihnen selbst die Schuld geben, da Sie versäumt haben, auf Ihrem Brief Ihre Anschrift mitzuteilen. Vielleicht war sie auf dem Briefumschlag vermerkt. Viele Briefschreiber scheinen sich nicht klar zu machen, daß die Angabe des Absenders auf dem Briefumschlag eine Mitteilung für die Post, nicht für den Empfänger ist, und ich müßte es als eine unverdiente Schmeichelei zurückweisen, wenn Sie mir zutrauten, daß ich die Anschriften aller derer, die mir Briefe schreiben, auswendig weiß; ebenso wenig habe ich Zeit oder Neigung, wenn ich einen Brief beantworte, erst im Keller oder wo sonst zu suchen, ob vielleicht in dem gestrigen oder vorgestrigen Inhalt meines Papierkorbes die fehlende Anschrift noch zu finden ist. Vielleicht haben Sie diesen Zusammenhang geahnt und deswegen Ihrer Beschwerde vorsichtshalber Ihre Anschrift beigefügt, darum bekommen Sie auch sofort Antwort, allerdings mit dieser nötigen Einleitung. . .”

Leer„Würden Sie die große Güte haben, mir den Namen des Herrn (oder ist es eine Dame?), wohin ich das erbetene Blatt schicken soll, noch einmal so deutlich zu schreiben, daß ich ihn mit Sicherheit lesen kann? Sie kennen den Namen, ich nicht, und weil es die meisten Menschen mit Recht als einen Mangel an Höflichkeit empfinden, wenn man ihren Namen falsch schreibt, so frage ich lieber nochmals an. Wenn sich diese Mehrarbeit vermeiden ließe, wäre es mir freilich noch lieber.”

Leer„Beiliegend übersende ich Ihnen den erbetenen Unkostenbeitrag für den. . . Bericht. In der Überzeugung, daß wahrscheinlich der eine oder andere Empfänger dieses zu tun vergißt, lege ich Ihnen den doppelten Betrag ein.”

Quatember 1954, S. 119-124

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-02
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