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Einkehr in Imshausen
von Christoph Obermüller

LeerDie Stuttgarter Wochenzeitung Christ und Welt” brachte in ihrer Sondernummer zum Leipziger Kirchentag (Nr. 27 vom 8. Juli 1954) einen Beitrag über die Imshäuser Untermühle als einen „Ort der Zuflucht und zum Anders-werden”. der inzwischen einigen wohltätigen Rumor verursacht hat. Wir hoffen diesen mit dem Abdruck zu vermehren, haben den Aufsatz aber um einen Passus gekürzt, der sich auf das Verhalten der Kirche gegenüber den Untermüllern bezieht. Wir hoffen, auf diese Seite der Angelegenheit in einem der nächsten Quatemberhefte ausführlicher eingehen zu können.

LeerEs ist ein bemerkenswerter Charakterzug dieser betriebsamen Welt von heute, in der die Großkopfeten der Managerkrankheit erliegen und die kleinen Leute von anderen Teufeln der Nichtigkeit geritten werden, daß es an vielen Orten ein neues und echtes Bemühen um Einkehr und Besinnung, ja darüber hinaus um Anbetung und Meditation gibt, das die engen Grenzen institutioneller Kirchlichkeit sprengt und mancherorten schon fast den Charakter dynamischer Bewegtheit angenommen hat. Es gibt in den angelsächsischen Ländern eine sehr breite Retreat-Bewegung, die von den verschiedensten Anstößen herkommt, und in Frankreich und der welschen Schweiz bekommt das entsprechende Wort Retraite einen immer vernehmlicheren Klang. Die Insel Iona im fernen Schottland, das Chateau Taizé nahe dem berühmten Cluny in Burgund, Grandchamp im schweizerischen Kanton Neuenburg sind zu Strahlungszentren solchen Bemühens geworden, das bis ins ferne Indien reicht, wo es heute in Anknüpfung an altindische Einsiedeleien evangelische und katholische „Ashrams” gibt.

LeerIn Deutschland ist man in dieser Hinsicht noch am weitesten zurück. Hier pflegt sich das kirchliche Leben noch in ziemlich ausgefahrenen Geleisen zu bewegen. Und was speziell die protestantische Seite angeht, so scheint man mehr auf eine anspruchsvolle und entsprechend abstrakte Theologie als auf eine Verleiblichung des Evangeliums bedacht. So konnte der beinahe schon kuriose Fall eintreten, daß das wohl bedeutendste Einkehrzentrum, das es hierzulande gibt, die sogenannte Untermühle im alten Schloß der Herren von Trott zu Solz im hessischen Imshausen, bis heute ein wahres Aschenbrödeldasein führt und trotz einer langjährigen und guten Arbeit noch kaum bekanntgeworden ist.

LeerDie „Solztrotten” zu Imshausen sind merkwürdige Leute. In einer Zeit, in der die Edelleute auszusterben scheinen, bringen sie, die jahrhundertelang ein Geschlecht des mittleren Adels ohne besonderen Glanz waren, eine Reihe bemerkenswerter Persönlichkeiten hervor. Adam von Trott zu Solz war einer der geistigen Führer des 20. Juli 1944 und wurde einige Monate danach hingerichtet. Sein Vater August von Trott war einer der letzten Kultusminister des Königreichs Preußen, ein Trott der Generation zuvor kurfürstlich hessischer Minister des Auswärtigen. Der Großvater von Mutters Seite war General von Schweinitz, der bedeutende deutsche Botschafter in Wien und St. Petersburg. Andere mütterliche Vorfahren, die Jays, deren Ahnherr ein Freund George Washingtons war, haben in der jungen Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika eine Rolle gespielt.

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LeerVera Trott, die Mutter der Untermühle, ist eine Schwester des hingerichteten Adam, zu dessen Gedenken auf den Höhen über Imshausen ein mächtiges Kreuz errichtet worden ist. Während er als werdender Diplomat in den Hauptstädten Europas weilte, tat sie, die im Berliner Burckhardhaus als Gemeindehelferin ausgebildet worden war, in den Dörfern des Solzbachtales und seiner Nachbartäler bescheidene kirchliche Jugend- und Kinderarbeit, deren erstes Zentrum kurioserweise die Küche des väterlichen Gutshauses war. So anspruchslos und schlicht diese Arbeit war, so führte doch auch sie auf eine nicht minder bedeutende Ahnenschaft geistlicher Art zurück: Die vorige Generation der Solzer Trotten hatte nicht nur mit dem als Solzer Pfarrerssohn geborenen August Vilmar, sondern auch mit Wilhelm Löhe in Neuendettelsau und mit den Blumhardts in Möttlingen und Bad Boll Verbindung. Die letztere Verbindung besteht sogar bis heute fort: der vorige „Lehrmeister” auf der Untermühle war ein Enkel der letzten Blumhardt-Tochter in Bad Boll, und als in diesem Jahr wie alljährlich zu Epiphanias das Oberuferer Dreikönigsspiel aufgeführt wurde, wirkten nicht weniger als drei Urenkel des alten Blumhardt dabei mit.

LeerAls der ehemalige Kultusminister 1938, weit über achtzig Jahre alt, starb, war seine Tochter inzwischen in die halbwegs zwischen Imshausen und Solz gelegene Untermühle übergesiedelt in eine ebenso romantische wie verwahrloste Behausung, in der mit frischen Kräften eine ganz neue Arbeit begann. Die sangesfreudigen Untermüller veranstalteten in ihrer Mühle, nachdem sie sie wieder bewohnbar gemacht hatten, Jugend- und Kinderfreizeiten, die wachsenden Zuspruch, aber auch steigenden Argwohn des Hitlerstaates fanden, der die Untermühle schließlich nach dem 20. Juli der Aufgabe der Jugendbetreuung unwürdig erklärte.

LeerWie durch ein Wunder überstand die Untermühle aber den Zusammenbruch, und nun begann abermals ein neues Stadium ihrer Arbeit. Aus einem Zufluchtsort für Kinder in den turbulenten Nachkriegsjahren entwickelte sich ein regelrechtes Kinderheim mit durchschnittlich etwa sechzig Kindern aller Altersstufen, dem allerdings schon wegen seiner Lage in einem Zonengrenzbezirk ganz besondere Aufgaben zufielen und das auch in mancher anderen Hinsicht ein Kinderhaus ganz eigener Art und Prägung wurde. Von jeher war in der Untermühle viel gesungen worden. Begabte Kirchenmusiker wie Gerhard Schwarz waren schon von vergangenen Singefreizeiten her dem Hause eng verbunden. Aus Begegnungen mit den Alpirsbachern, die die Gregorianik neu entdeckt hatten, erwuchs ein immer intensiveres liturgisches Leben, durch das dieses Haus der Kinder mit den Jahren fast das Gepräge eines evangelischen Ordenshauses erhalten hat.

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LeerNach zehn Jahren aus seiner Mühle verdrängt, mußte das Kinderheim 1948 ein neue Behausung suchen, die es nunmehr infolge einiger überraschender Fügungen im schloßartigen Gutshaus der Trotten zu Imshausen fand. Nun wurde es vollends zu einem geistlichen Zentrum besonderer Art. Es hat nie auch nur einen Augenblick seinen Charakter als ein Ort der Zuflucht für Kinder ohne Heimat und Elternhaus preisgegeben. Es ist sogar immer mehr zur Zufluchtsstätte geworden: kirchliche wie kommunale Stellen pflegen gerade ihre schwierigsten Fälle, für die sie sonst gar keinen Rat wissen, nach Imshausen zu schicken.

LeerAber inzwischen sind der Untermühle - wie sie immer noch genannt wird, obwohl mittlerweile in einem Schlosse angesessen - ganz andere und noch bedeutendere Aufgaben zugewachsen. Aus den Hunderten und Aberhunderten, ja vielleicht Tausenden von Kindern, die im Laufe der Jahre durch die Untermühle gingen, sind junge Frauen und Männer geworden, die dem Hause weiter mit ungewöhnlicher Treue anhängen. Als das Imshäuser Schloß bald nach der Übersiedlung zu eng wurde, taten sich die ehemaligen Untermüller zu einer Baumannschaft zusammen, die in zwei aufeinanderfolgenden Sommern unter Anleitung eines Fachkundigen zwei Fachwerkhäuser errichteten, in denen jetzt ein Teil der Kinder untergebracht ist.

LeerAus dieser Gruppe ebenso besinnlicher wie tatenlustiger junger Männer ist in den letzten drei Jahren die sogenannte Kumpanei der Untermühle hervorgegangen, die durchaus nicht nur aus ehemaligen Untermüllern besteht, sondern auch auf andere junge Menschen eine wachsende Anziehungskraft ausübt. Studenten verbringen hier ihre Semesterferien, künftige Heimleiter ihre Praktikantenzeit. Einem Junglehrer, dem das Elternhaus vieles schuldig geblieben ist und der nun seinen künftigen Zöglingen nicht ebensoviel schuldig bleiben möchte, wurde auf einem Amt von der Untermühle als einem Ort erzählt, an dem man „anders” würde. Er ist hingegangen.

LeerAlljährlich pflegt die Kumpanei zu Weihnachten die drei überlieferten Oberuferer Spiele aufzuführen, in der Adventszeit das Paradeisspiel, in den zwölf heiligen Nächten nach Weihnachten das Krippenspiel und zu Epiphanias das Spiel von den heiligen drei Königen. Die Jungen und Mädchen sind beim Einstudieren der drei Spiele von einem ungewöhnlichen Ernst und Eifer beseelt. Sie müssen sich um die gar nicht einfachen Rollen dieser Bauernspiele sehr bemühen. Sie haben dazu wie ehedem die Bauernburschen von Oberufer einen eigenen Lehrmeister gewählt, der ein ganzes diakonisches Jahr in der Untermühle verbringt. Und es bedarf darüber hinaus der tatkäftigen Hilfe von „Bruder Hans”. der die liturgischen Dienste des Hauses versieht, sowie des ständigen Rates der Hausmutter Vera von Trott, ehe etwas Gutes und Brauchbares herauskommt. Aber es ist dann eine Freude zu sehen, wie die jungen Menschen in ihre Rollen hineinwachsen und an ihnen reifen. Und wenn sie ihrer dann Herr geworden sind, behalten sie ihren Gewinn nicht für sich, sondern ziehen mit den Spielen rings in die Dörfer des Richelsdorfer Gebirges und bis hin in das alte Landgrafenstädtchen Rotenburg an der Fulda, dessen Landrat ein Freund des Hauses ist.

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LeerSo quillt dieses merkwürdige Haus von Leben geradezu über. Verhärmte und verstörte Kinder werden in seiner besonderen Atmosphäre in wenigen Wochen zu frischen und strahlenden Gottesgeschöpfen. Und auch so mancher müde und abgehetzte Erwachsene ist in diesem Kinderhaus durch eine „Retraite” wieder zu sich selbst geführt und in einen neuen Menschen verwandelt worden. Zwar beschränken sich solche Einkehrzeiten, die das Haus nach dem Vorbild von Grandchamp und Iona veranstaltet, fürs erste noch auf gelegentliche Versuche, aber da in der Untermühle seit vielen Jahren mit großer Regelmäßigkeit die Deutsche Messe nach der Ordnung der Michaelsbruderschaft gefeiert wird, fehlt es nicht an gediegener Zurüstungsarbeit.

LeerMan sollte meinen, daß solch pulsierendes und in vielerlei Weise weit in das Land hinausstrahlendes Leben von einer Kirche, deren Gotteshäuser immer leerer werden, mit der größten Bereitwilligkeit akzeptiert und gefördert würde. Jedoch findet die Untermühle bis jetzt einen stärkeren Rückhalt als bei den kirchlichen Instanzen bei denen der weltlichen Öffentlichkeit. Hier weiß man immerhin die Qualität der Arbeit zu schätzen, die in diesem Hause getan wird. Aber auch in dieser Hinsicht bleibt noch unendlich viel zu wünschen übrig. Die Untermüller sind noch heute erschreckend arm. Wenn sie auch nicht mehr in jener unvorstellbaren Armut wie vor zehn Jahren leben, wo ein als Gast in ihre Mühle gekommener Franziskanermönch sagte, hier habe er erst wirkliche Armut kennen gelernt, so fehlt es doch immer wieder und wieder am Allernötigsten.

LeerDaß das Personal des Hauses ohne Bezahlung arbeitet, beruht auf dessen freiwilligem Verzicht und sollte wohl auch so bleiben. Aber daß jede Reparatur, etwa an den uralten und verfallenen Schornsteinen, zu einem Existenzproblem für das Haus wird, das sollte in einer Zeit, in der so viel Geld für die unsinnigsten Dinge ausgegeben wird, nicht sein. Als Vera von Trott vor einiger Zeit in einer ganz dringenden Notsituation den Bundespräsidenten Heuß um eine Beihilfe von 5000 Mark bat, wurden ihr 500 bewilligt. Vielleicht hätte er die umgekehrte Rechnung gemacht und 50000 Mark gegeben, wenn er das Haus und seine Arbeit selbst kennen gelernt hätte. Denn wo könnten solche Summen bessere und sinnvollere Verwendung finden als in einem Hause, das nicht allein den Kindern Zuflucht und Heimat, sondern allen Menschen Einkehr und Besinnung zu schenken bereit ist.

Quatember 1954, S. 240-242

[Kommunität Imshausen]

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-17
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