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Grenzen des Paulinismus
von Hans Grünewald

LeerDer Apostel Paulus ist mehr oder weniger der biblische Kronzeuge der Reformatoren geworden. Luther hat dafür das Beispiel gegeben: „Sanct Paulus Epistel, sonderlich die zu den Römern, Galatern, Ephesern, und Sanct Petrus erste Epistel, das sind die Bücher, die dir Christum zeigen, und alles lehren, das dir zu wissen not und selig ist... Darum ist Sanct Jacobs Epistel eine recht stroherne Epistel gegen sie” (Deutsche Bibel). So sehr ist Luther in der Bevorzugung des Paulus vorangegangen, daß die schon um das Jahr 1523 in Holland erschienene und wahrscheinlich noch im gleichen Jahr ins Französische übersetzte „Summa der heiligen Schrift” 111mal Paulus einschließlich Hebräerbrief zitiert bei 37 Zitaten aus dem Alten Testament, nur 34 aus dem johanneischen Schrifttum und 70 aus den übrigen Teilen des Neuen Testaments.

LeerNicht genug damit, daß der Reformator vom Anfang bis zum Ende seiner Wirksamkeit eine besondere Vorliebe für Paulus an den Tag legt und den Jakobusbrief ablehnt, trifft er sogar unter den Paulusbriefen noch einmal eine Auswahl. Der Römer- und Galaterbrief finden nicht allein sein besonderes Wohlgefallen, sondern auch das der meisten reformatorischen Theologen. Dabei geht es wahrhaftig nicht darum, daß auch der Epheser-, daß auch der Kolosserbrief zitiert werden, sondern darum, daß die besondere Verkündigung des Epheser- und Kolosserbriefs nicht zur Geltung kommt.

LeerDiese Vernachlässigung hat zwei hier interessierende Tatsachen zur Folge: Einmal wird schon durch die Ausklammerung dieser beiden Paulusbriefe nicht die ganze paulinische Botschaft wiedergegeben. Es wird wohl kaum einen ernstzunehmenden Kenner des Neuen Testaments geben, der meint, die Botschaft dieser beiden Briefe gebe nur in etwas anderer Form diejenige der anderen Paulusbriefe wieder. Gerade der Epheser- und Kolosserbrief handeln davon, wie die ganze Schöpfung durch die wirkenden Kräfte des Erlösers ergriffen, von ihm durchdrungen und ins Neue geformt ist (Eph. 1, 3-11; Kol. 1, 13-20). Der Begriff der Kirche wächst in den der neuen Schöpfung hinein. Der verherrlichte Christus ist dem Weltall inne und trägt es, umformend, dem Vater zu. Hier ist von Christus die Rede, dessen Gestalt über alle Grenzen hinausgewachsen ist. Weit wie die Welt, nein, weit über alle Welt hinaus ist sie geworden. Eine alles durchwirkende Bildemacht ist in ihr. Aller Sinn liegt in ihr. Vor aller Zeit steht sie, uranfänglich. So wird es zusammen mit dem Prolog des Johannesevangeliums möglich, die Schöpfung, aber auch die Geschichte einzubauen.

LeerDie Vernachlässigung dieser paulinischen und johanneischen Botschaft hatte zur Folge, daß der Protestantismus gegenüber der anthroposophischen Konzeption vom sogenannten kosmischen Christus zunächst hilflos war, aber auch nicht fähig war, dem Schöpfungsgedanken vollkommen gerecht zu werden. Gogarten scheint hier einen Weg beschriften zu haben, auf dem reformatorische Theologie noch eine gewaltige Aufgabe zu bewältigen haben wird.

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LeerZweitens dürfte infolge der Ausklammerung des Epheser- und Kolosserbriefs die Vernachlässigung des Johannes-Evangeliums noch verständlicher werden. Denn ein Vergleich der entscheidenden Gedankengänge und tragenden Ausdrücke wie Leben, Licht usw. dieses Evangeliums mit denjenigen des Epheser- und Kolosserbriefs ergibt eine merkwürdige Übereinstimmung, die sich daraus erklärt, daß Johannes wie Paulus sich in Kleinasien mit gnostischen Strömungen auseinandersetzen mußte und beachtenswerterweise fast in der gleichen Form darauf antwortet.

LeerDas Johannes-Evangelium tritt nicht nur unter dem Einfluß des reformatorischen Paulinismus ziemlich in den Hintergrund. Noch liegt die Zeit nicht weit zurück, da dem vierten Evangelium innerhalb der kirchlichen Verkündigung mit Bewußtsein und Absicht der vierte und letzte Platz zugewiesen war. Recht einsam und als Fremdling schritt infolgedessen der Evangelist Johannes vielerorts durch die Jahrhunderte. Und als dann die Quäker sein Evangelium zur Verteidigung ihrer Lehre vom „inneren Licht” in Anspruch zu nehmen versuchten, war die reformatorische Verkündigung und Theologie keiner rechten Antwort fähig. Dieses Evangelium redete vielen zu mystisch. Die Furcht, im Urteil der Menschen als unzeitgemäß dazustehen, war immer wieder größer als die Furcht, im Urteil Gottes unbiblisch zu denken und zu bekennen.

LeerLuther liebte den Römerbrief so sehr, daß er ihn als die Zusammenfassung des ganzen Evangeliums ansah. Die Bedeutung gerade dieses Paulusbriefs für das Werden des Reformators und die Erfassung seines nur zu berechtigten Erneuerungswillens ist bekannt. Mit Berufung auf diesen Brief verkündigte Luther seine Lehre von der Rechtfertigung und von der Zurechnung der außerhalb des Menschen liegenden Gerechtigkeit Christi. Die Gerechtsprechung des Menschen durch Gott wird nahe an die Sündenvergebung gerückt. Denn die Vorstellung von der innigsten Verbundenheit Christi und seiner Gläubigen bleibt auch nach der entscheidenden Umwandlung der Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glaube und Gnade insofern gewahrt, als nun der Gedanke an Christus als Haupt, König und Führer seiner Gläubigen in sein Recht tritt. Wie nach dem von Luther mit Vorliebe gebrauchten Bilde die Henne schützend ihre Flügel über ihre Brut breitet, so bringt es die Gemeinschaft Christi und seiner Gläubigen mit sich, daß die Gerechtigkeit Christi nun auch seinen Gläubigen zugerechnet wird. Gott sieht von nun an nicht über die Sünden der Glaubenden hinweg, sondern überträgt sein Urteil über Christus auch auf den Glaubenden.

LeerDamit, daß Luther die Gerechtigkeit Christi außerhalb des Menschen verlegt, sieht er den Menschen Gott derart gegenübergestellt, wie Menschen einander gegenüberstehen oder beisammensitzen. Diese die allgemeine Überzeugung der damaligen Zeit nicht nur innerhalb der Kirche und der Christenheit wiedergebende Auffassung hatte zur Folge, daß an die Stelle des „Christus in uns” der „Christus für uns” trat. Unter dem Zeichen des „Christus in uns” steht noch ganz entschieden die erste Psalmvorlesung Luthers. Die Einwirkung durch das göttliche Wort faßt Luther hier als eine unmittelbare Beeinflussung durch das „innere Wort Gottes”, das im Innern, im Herzen des Menschen zu diesem spricht und als Wechselbegriff für Christus auftritt. Dieses innere Wort ist Christus. Durch dieses Wort wird der Mensch gerechtfertigt. Das gepredigte Wort wird zu einer eigentlich unwesentlichen Umhüllung des Einströmens des göttlichen Willens in die menschliche Seele. Man hat behauptet, das sei mystisch gedacht. Mit welchem Recht, kann hier nicht betrachtet werden. Zur Vorsicht einer einseitig mystischen Deutung gegenüber mahnt die Tatsache, daß bereits Augustinus, der Kronzeuge Luthers unter den frühchristlichen Schriftstellern, und sogar Thomas von Aquino mehr oder weniger die gleiche Auffassung vertreten.

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LeerSei dem wie auch immer, die Auffassung des „Christus in uns” ist der reformatorischen wie aber auch der katholischen Theologie fremd geworden. Nicht weil sie mystisch war, sondern weil die reformatorische Rechtfertigungs-, besonders die reformatorische Zurechnungslehre aus inneren Gründen zu dem „Christus für uns” hin- und von dem „Christus in uns” wegführen mußte. Gott, Christus werden außerhalb des Menschen gesehen, als wären sie Wesen wie die Menschen und die übrigen geschaffenen Dinge auch. Unter dem Einfluß der nur noch in Raum und Zeit denkenden Geistigkeit war Gott lediglich zu einem Gegenüber des Menschen geworden. Infolgedessen nehmen alle Diskussionen, um zur Frage zu gelangen, wieviel Gott oder dem Menschen an Wirkraum und Leistung zukomme, die göttliche und die menschliche Initiative zu sehr als gesonderte Momente und Wirklichkeiten. Das ist ein Vorwurf, den wir heute der reformatorischen, aber auch der katholischen Theologie und Verkündigung dieser Zeit machen müssen. Der damaligen Zeit fehlte das „Organ”, um den Tatbestand des „Christus in uns” - so weit möglich - intellektuell und erlebnismäßig aufzunehmen, und erst recht das wissenschaftliche Rüstzeug, um diesem Tatbestand das ihm gebührende sprachliche Gewand bereiten zu können.

LeerDie Formel der spätmittelalterlichen katholischen Konzeption ist im Grunde sehr einfach. Ein Bild mechanischer Art sollte das geheimnisvolle Ineinander und Miteinander von Gott und Mensch, von Christus und Jünger veranschaulichen. Es erinnert an das, was man später in der Physik das „Parallelogramm der Kräfte” nannte. Danach ziehen Gott und Mensch, jeder auf seiner Seite das Schifflein oder den Wagen des menschlichen Geschicks wie zwei nebeneinander herlaufende Pferde. Soweit der Mensch zieht, ist es nicht Gott, der auch zieht. Und umgekehrt. Das an der heiligen Schrift ausgerichtete Denken verwirft daran vor allem die vollkommene Gleichstellung von Gott und Mensch; diese beiden werden als völlig gleichwertige Kräfte im Nebeneinander aufgefaßt, so daß der eine tut, was der andere nicht tut. Hier ist wirklich der Himmel auf die Erde herniedergeholt, nicht aber, um den Menschen mit (seinem Herr-) Gott in und durch den menschgewordenen Christus wieder zu vereinen, sondern ihn zu vergöttlichen. Hier schon ist der Mensch auf dem besten Wege, Gott zu werden.

LeerDiese Theologie verkündigt einen Widerstreit von Gnade und Freiheit, von göttlichem und menschlichem Handeln, gegen den die Reformatoren sich erhoben. Der Katholizismus löste diesen Widerstreit damals im entgegengesetzten Sinne des Protestantismus. Er suchte die Freiheit und das Handeln des Menschen auf Kosten der göttlichen Erhabenheit und Souveränität zu retten. Die reformatorische Theologie der reinen Gnade ist dagegen eine solche der Gnade ohne Freiheit und verantwortliches Handeln des Menschen.

LeerBeide Formen setzen die gleiche Struktur des Verhältnisses von Gott und Mensch voraus; das Gegenüber, das Nebeneinander. Sie unterscheiden sich aber darin, daß die katholische Theologie zu sehr auf den Menschen, die reformatorische zu sehr auf Gott schaut. Beide kennen nur den „Christus für uns”. Gewiß lasen sie auch in der Schrift von dem „Christus in uns”. Aber sie besaßen beide nicht die geistige Spannkraft und Spannweite, die Gedankengänge des Paulus von dem „Christus in uns” und dem „Christus für uns” zusammenzubinden. Die Ablehnung des spätmittelalterlichen katholischen Standpunktes ist durchaus berechtigt. Aber es fragt sich doch, ob nicht mit diesem ausschließlichen „Christus für uns” ein wesentlicher Bestandteil nicht allein der neutestamentlichen Verkündigung einer Gefahr der Ausklammerung ausgeliefert wurde.

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LeerDurch den „Christus in uns”, der bei Paulus und Johannes nur unter Berücksichtigung des „Wir in Christus” verständlich wird, ist der geistlich-wirkende Christus in einem solchen Zustande, daß er zu einer lebendigen Sphäre wird, in welcher der Mensch glaubend existiert, daß er zu einer jedem geschaffenen Sein gegenüber innerlichen Macht wird, die, ohne dessen Geschlossenheit und Würde anzutasten, in den Menschen, in sein Herz eingehen, in ihm sein, wirken, leben kann. Von hier aus wird der zunächst mehr auf das Gegenüber und Nebeneinander von Subjekt und Objekt hin zu deutende Nachfolgebegriff nicht isoliert werden dürfen. Von dem paulinischen und johanneischen „Christus in uns” und „Wir in Christus” her schließt diese Nachfolge der synoptischen Evangelien doch noch etwas Anderes, Tieferes ein, was die reformatorische Theologie bis auf den heutigen Tag meist übersieht, nämlich daß aus dem Gegenüber in und durch Christus ein In- und Miteinander, aus dem Anhangen (adhaerere) ein Ineinanderhangen (inhaerere), aus der Nachfolge ein Mittvollzug wird, wie er dem paulinischen Bild von der Kirche als „Leib Christi”, dem johanneischen Gleichnis vom Weinstock und den Rebzweigen, den verschiedenen Gleichnissen auch der synoptischen Evangelien z. B. dem von den anvertrauten Pfunden zu entnehmen ist.

LeerPaulus erfährt die Wirklichkeit Christi im Damaskuserlebnis: daß er, den die Machthaber für tot und beseitigt halten, in geheimnisvoller Weise lebt; daß er von Gott bestätigt ist, Herrschaft und Herrlichkeit hat. Paulus öffnet sich dieser Offenbarung und glaubt. Darin geht mit ihm selbst etwas Umstürzendes vor sich: er erfährt die Möglichkeit des Gut-, Gerecht- und Heiligwerdens, einer letzten Sinnerfüllung und Freiheit, die es von der Erde her und aus eigenen Kräften nicht gibt. Das aber nicht so, daß ihm ein neues ethisches Ideal aufginge oder ein bis dahin unbekannter Weg religiöser Selbsterziehung deutlich würde, sondern in Christus tritt der lebendige Gott an ihn heran und nimmt ihn in sein Handeln auf. Nun steht Paulus in einem ganz neuen Lebensbezug, in jenem, den er durch die immer wiederkehrenden Formeln ausdrückt „Christus in uns - Wir in Christus”. Das bedeutet nicht, daß er aufhörte, sich selbst zu bemühen. Seine Briefe beweisen klar und deutlich das Gegenteil. Die ganze Kraft seines mächtigen Wollens und Erlebens kommt nun überhaupt erst richtig zur Wirkung, aber in einer anderen Weise als vorher. Es geschieht aus „Glauben”; so, daß er dem in Christus herkommenden Gott vertraut, ihm Raum gibt, sich von ihm formen läßt.

LeerDas Gott wohlgefallende Handeln des Menschen ist weder eine Ursache, die der Rechtfertigung vorangeht und sie bewirkt, noch auch deren Wirkung, sondern ein innerhalb des Seins in Christus durch Gottes Wort und Geist gewirkter Moment, kein „Vorher” und kein „Nachher”, aber ein „Zugleich”, das mit unserem Ursächlichkeits- und Zeitdenken nicht zu fassen ist.

LeerDie Formel „Wir in Christus” bezeichnet den Tatbestand, daß der Christ unter dem Einfluß Christi steht, von ihm Leben und Bewegung empfängt und so in gewisser Weise in seinem Namen handelt, so daß dieses Handeln ihm zugehört und sich in der Wirklichkeitssphäre, die er belebt, oder, wie man auch sagen könnte, in seinem „Leib” vollzieht. Was die entsprechende Formulierung „Christus in uns” betrifft, so meint sie, daß Christus in uns ist als das Leben, als das Prinzip unseres Handelns. Sie ist der grundlegende Ausdruck jener paulinischen Konzeption vom christlichen Leben, das darin besteht, Christus nachzuahmen, Christus abzubilden, in sich die Gesinnung Christi, die Denkungsart Christi zu haben und schließlich in Christus sich und sein Leben gestalten zu lassen.

LeerDie beiden Formulierungen drücken im Grunde die gleiche Wirklichkeit aus: das, was der Christ als Christ tut, ist ein Handeln Christi, weil der Christ ein Glied Christi ist. Deshalb auch das solidarische „Wir”, das uns schon im „Vater-Unser” begegnet, ein Wir, das sich nicht allein aus der personellen Gemeinschaft Christi und des an ihn Glaubenden ergibt, sondern zugleich alle an Christus Glaubenden untereinander zu einem gewaltigen, Raum und Zeit übergreifenden Organismus verbindet.

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LeerDas Betonen des Einzelnen und des Ichs und der Verlust des Bewußtseins um den angedeuteten Mitvollzug führten zu einer moralischen Auffassung des Gewissens, wobei vollkommen übersehen wird, daß „Gewissen” bei den deutschen Mystikern, wo dieses Wort zuerst auftritt, als Übersetzung des griechischen Substantivs „Syneidesls” und des lateinischen „conscientia” erscheint, d.h. in beiden Sprachen als ein „Mitwissen”, als ein „Zusammenwissen” angesehen wird. Es liegt darin etwas ganz Besonderes, nämlich ein Mitwissen des Menschen zuerst und vor allem mit Gott, gegeben in dem und durch den menschgewordenen, aber bereits verherrlichten Christus, ein Mitwissen, ein Zusammenwissen, das nicht ein solches im theoretischen, intellektuellen Sinne ist, sondern sich darauf bezieht, daß ich aus der ganz innigen personellen Liebesgemeinschaft dieses soeben kurz charakterisierten Wir weiß, wie ich meinem Gott diene, wie Christus ihm gedient hat; daß ich meinen Nächsten so liebe, wie Christus ihn geliebt hat. Dieses „So-Wie” bleibt aber nicht im Gegenüber von Vorbild und Nachfolge, sondern stellt den Christen in ein ganz lebendiges „Mit” und „In” hinein. Mit Christus sterben, mit Christus auferstehen, mit Christus verherrlicht werden, mit Christus im Himmel herrschen. Alle diese Wendungen bei Paulus wollen sich nicht nur auf das beziehen, was Christus in der Vergangenheit einmal für alle Menschen getan hat oder am Ende der Tage noch tun wird, sondern auch auf die Gegenwart, die dem Christen in seinem Hier und Jetzt allein nur gegeben ist. Und gerade diesen entscheidenden Punkt faßt Paulus in den Wendungen „Christus in uns - Wir in Christus”. Wir verstehen nun eher, in welchem Ausmaß der reformatorische Paulinismus im Verzicht auf diesen „Christus in uns” die paulinische Botschaft einengte.

LeerMan kann heute kaum noch verstehen, wie eine solche Einengung möglich war. Noch mehr muß man sich wundern, daß bereits im Jahre 1892 der protestantische Theologe Adolf Deißmann auf die Bedeutung des „Christus in uns” und des „Wir in Christus” hingewiesen hatte. Und trotzdem stehen Theologie und Verkündigung noch fast durchgehend auf dem alten reformatorischen Standpunkt des einseitigen „Christus für uns”. Warum nur? Wahrscheinlich aus dem Grunde, weil manche Konsequenzen der biblischen, besonders der paulinischen und johanneischen Verkündigung katholisch anmuten. Hier wird ein Vorurteil zu überwinden sein, da nicht alles Katholische auch deshalb schon unbiblisch ist.

LeerDas religiöse Element ist die glänzendere, das ethische dagegen die dunklere Seite der evangelischen Theologie und Verkündigung. Viele Lehren (Alleinwirksamkeit Gottes vor allem) scheinen die Quietive hervorzuheben und die Motive zu vernachlässigen. Anders ausgedrückt: sie heben hervor, was den Menschen ruhig macht, und vernachlässigen, was den Menschen in Bewegung bringt.

LeerMan kann heute wahrhaftig nicht mehr sagen, die reformatorische Lehrbildung decke sich mit der paulinischen Botschaft. Das hat die Arbeit am Neuen Testament seit Deißmann ergeben. Die reformatorische Lehrbildung hat es nicht mit der natürlichen Selbstverständlichkeit, die uns in den paulinischen Briefen entgegentritt, darzustellen gewußt, daß das Christus- und Rechtfertigungserlebnis notwendig auf die Lebensgestaltung wirken muß. Sie übersah, daß Paulus ausgerechnet in seinem Römerbrief an einen sogenannten dogmatischen Teil ab Kapitel 12 eine mehr ethische Erörterung anschließt. Und doch vertreten heute immer noch protestantische Theologen die These, die Ethik habe nichts mit der systematischen Theologie zu tun. Paulus unterscheidet zwar sehr genau zwischen dem, was wir aus Glaube und Gnade geworden sind, aber er tut das nicht, um sich damit zufrieden zu geben, sondern - im Gegenteil - um die Verantwortung und Verpflichtung des Christen zu einem diesem Geschenk entsprechenden praktischen Verhalten anzuspornen. Nach ihm ist die Gabe zugleich eine Aufgabe. Und das nicht nur für das praktische Leben des einzelnen Christen, sondern erst recht in Hinsicht auf die uns heutigen Christen auferlegte Verantwortung gegenüber dem Weltdasein.

Quatember 1954, S. 135-141

Siehe auch
Wilhelm Stählin - Petrus und die Petriner
Wolfgang Kretschmer - Das johanneische Christentum
Erich Müller-Gangloff - Drei Kirchen und Vier Zeiten

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-02
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