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von Wilhelm Stählin |
Der Mittag ist die Hoch-Zeit des Tages. Jetzt ist alles getaucht in das hellste Licht, gänzlich befreit aus dem Halbdunkel des Morgens und des Abends. Die Sonne ist aufgestiegen zu dem höchsten Punkt ihrer Bahn und wirkt mit aller ihrer Kraft; ein warmer Brodem steigt auf aus der Erde, und die Luft erzittert im mittäglichen Glanz. Der Zeiger an der Sonnenuhr wirft seinen kürzesten Schatten, und das Leben der äußeren Natur scheint für eine Weile stillzustehen, da der Kreislauf des Tages an seinem Zenith angelangt ist. - Aber auch alle menschlichen Kräfte sind am Mittag - in der Mitte zwischen Erwachen und Müdigkeit - aufs stärkste gespannt. Jetzt sind wir ganz umringt von Dingen und Menschen; Arbeit, Fragen, Sorgen, Nöte, Kämpfe, Energie und Leidenschaft, Bosheit, Scherzen und Klagen: In hunderterlei Gestalten pulst das Lied des Lebens um uns. Am Mittag scheinen wir am wenigsten uns selber zu gehören, jetzt am wenigsten Zeit zu haben zu ruhiger Besinnung. Jetzt ganz lebendig sein und den Umkreis des Lebens, das uns anvertraut ist, nicht verengen, und die Intensität unseres eigenen Daseins nicht schwächen! Jetzt ganz wach sein für alle Pflichten und Ansprüche, für all die Menschen, die der Tag zu uns, zu denen uns der Tag führt, für die guten und für die bösen, für die erfreulichen und die verdrießlichen, für die bedeutenden und für die geringen, Freunde und Widersacher, Nächste und Fernste! Der Mittag ist wie die Gipfelfläche eines Berges, den wir haben erklimmen dürfen und auf dessen Höhe wir verweilen möchten, ehe wir an den Abstieg denken müssen. Der Zauber der Höhe hat eine berauschende Kraft der Ermutigung und der Freude. Die „Höhe” ist das Bild für die verborgene Wohnung Gottes; „in der Höhe” wird das Lob Gottes gesungen (Luk. 2,14), und Seine Heimsuchung ist der „Aufgang aus der Höhe” (Luk. 1, 78). Darum ist jede „Höhe”, die zu erreichen uns vergönnt ist, ein Sinnbild und eine Verheißung letzter Erhebung und Erfüllung. Wenn der Fromme seine Zuversicht ausdrücken will, daß sein Leben reifen darf zu seiner Bestimmung, so sagt er „Der Herr wird mich auf meine Höhen führen” (Hab. 3, 19 = Ps. 18, 34). Die mittägliche Höhe des Tages wird zum tröstlichen Bild für den Triumph, den Gott den Seinen gewährt: „Er wird dein Licht hervorbringen wie den Mittag” (Ps. 37, 6); und „dein Dunkel wird sein wie der Mittag” (Jes. 58, 10). Welche Freude am Glanz der Mittagsstunde, an der Höhe des Tages, verraten solche Worte! Aber gerade die „Höhe” ist in besonderer Weise gezeichnet mit jener Zweideutigkeit und Zwiespältigkeit, die allen solchen naturhaften Bildern anhaftet. Die Höhe ist kein Ort dauernder Wohnung. Wer auf die Höhe gelangt ist, muß sich zum Abstieg rüsten. Der Ruhm der Dauer ist aller irdischen Höhe versagt. Es ist insbesondere der Prophet Jesaja, der so überwältigt ist von der alleinigen Majestät Gottes, daß er seine zornigen Worte schleudert gegen alle „Höhe”, die etwas sein und bleiben will neben Gott: „Alle Höhe der Menschen muß sich bücken, daß der Herr allein hoch sei” (2, 17). Der Apostel nimmt diesen Protest des Propheten gegen alle Höhe auf und wendet ihn ins Geistige: Die Waffen der geistlichen Ritterschaft sind mächtig, „zu zerstören alle Höhe, die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes” (II. Kor. 10, 5). Denn die Höhen (die excelsa und altissima) sind nicht nur die Wohnung Gottes, sondern die Höhen sind zugleich der Ort des Götzendienstes, und es hat einen sehr tiefen symbolischen Sinn, daß der Eifer für die Ehre Jahwes gegen die Götzen zugleich der zornige Eifer wider die „Höhen” ist, auf denen die Götter der Natur mit blutigen Opfern verehrt wurden. Die Höhe, auch die Höhe des Tages und der Mittag des Lebens, ist ein gefährlicher Ort: Es gibt nicht nur eine Pestilenz, die im Finstern schleicht, sondern auch eine Seuche, die im Mittag verderbet (Ps. 91,6). Die Hoffart, die sich in der Fülle des Lebens sicher fühlt, der Wahn, der sich hinwegtäuscht über die Vergänglichkeit dieser Höhe und bewahren und festhalten möchte, was doch vergeht: Das ist die Seuche, die im Mittag verderbt! Aber woher soll der Tag seine Mitte empfangen? Diese Mitte kommt weder aus dem Stand der Sonne, noch aus dem Verlangen nach Speise und Ruhe; auch ordnen sich selten die Geschäfte des Tages zu einer wohlgegliederten Einheit, sondern es kommt eben eines nach dem anderen, ein Mensch nach dem anderen (Kunden, Patienten, „Parteien”), und wir stehen im Grunde alle an einem Fließband, an dem wir in knapp bemessener Zeitspanne die uns zugewiesene Arbeit „erledigen”. Das alles hat keine Mitte, wenn wir nicht selber eine Mitte in uns tragen, selber eine „Gestalt” haben, die durch eine lebendige Mitte geordnet ist. Wenn wir nicht alles, was da kommt, in diese eigene Mitte hineinzunehmen vermögen, dann werden die Bilder einander jagen und all die Gestalten wie die wechselnden Bilder eines Kaleidoskops verwirrend und zermürbend durch unsere Sinne und Gedanken huschen. Aber wer kann dem Tag seine Mitte geben, wer kann dem übervollen Tag einen lebendigen Zusammenhang und Zusammenklang verleihen? Wenn wir selber keine Mitte haben, keine Mitte sind, dann führen die Stunden einen wirren und wüsten Tanz um uns auf, und während wir uns in rastlosem Tun verzehren und verzetteln, gedeiht die Mühe doch nicht zum rechtschaffenen Tagwerk. Das alles hat seine genaue Parallele in der Mittagshöhe des Jahres. So wie die Mitternacht dem Weihnachtsfest, die Morgenfrühe der Osterfeier zugehört, so ist die Sommersonnwende der Jahres-Mittag. Jetzt steht die Natur in ihrer vollen Pracht, Gärten und Wälder leuchten in starken Farben; wir schwelgen mit trunkenen Blicken in der bunten Farbigkeit der geschaffenen Welt, und wer nicht vertrocknet ist in seinen Gedanken, versteinert in der Entfremdung von den Kreaturen, der schmeckt entzückt den berauschenden Trank des herrlichen, überschäumenden Lebens. Aber die Höhe hat keine Dauer; und die Sonne steigt abwärts, kaum daß sie die höchste Höhe ihrer Bahn erreicht hat. Schon sind viele Blüten wieder verwelkt; schon sind die ersten Blätter an den Bäumen und Sträuchern in der Glut der Sonne vergilbt, und schon ist die Mitte wieder verlassen auf dem Weg zum Ende und zum Vergehen. Das trunkene Leben ist dem Rausch des Todes verwandt. Die Lieder, die ich vor vielen Jahren bei lettischen Sonnwendfeiern in Kurland zu Ehren Lighos, des Gottes der Sonne und der Fruchtbarkeit, habe singen hören, sind voll Schwermut, Angst und Traurigkeit. Die christliche Kirche begeht in der nächsten Nähe des Mittsommertages, sechs Monate vor der Geburt des Herrn, das Gedächtnis Johannis des Täufers. Es ist nicht halb heidnische Romantik der Jugendbewegung, sondern die klare und nüchterne Einsicht der Kirchenväter, die den Zusammenhang zwischen der Wende des Jahres und dem Schicksal des Täufers und Vorläufers erkannt hat und in seinem Wort „Ich muß abnehmen” zugleich die Stimme aller Kreaturen, ihrer Blüte, Höhe und Herrlichkeit vernommen hat. In Nürnberg wird sehr sinnvollerweise der Johannistag als der Gedächtnistag der Verstorbenen begangen, und an diesem Tag in der Mitte des Jahres werden die Gräber mit den - ach so rasch welkenden - roten Rosen geschmückt. Auch dies ist Mitt-Tag. Aber es wäre nichts als der trostlose Kreislauf von Werden und Vergehen, in dem jede Höhe alsbald erniedrigt und jede Mitte alsbald verlassen und verloren wird, wenn das Johannis-Wort nicht seine andere Hälfte hätte, die von dem redet, das unvergänglich dem Kreislauf entnommen ist und darum allein eine wahre und bleibende Mitte gewährt: Er muß wachsen. Die Mittagsstunde gewährt nicht Zeit und Ruhe zu langem Gebet. Aber der kurze Augenblick der Besinnung, zu dem die Betglocke mahnt, darf nicht fehlen, wenn nicht dem Tag und uns selber die tragende Mitte fehlen soll. Vor vielen Jahren haben wir, um das Sonnwendfeuer gelagert, Stephan Georges Verse deklamiert: Wer je die Flamme umschritt /Ahnend drückten wir mit solchen Worten die Einsicht aus, daß der Mensch der Mitte bedarf, die er nie, ohne sich selbst zu zerstören, aus dem Blick (und aus dem Herzen) verlieren darf; keiner von uns schämt sich zu bekennen, daß in jenen vielleicht heidnischen Worten das Geheimnis der Mitte uns zuerst berührt hat, obschon wir noch nicht wußten, welcher Art die Mitte ist, die unserem Leben seinen Mitt-Tag verleiht. Seither haben wir hundertfältig die Wahrheit jenes unheimlichen Verses erfahren, mit dem Dante den Gesang von der Hölle eröffnet: „In der Mitte meines Lebensweges fand ich mich in dunklem Wald, und der Weg nach vorne war versperrt.” Denn die Mitte kann in ihrer Leere tödliche Verlegenheit sein, aus der nur der Abstieg in unheimliche Tiefen und das Abenteuer neuer Erkenntnisse befreit. Es war zunächst wohl nur eine tastende Ahnung von etwas, dessen wir bedurften, wenn wir neben Morgen- und Abendgebet auch das „Gebet der Mittagsstunde” wiederzubeleben oder vielmehr neu zu schaffen unternahmen. (Denn jenes Stücklein aus dem täglichen Gebetspensum der Horen, das auf die „6. Stunde” trifft und darum Sext genannt wird, ist kein Gebet der Mittagsstunde.) „Herr unser Gott, laß uns vor Dir stehn mitten im Tagwerk.” Und wir wagen es, in diesem Mittagsgebet wieder den „Angelus”, die Betrachtung der Menschwerdung des Herrn, zu beten: „Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft, und sie empfing vom Heiligen Geist. Und das Wort ward Fleisch und wohnete unter uns.” Denn dies ist die Mitte der Welt; aus dieser Weltenmitte empfängt unser Leben seine Mitte, die ihm Gestalt verleiht. Von der Seuche, die im „Mittag” verderbt, kann nichts heilen, als daß wir „durch Sein Leiden und Kreuz zur Glorie der Auferstehung gelangen”'. (1) Anmerkung: 1: Leider erst während dieser Aufsatz im Drucke ist, werde ich (durch einen katholischen Leser) hingewiesen auf eine Abhandlung von Otto Friedrich Bollnow über die „Metaphysik des Mittags” in seinem Essay-Band „Unruhe und Geborgenheit im Weltbild neuerer Dichter” (Kohlhammer Stuttgart S. 143 ff.). B. bestätigt von der Seite der Dichtung her, was hier über die Zwiespältigkeit des Mittags-Erlebens gesagt werden sollte. Quatember 1954, S. 148-152 |
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