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von Karl Ferdinand Müller |
Nachdem Otto Brodde (1) mit seinem „Chorgebet” und Johann G. Mehl (2) mit seiner Ordnung „Der tägliche Gottesdienst” bemerkenswerte Beiträge zur Frage des Stundengebetes geliefert haben, ist das literarische Gespräch über die sogenannte deutsche Gregorianik in Fluß gekommen. Welchen Ertrag dieses Gespräch bringen wird, muß abgewartet werden. Zunächst ist für die Frage symptomatisch, daß sich keiner aus dem großen Kreis der evangelischen Kirchenmusiker lange Zeit getraut hat, hinsichtlich der Gregorianik den Kollegen vom Fach unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten in das Gespräch zu ziehen. Wer die Lage kennt, hat dafür Verständnis, denn der Kreis derer, die das Fachliche können, ist heute noch klein, und die, die wirkliche Einblicke besitzen, sind entweder durch ihre Autorenschaft „belastet” oder fürchten, vor der Zeit ihre Werkstattgeheimnisse preisgeben zu müssen. Und so ist bis vor kurzem gerade das nicht zustande gekommen, was von so vielen schon lange erwartet wurde, nämlich ein Gespräch, in dem an Hand von Analysen jeder seine Arbeitsmethode offen ausbreitet und dem anderen sagt, was nach seiner Meinung falsch ist oder nicht sein darf. Auf diese Weise aber blieb der größte Teil der Kirchenmusiker bei dieser Frage, von der man doch möchte, daß sie von einem möglichst großen Teil verantwortlich durchgetragen würde, vor den Toren. Die beste Möglichkeit einer Orientierung, die es bislang in der Frage der deutschen Unterlegung und „Eindeutschung” der Melodie gibt, ist der hilfreiche Artikel: „Altargesang” von Christhard Mahrenholz (3) in der Enzyclopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart”, in der die Methoden der Reformationszeit aufgedeckt sind. In dieses allgemeine Dunkel ist nun erfreulicherweise Licht gefallen, indem das notwendige Gespräch über die Gregorianik auf Anregung von Walter Blankenburg von katholischer Seite in „Musik und Kirche” in Gang gebracht worden ist. Walther Lipphardt (4) hat in einem Artikel „Deutsche Gregorianik als Versuch und Aufgabe” scharf die Arbeiten von Brodde und Mehl beleuchtet und, wie von ihm zu erwarten war, in Frage gestellt. Und Urbanus Bomm (5) hat sich ebenda zwar im Tone sehr viel freundlicher, aber in der Sache nicht weniger kritisch geäußert. Inzwischen haben beide evangelischen Autoren sehr aufschlußreich geantwortet (6). Die Frage der deutschen Gregorianik ist deshalb so problematisch, weil man sich mit dem Problem der Sprache und zugleich mit der Frage der Melodien auseinandersetzen muß, und schließlich spielen das sachgemäße Zu-, Bei-, Mit- und Gegeneinander von Wort und Ton eine entscheidende Rolle. Dabei geht es dann zum anderen um eine Klärung der Frage hinsichtlich der Psalmtonmodelle (sog. romanischer und germanischer Dialekt), der Antiphonen, Responsorien, der Officiumspsalmodie und schließlich der Hochformen der Meßpsalmodie. So gibt es ein grundsätzliches Problem, nämlich, ob deutsche Gregorianik überhaupt möglich ist und wenn ja, ob dann die Melodien etwa bis 1100 allein legitim sind und alle späteren Formen einschließlich der reformatorischen Zerfallserscheinungen, und ein mehr praktisches Problem hinsichtlich der Formen, ob der ganze Reichtum der Gregorianik zu berücksichtigen ist oder nur die Gregorianik, die mit dem Stundengebet zu tun hat, wobei schließlich die Fragen der Gemeindegemäßheit mit berücksichtigt werden müssen. Ob die Gregorianik gegenüber dem Kirchenlied und der Figuralmusik die einzige wirklich sachgemäße liturgische Musik ist, möchte ich in Frage stellen. Alle bekannten theologischen Begründungen zu dieser These erscheinen mir zweifelhaft, ganz gleich, ob sie von katholischer (Lipphardt mit seinem Bezug auf die Analogia entis) oder von evangelischer Seite (Buchholz) kommen. Ebensowenig ist die deutsche Gregorianik mit dem Historismus als dem Verwalten eines überkommenen Erbes zu rechtfertigen (Brodde mit seiner Inanspruchnahme des Chalcedonense). Die Gregorianik ist eine Kunstform neben anderen, deren Legitimität sich wie alle Formen einfach in ihrem Nachvollzug und\ Neuvollzug immer wieder aufs neue aus sich selbst erweisen muß. Das gilt genau so vom Kirchenlied wie von der Figuralmusik. Dabei ist die Frage nach der größten künstlerischen Qualität, Prägnanz und Dichte sowie der sachgemäßen Freiheit und Gebundenheit von Wort und Ton von entscheidender Bedeutung. Mit letzterem ist der ganze Fragenkomplex der Prosodie angeschnitten, des Vortrages, der Betonung und Deklamation des Textes im Gesang. Während Brodde und Mehl auf die Hochform einer deutschen Gregorianik verzichten, wird sie von Buchholz und Lipphardt ausgiebig gepflegt, wobei die Unterschiede zwischen beiden geradezu polar sind. So interessant die Versuche beider Autoren sind, so problematisch sind sie auch. Vorausgesetzt, daß die Lipphardtschen Rhythmusstudien zu Recht bestehen, muß zugegeben werden, daß sich der deutsche Sprachfluß hier am reibungslosesten vollzieht. Aber gerade das ist fragwürdig. Man muß fragen, ob diese Art der Glättung nicht auf Kosten der Prägnanz und Substanz der Melodien geht und die Gregorianik die eigentümliche Dimension der Tiefe verliert. Ganz anders liegen hier die Dinge bei Buchholz, der Wort und Ton hart und frei mit- und gegeneinander stehen läßt, ohne dabei der Technik von Thomas Münzer oder einer philologischen Adaption zu verfallen. Aber hier bleibt die offene Wunde das Problem der Vokalise. Und schließlich noch ein Wort zu den Antiphonen des Offiziums. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, auf die Erstellung und die Methoden im einzelnen einzugehen. Hier hat Brodde in seiner Entgegnung auf Lipphardt seine Arbeitsmethoden aufgedeckt, desgleichen hat Mehl zu dieser Sache eine Bemerkung getan. Es ist sehr empfehlenswert, dies nachzulesen. In dieser Frage treten zwischen Brodde und Mehl im Ergebnis Unterschiede deutlich hervor, obgleich beide von einem bestimmten Formelvokabular ausgehen. So legt Brodde seiner Arbeit das Modellverfahren zugrunde und gewinnt sein Erstellungsprinzip „durch kritischen Vergleich aus allen vorhandenen Hören und Antiphonen . . . , die greifbar waren” - vor allem auch des 16. Jahrhunderts. Damit ist er leider häufig der Philologie und dem Historismus erlegen, zum mindesten in die Gefahrenzone eines Konstruktivismus hineingeraten, so daß es etwas Berechtigtes hat, wenn Mehl von den Broddeschen Antiphonen sagt, daß sie „weithin unrhythmisch, unlebendig, ohne schwingenden, strömenden Atem” erscheinen. Obwohl auch Mehl ein Formelvokabular besitzt, macht er sich doch viel freier. Er spricht bei der Erstellung der Antiphonen von einem „künstlerisch-schöpferischen Vorgang”. „Er geschieht in künstlerischer Freiheit, in Anlehnung an die alten Modelle, die aber unter Umständen frei umgestaltet und weitergebildet werden.” Wer in die Psalmodie einsteigen will, dem werden vortreffliche Hilfen von Mehl geboten. Mehl hat zwei gute kleine Schriften geschrieben, die sehr zu empfehlen sind. Es sei besonders auf sie verwiesen (10). Seine Ordnung „Der tägliche Gottesdienst in Haus, Schule und Kirche” zeichnet sich aus durch Übersichtlichkeit und Einfachheit in der Handhabung des technischen Apparates. Es braucht nicht viel geblättert zu werden. Die Psalmen, Responsorien, Hymnen und Kantika sind in den Gang der Ordnung übersichtlich eingeordnet. Die Ordnung enthält das Morgengebet, das Mittagsgebet, das Abendgebet, das Nachtgebet (auch als Sonderdruck). Die Auswahl der Psalmen ist begrenzt. Für das Morgengebet sind 18 Psalmen, die im 1. und 8. Ton gesungen werden können, für das Mittagsgebet 5 Psalmen im 3., 9. und 2. Ton, für das Abendgebet 15 Psalmen im 4., 7. und 5. Ton ausgewählt. Am Ende des Buches stehen etwa 55 Antiphonen, die nach den Psalmtönen geordnet sind. Alle Antiphonen sind leicht singbar und einprägsam. Die Ordnung von Brodde enthält die gleichen Ordnungen wie die von Mehl, zusätzlich aber im Anhang: Adventsvesper, Christvesper, Passionsvesper, Ostermette, Ostervesper, Pfingstmette, Pfingstvesper, ferner eine Kindergottesdienst- und Schulordnung. Hier werden etwa 42 Psalmen angeboten, dazu das Tedeum und die Litanei, gegen 63 Antiphonen. Ein lehrreiches Nachwort zur Geschichte und Ausführung ist dankbar zu begrüßen. Während Mehl beim Hymnus ausschließlich auf das Evangelische Kirchengesangbuch und das Wochenlied verweist, bietet Brodde eine größere Anzahl von Gesängen aus dem altkirchlichen Hymnenschatz an. Die Ordnung von Brodde unterscheidet sich von der Mehls durch Mannigfaltigkeit und durch Reichtum. Der praktische Gebrauch ist allerdings erschwert durch die Anordnung und dadurch bedingtes häufiges Nachschlagen und Blättern. Beide Ordnungen haben im ganzen viel Gemeinsames. Die Ordnung von Mehl ist mehr für die Hand der Gemeinde gearbeitet, die von Brodde mehr in Ausrichtung auf den Chor, wobei nicht nur dem Kantor, sondern auch dem Pfarrer gute Hilfen geboten werden. Nicht gut ist bei beiden die Verwendung der ekphonetischen Zeichen im Psalmtext. Bei Brodde werden vier verschiedene Zeichen benutzt, bei Mehl zwar nur eins, im Druck erscheinen aber drei, da Mehl seine Psalmtexte für mehrere Psalmtöne eingerichtet hat. Es sollte grundsätzlich nur e i n Zeichen verwendet werden, und zwar ein dünner Strich vor der Silbe, auf der die Tuba verlassen werden soll. Man sollte ruhig die Einrichtung auf einen Psalmton beschränken. Dieses Zuviel bei beiden zerstört nicht nur das Schriftbild, sondern auch die Andacht. Wer es mit einem Zeichen nicht begreift, begreift es auch nicht mit mehreren. Wenn man nämlich den Psalmton kennt, wird man den Regeln der Psalmodie auch immer gerecht werden. Ohne Musikalität geht es halt auch beim Psalmodieren nicht. Im übrigen werden wir noch viel Zeit brauchen, um in der deutschen Gregorianik die nötigen Erfahrungen zu sammeln. Aber es darf mit Dankbarkeit festgestellt werden, daß wir einen Schritt weitergekommen sind.
Quatember 1954, S. 160-163 |
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