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Gottes Volk und seine Stämme
von Erich Müller-Gangloff

Jerusalem, die du gebaut bist wie eine wohlgefügte Stadt,
wohin die Stämme wallfahren, die Stämme des Herrn.
Psalm 122, 3.4

LeerNach der Rückkehr von Evanston erklärte ein führender deutscher Theologe, nach seiner Meinung über die zweite Weltkirchenkonferenz befragt, er sei dort des Konfessionalismus aller Schattierungen so überdrüssig und müde geworden, daß er am liebsten der Kirche der Südindischen Union beigetreten wäre. Das war gewiß als scherzhafte Paradoxie gesagt, die aber einen überaus ernsthaften Hintergrund hat. Man kann die ganze Problematik der ökumenischen Bewegung in ihrem gegenwärtigen Stadium von diesem hintergründigen Scherzwort her betrachten.

LeerSoweit nach den bisher vorliegenden Berichten und Aussagen bereits ein Urteil über Evanston möglich ist, hat sich dort als besonders bedrohliche Gefahr nach den vielfältigen verheißungsvollen Anfängen die einer konfessionellen Verengung und Verhärtung herausgestellt. Die mangelnde Bereitschaft der Konfessionen, sich in ihrer Selbstsicherheit erschüttern zu lassen, die die Minimalvoraussetzung für ein ökumenisches Miteinander darstellen muß, war in Evanston in einigen Fällen bis zur offenen Unbußfertigkeit gesteigert. Das läßt die alte Frage nach dem Recht der Konfession oder Denomination, nach der Möglichkeit eines Pluralismus von „Kirchen” in der einen Kirche Jesu Christi von neuem dringlich werden.

LeerEs ist gewiß nicht damit getan, daß man ein solches Recht schlechthin bestreitet, wie es vielfach aus Oberflächlichkeit, aber auch aus Schwärmerei geschieht. Wir können die Schatten der Geschichte nicht einfach überspringen, wir können auch nicht abstreiten, daß es verschiedene Seinsweisen des Glaubens, wenn man will, verschiedene Typen des Christseins gibt, die ihr eigenes Existenzrecht haben. Solcherlei Typenbildung gibt es ja bis in die festest gefügten Kirchen hinein; welch bedeutende Unterschiede hat allein die römische Kirche in ihrem benediktinischen, franziskanischen und jesuitischen Frömmigkeitstypus aufzuweisen!

LeerAber darum geht es ja eben nicht allein, so wenig es in den meisten Fällen wirklich um Confessio, um das Bekennen geht. Es läßt sich doch nicht verkennen, daß die Unterschiede, die uns heute am meisten Beschwer bereiten, die uns auch nach außen hin besonders unglaubwürdig machen, in einem ungerechtfertigten Übermaß solche historischer Art sind. Wir bleiben zum Teil gerade mit den am hartnäckigsten festgehaltenen Unterscheidungen in den Fragestellungen vergangener Jahrhunderte wie in einem Spinnennetz hängen und wundern uns dann, wenn wir von der „Welt” nicht mehr ernst genommen werden. Um das Gesagte auf unsere besondere deutsche Situation von heute anzuwenden: muß es unbedingt ein Mangel an Glauben und Verantwortung sein, wenn sich heute ein evangelischer Christ in Deutschland, der unter den Drangsalen des Hitlerstaates oder in der Kriegsgefangenschaft der Heilsbotschaft neu begegnet ist, weder als lutherisch oder reformiert noch uniert, sondern schlechthin als evangelisch begreift? Wird hier nicht allzu leicht das Konfessionelle angesichts der wirklichen Confessio zu einer sehr gestrigen Frage?

LeerWir brauchen nur - um zunächst bei unserem eigenen Lande zu bleiben - einen Blick auf die konfessionelle Landkarte Deutschlands zu werfen, um ein erschütterndes Bild von der Historizität unseres Kirchentunis zu erhalten. Hat dieses Sammelsurium von Konfessionsterritorien, dessen Gegensätze durch manche Zusammenschlüsse eher noch verschärft als gemildert worden sind, wirklich noch sehr viel mit Glauben und Bekennen zu tun? Mutet es nicht vielmehr wie ein Bodensatz vergangener Geschichte an?

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LeerZweifellos hängt dieser Sachverhalt eng mit der fehlenden Missionskraft der heutigen Kirchen zusammen. Wo sie sich nach vorn entfalten und unter Verzicht auf die Behaglichkeit der Ghettoexistenz den Fragen der Weltstunde stellen, können sie sich gar nicht mehr in dem üblichen Umfang als historisch verstehen. Aber es gibt darüber hinaus in unseren Kirchen so etwas wie eine territoriale Häresie, die nicht minder gefährlich als die in diesen Spalten immer wieder angeprangerte parochiale Häresie ist. Wie die mißbräuchliche Gleichsetzung von Gemeinde und Parochie auf der einen und von Gemeinde und Kirche auf der anderen Seite zu einer völligen Aushöhlung des Gemeindebegriffes geführt hat, so ist der Begriff der Kirche im ökumenischen Sinne von einer ähnlichen Entwicklung bedroht. Wenn Kirche mit Landeskirche und diese territoriale Größe mit Konfession gleichgesetzt wird, geraten wir in einen wahren Teufelskreis. Das hat sich auf manchmal tragische Weise bei der Eingliederung vieler Flüchtlinge erwiesen, die 1945 in eine andere Territorialkirche und damit oft zwangsläufig auch in eine andere Konfession übersiedelten.

LeerDie Landeskirche mit ihrem Konfessionsanspruch ist heute eine Art von Super-Parochie. Diese Erscheinung beschränkt sich aber keineswegs auf Deutschland und auch nicht auf die sonstigen „Volkskirchen” unseres Kontinents. Konfessionelle Enge ist in den verschiedenen Denominationen Amerikas durchaus nicht unbekannt. Sie geht dort sogar zum Teil und zwar gerade bei zahlenmäßig sehr bedeutenden Denominationen bis zur Ablehnung der Ökumene in ihrer gegenwärtigen Form. Man könnte, um die Gesamterscheinung zu bezeichnen, der mit dem Namen Konfessionalismus noch zu viel Ehre geschieht, sogar besser von einem Denominationalismus sprechen, der an den politischen Nationalismus nicht allein durch den Namensanklang erinnert.

LeerDiese Entwicklung der Denomination zur Superparochie mutet doppelt paradox in einer Zeit an, in der wir gerade die ersten Ansätze dazu machen, das enge Parochialdenken zu überwinden. In den Diskussionen der Konferenz von Evanston hat gerade diese Frage eine ganz unerwartet große Rolle gespielt. Es ist zu einer allgemein gültigen Erkenntnis geworden, was gestern fast noch der Verketzerung verfiel: daß die herkömmliche Parochialstruktur der Kirche, mit ihrem Ausschließlichkeitsanspruch ohnehin eine fragwürdige Größe, in einer Zeit ganz unzureichend geworden ist, deren Gesellschaftsstruktur gerade das nachbarschaftliche Element weithin eingebüßt hat. Man hat in Evanston von „Para-Gemeinden” gesprochen und die Notwendigkeit solcher neben- und übergemeindlichen Bildungen allgemein anerkannt. Hätte da nicht auch die Frage nach der Para-Denomination nahegelegen?

LeerDiese Frage wird gewiß eines Tages, wenn die ökumenische Bewegung sich nicht im Dickicht der Konfessionen und Denominationen festfahren soll, nicht mehr übersehen werden können. Aber wir müssen uns darüber klar sein, daß es mit einem bloßen Aufweichen der Grenzen und Unterschiede nicht getan ist. Wenn wir die Geschichte, ohne sie zu überschätzen, auch nicht mißachten wollen, wird es großer Behutsamkeit und sehr vieler brüderlicher Hilfe bedürfen, um auch nur die ersten Schritte in dieser Richtung tun zu können.

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LeerDer Weg der Ökumene kann gewiß nicht der zu einer Über-Kirche sein, deren Sekretariat sich eines Tages als ein evangelischer Vatikan etablieren könnte. Andererseits wird es aber auf die Dauer auch nicht bei der gegenwärtigen Unverbindlichkeit bleiben können, die es der römischen Kritik verhältnismäßig leicht macht, von einer Vereinigung von Sekten zu sprechen. Es ist wahrscheinlich noch zu früh, konkrete Aussagen über das zu erstrebende Ziel zu machen. Aber da es wichtig ist, ein Ziel zu kennen, wenn man einen Weg von solcher Verantwortlichkeit geht, sollte es immerhin versucht werden.

LeerVielleicht läßt sich das anzustrebende Ziel bereits so weit beschreiben, daß die in der Ökumene zusammengeschlossenen Kirchen gegeneinander offen und gleichsam durchlässig werden müssen. Bei den amerikanischen Denominationen ist es, soweit sie zur Ökumene gehören, schon heute ein weit verbreiteter Vorgang, daß ein junger Theologe, der sein Studium abgeschlossen hat, nicht zu der Kirche zurückkehrt, zu der er durch sein Elternhaus gehört, sondern ein Pfarramt in einer ganz anderen Denomination übernimmt. Das kann gewiß einen Mangel an Kontur und auch einen Konturverlust bedeuten, und es liegt für einen Europäer nahe, solche Dinge eher geringschätzig abzuurteilen als sie gar als vorbildlich anzusehen.

LeerAber haben wir wirklich das Recht zu solchem Hochmut? Sind wir unserer historischen Positionen so viel sicherer als die amerikanischen Christen? Wenn wir an unsere Flüchtlinge und an die Stacheldrahtchristen denken, vor denen unsere Ghettokirche tausendfach versagt hat, indem sie ihnen die kirchliche Beheimatung schuldig geblieben ist, wird uns wohl doch ein wenig vor unserer Gottähnlichkeit bange. Warum soll es nicht auch auf unserem Kontinent evangelisches Christentum jenseits des Gehäuses der historischen Konfessionen geben dürfen, wenn es nur bekennender - und nicht zuletzt auch missionierender - Glaube ist?

LeerEs geht nicht darum, die konfessionellen Gehäuse zu entleeren oder gar zu sprengen, wohl aber darum, neue Behausungen zu finden und notfalls zu schaffen, die einem wachsenden Gottesvolk Heimat bieten können. Sonst könnte es wohl in der Tat einmal geschehen, daß ein deutscher Lutheraner oder ein schweizer Reformierter oder auch ein Anglikaner oder Orthodoxer, dem es in seiner Territorialkirche zu eng geworden ist, eine geistliche Auswanderung vollzieht und Glied der Unionskirche von Südindien wird. Und es könnte auch der noch weit verwegenere Gedanke Wirklichkeit werden, der schon auf mancher Missionskonferenz ausgesprochen wurde: daß eines Tages asiatische und afrikanische Christen in dieses gutbürgerlich-atheistische Europa kommen müssen, um es neu zu missionieren.

LeerEin Wort kann eine entscheidende Hilfe sein, wenn es gilt, einen Weg in noch unbekanntes Neuland zu finden. „Ökumene” ist das Beispiel eines solchen Wortes, mit dem das Einheitsstreben der Christenheit in ein neues Stadium getreten ist. Es kann aber unter Umständen auf solchem Wege auch einmal eine nicht minder wesentliche Hilfe sein, auf den Gebrauch eines Wortes eine Zeitlang weitgehend zu verzichten. Sollte es nicht möglich sein, das anspruchsvolle Wort Kirche, das heute einem Mißbrauch sondergleichen ausgesetzt ist, nur noch dort zu gebrauchen, wo es notwendig und hingehörig ist? Und sollten wir uns nicht vielleicht daran gewöhnen können, überall statt dessen vom Gottesvolk zu sprechen, wo dies nicht nur ein Wortersatz, sondern sogar die bessere Bezeichnung ist?

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LeerVon Gottes Volk zu sprechen, empfiehlt sich schon deshalb, weil dieses Wort sinngemäß nicht gut im Plural gebraucht werden kann, was mit dem Wort Kirche leider längst mißbräuchliche Übung geworden ist. Zudem können wir in das Gottesvolk ohne Not auch die Kirche von Rom einbeziehen, die mit der Zweideutigkeit des Wortes „Una Sancta” zugleich sich selbst und alle abtrünnigen Glieder der Ecclesia zu umschreiben sucht, im Ganzen des Gottesvolkes der Christenheit aber nur einen der „Stämme des Herrn” - wenn auch den größten und mächtigsten - darstellen kann. Vor allem aber dürfte sich dieser Gedanke an die Stämme des Volkes Gottes als hilfreich erweisen. Denn wenn wir die Konfessionen und Denominationen der heutigen Christenheit mit einigem Recht als Stämme des neuen Israel begreifen dürfen, so kann das wahrscheinlich nicht wenig zur Entwirrung des heutigen Konfessionschaos beitragen.

LeerEs wäre, um das Wort vom Gottesvolk in letzter Verantwortlichkeit zu gebrauchen, sehr genau zu fragen, was Volk ist, was insbesondere im Vergleich mit den „geborenen” Völkern, den Nationen, ein getauftes, ein geistliches, pneumatisches Volk sein kann. Die Theologie hat sich mit dieser Fragestellung bisher nur in Ansätzen beschäftigt, die eine Fülle von Fragen offen lassen.

LeerImmerhin läßt sich gerade über die Stämme des Gottesvolkes einiges Wesentliche aussagen. Das merkwürdige Faktum, daß der Herr sich zwölf Jünger zu Aposteln auswählte, ist in der Christenheit von jeher als ein Hinweis auf das alte Zwölfstämmevolk betrachtet worden. Bereits der Brief des Herrenbruders Jakobus, der selber Bischof von Jerusalem war, ist an „die zwölf Stämme in der Zerstreuung” gerichtet. Die Apostel als die geistlichen Söhne des Herrn wurden gleichsam zu Stammvätern des neuen Volkes, das er sich ersehen hat.

LeerWir machen uns viel zu wenig klar, wie sehr das alte Israel ein Volk aus vielen Stämmen war. Die Entwicklung des Stammes Juda zum eigenen Volk ist eine verhältnismäßig späte Erscheinung; die großen Gestalten des Alten Testamentes sind aus den verschiedensten Stämmen hervorgegangen: Moses aus dem Stamme Levi, Josua aus Ephraim, Gideon aus Manasse, Simson aus Dan und Saul, der erste König des Hauses Israel, aus dem Stamme Benjamin. Und wie sehr die palästinensischen Nachbarvölker trotz aller Sonderung als Anverwandte empfunden wurden, zeigt die Schrift, wenn sie Israels Bruder Esau als Stammvater der Edomiter, Abrahams Sohn Ismael als den der Araber und Moab und Ammon als Söhne Lots benennt. Und David, mit dem die besondere Geschichte Judas beginnt, stammt von der Moabiterin Ruth, der ein eigenes Buch der Bibel gewidmet ist.

LeerEs wäre auch falsch, das alte Israel deshalb in aller Schärfe von dem neuen unter- scheiden zu wollen, weil es ein biologisches und kein pneumatisches Volk gewesen sei. Die Erscheinung des Proselytentums beweist, daß Israel bereits ein Volk war, in das man aufgenommen werden durfte - von einem biologischen Volksbegriff her betrachtet eine Paradoxie! Es gab also „Juden aus den Heiden”, noch bevor es „Christen aus Juden und Heiden” gegeben hat, und so konnte sich bereits Pfingsten im Zeichen einer Völkerversammlung ereignen.

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LeerWas aber die Väter des neuen Gottesvolkes angeht, so hat es hier schon früh gewisse Zuordnungen gegeben, indem etwa Bartholomäus als der Apostel Asiens und Thomas insbesondere als der von Indien galt, weshalb sich die altindische Kirche noch heute nach ihm benennt. Wir möchten solche legendarischen Aussagen hier nicht überbewerten, sondern nur eben als Aussagen verzeichnen. Wenn man später die römische Kirche als die des Petrus, die Ostkirche als johanneische und die Kirche der Reformation als paulinisch verstand, so kann dies schon eher als ein echter Hinweis auf die Stämme des Gottesvolkes verstanden werden, wobei es nicht ohne Hintersinn scheint, daß die Protestanten mit ihrer so spät einsetzenden Sondergeschichte auf den Posthumus unter den Aposteln zurückgeführt werden.

LeerViel wichtiger aber scheint uns in unserem Zusammenhang, daß es schon unter den Aposteln mehr als einen Dissensus in entscheidenden Glaubensdingen gegeben hat, ohne daß darüber ihre Gemeinschaft oder die ihrer Gläubigen zerbrochen wäre. Wenn wir sie mit Recht als die Stammväter des neuen Gottesvolkes ansehen, so könnte dies wohl ein verheißungsvolles Beispiel dafür sein, daß auch die heutigen Stämme des neuen Israel, wenn sie nur das Bewußtsein einer letzten Zusammengehörigkeit bewahren, das Ziel einer einigen Christenheit erreichen können, ohne Wesentliches von ihrem Sondererbe preiszugeben. Sie müßten sich allerdings zu diesem Ende in ganz anderem Umfang, als dies heute auch nur denkbar erscheint, wirklich als die „Stämme des Herrn” begreifen lernen, der sie aus der Welt und aus ihren angestammten Völkern herausgerufen hat, damit sie ein wahrhaft Neues Volk seien, das als ein Sauerteig alle anderen Völker durchsäuert und die verlorene Welt erneuert und ihm als ihrem Herren anverwandelt.

Anmerkung des Herausgebers

LeerVon dem vielstimmigen Echo der Konferenz in Evanston dringt nur ein begrenzter Ausschnitt von Stimmen zu uns, darum können wir nicht beurteilen, ob nicht eine sehr große Zahl von Christen in aller Welt auf die Erfahrungen dieser Weltkirchenkonferenz in einer ähnlichen Weise reagieren, wie es in dem vorstehenden Aufsatz geschehen ist. Freilich, wer in der ökumenischen Bewegung steht (oder gestanden hat), wird immer wieder teilhaben an der brennenden Sorge, aus der heraus dieser Aufsatz über „Gottes Volk” geschrieben ist, der Sorge nämlich, daß unsere konfessionell geprägten Landeskirchen gar nicht wahrnehmen, jedenfalls nicht wahrhaben wollen, welche Erschütterung die ökumenische Begegnung und Gemeinsamkeit für dieses überkommene Kirchentum bedeutet. Die grundsätzliche Oberordnung der Heiligen Schrift über alle geschichtlich gewordenen „Bekenntnisse” schließt in sich die Bereitschaft, sich in jeder geschichtlichen Sonderbildung vom Ursprung des Ganzen her erschüttern und zur Ordnung rufen zu lassen; eben an dieser Bereitschaft fehlt es in einem erschreckenden Maß; und an ihre Stelle ist weithin der Eifer getreten (oder geblieben), sich in seinem Sonderdasein zu rechtfertigen und zu verteidigen. Die großen und ernsthaften geschichtlichen Überlieferungen, denen wir uns verpflichtet fühlen, drohen zu einem „ekklesiastischen Gepäck” (wie es in Lund genannt wurde) zu werden, das unsere Beweglichkeit hemmt und unsere Bewegung zueinander lahmt.

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LeerMan wird freilich dieser Gefahr dann nicht wirkungskräftig begegnen können, wenn man in das entgegengesetzte Extrem verfällt. Es heißt an einer Stelle des vorstehenden Aufsatzes mit gutem Recht, daß wir die Schatten der Geschichte nicht überspringen können. Aber diese geschichtlich wirksam gewordenen Unterschiede werden dann im Wesentlichen auf die „Zufälligkeiten” der territorialen Landkarten und auf verschiedene Frömmigkeitstypen zurückgeführt. Beides wird nicht bestritten, und es ist schon so, daß wir in unseren landeskirchlichen Überlieferungen zu einem guten Teil noch heute die Souveränität längst nicht mehr vorhandener Landesherren des 16. oder 17. Jahrhunderts gegeneinander verteidigen. Aber dahinter stecken doch, vielfach zwar verborgen und für einen großen Teil unseres Kirchenvolkes nicht mehr erkennbar, echte Verschiedenheiten der Glaubensentscheidung, verschiedene Grundverständnisse Gottes und seiner Offenbarung, die einander nicht mit der harmlosen Duldsamkeit wie verschiedene „Typen” von Frömmigkeit gegenüberstehen können. Selbst innerhalb der vom Verfasser so entschieden vertretenen „evangelischen” Gemeinsamkeit gibt es letzte Entscheidungsfragen, die von jedem, der ihrer erst einmal ansichtig geworden ist, nur mit Ja oder Nein beantwortet werden können.

LeerDer entscheidende Anstoß in dem vorstehenden Aufsatz scheint mir der Begriff der „parochialen” und der „territorialen Häresie” zu sein. Die in unserem deutschen Kirchentum noch nicht wesentlich erschütterte Meinung, daß die „Parochie”, das heißt der lokal begrenzte Kirchensprengel, die einzig legitime Form der Gemeindebildung, und die territorial begrenzte Verwaltungseinheit, wie sie aus dem landesherrlichen Kirchenregiment vergangener Jahrhunderte zurückgeblieben ist, die einzig legitime Form der übergemeindlichen Kirchenbildung sei, wird hier als „Häresie”, das heißt als eine aus der kirchlichen Einheit zu Unrecht sich herauslösende Sonderbildung bezeichnet. Ich halte diesen Gedanken für wichtig und fruchtbar und fühle mich durch diese Sätze bestärkt in meiner ohnehin bestehenden Absicht, in nächster Zeit einmal in etwas größerem Zusammenhang ein Wort zu dieser „Parochial-Häresie” zu sagen.

LeerAber man wird gleichzeitig an Hand konkreter Vorschläge, die durchaus möglich sind, zeigen müssen, durch welche konkreten kirchenrechtlich greifbaren Formen diese Parochial-Häresie erweicht und überwunden werden kann; das gleiche gilt in genauer Entsprechung, mit Bezug auf das, was M.-G. die territoriale Häresie genannt hat. Werden wir rechtzeitig etwas Näheres darüber erfahren, was das in Evanston auftauchende Schlagwort von der „Para-Gemeinde” bedeutet? Erst wenn sich mit einem solchen Wort konkrete Vorstellungen verbinden können, wird man sich auch unter dem Wort von „neuen Behausungen jenseits unserer Denominationen” etwas Konkretes denken können, ohne daß dabei ein Rückfall in ein unverbindliches „privates” Christentum außerhalb, abseits und jenseits alles geschichtlich geprägten Kirchentums droht.

LeerIch lasse die Frage beiseite, ob das verführerisch schöne Bild von dem Gottesvolk und seinen Stämmen wirklich geeignet ist, den „Konfessionalismus” zu Gunsten der einen in echte Konfessionen gegliederten Kirche zu überwinden. Aber von dieser weitschichtigen Frage zunächst abgesehen: Hier tauchen aus der Erschütterung der landeskirchlichen und konfessionellen securitas neue Fragen auf, die uns allen auf den Leib rücken, und ich begrüße es, daß ein Aufsatz, der so sehr geeignet ist, manche Leute aufzuregen, zunächst einmal diese Fragen in ihrer ganzen Schärfe erkennen läßt.

Wilhelm Stählin

Quatember 1955, S. 1-7

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-19
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