Startseite
Inhalt
Inhalt 1955
Jahrgänge
Autoren
Suchen


Eine ökumenische Bursa aus allen Konfessionen
von Paul Evdokimov

LeerDas studentische Wohnheim ist nach 1945 von vielen Sachkundigen als die gegebene Form zur Bildung neuer Gemeinschaft auf der Hochschule angesehen worden. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, die Bursa des Mittelalters in moderner Gestalt wiedererstehen zu lassen. Nur ganz wenige dieser Versuche können als gelungen angesehen werden. Zum mindesten aber hat das Studentenwohnheim die älteren Gemeinschaftsformen nicht verdrängen können, obwohl die Katastrophe von 1945 gerade im dieser Hinsieht vollständig zu sein schien.

LeerMan könnte meinen, die mittelalterliche Burse lasse sich als eine der im Zuge der Reformation von uns verlorenen Institutionen nicht ohne die geistige Grundlegung jener Zeit restituieren. Daß das nicht unbedingt gilt, zeigt ein Beispiel aus Frankreich, wo eine Gruppe von Flüchtlingsstudenten aus aller Herren Länder unter der Führung vom Professor Evdomikoff eine moderne Bursa aufgebaut hat. Das Foyer von Sèvres zeichnet sich dadurch aus, daß es Flüchtlinge nicht nur aus vielen Nationen, sondern auch aus vielen Konfessionen umfaßt.

LeerDie nachstehend abgedruckten Ausführungen sind zum Teil dadurch etwas überholt, daß seit ihrer Abfassung eine Reihe von Insassen des Hauses die überraschend gebotene Gelegenheit zur Auswanderung nach Amerika ergriffen haben. Die Bedeutung des Versuches selber aber wird dadurch keineswegs beeinträchtigt.


Zeugnisse aus dem Studentenfoyer

LeerDie Gemeinschaft von Sèvres bedeutet eine Aufforderung zur Vereinigung (der Kirchen), und diesen Appell haben wir, um mit Paul Evdokimov zu reden, „erbaut”. Denn es ist eine Kirche, eine aus Steinen errichtete Kirche. Wir. die zusammen leben, wollten auch zusammen beten, und ohne überflüssiges Reden haben wir damit ein Beispiel gegeben. Als ich zum erstenmal nach Sèvres kam, war ich überfüttert mit Parteiungen, Gemeinschaften, Bewegungen und intellektuellen Diskussionen, aber hier, von diesem Leben in der Gemeinschaft, wurde ich zum erstenmal überwältigt. Dies ist eine in jeder Hinsicht revolutionäre Gemeinschaft. Denn unsere Freunde in Sèvres entstammen den verschiedensten Gruppen und Bekenntnissen.

LeerDieses Boot für Flüchtlinge ist von selber zu einer geistigen Gemeinschaft geworden, die sich mit jedem Jahr erneuert. Eine kleine Avantgarde bildet sich, „die Mannschaft der Kapelle”, wie wir sie nennen. Denn selbstverständlich haben wir mit unseren eigenen Händen diese Kirche erbaut. Dazu hat, über die Mannschaft hinaus, jeder beigetragen. Im Juli haben wir hier ein internationales Arbeitslager gehabt, und alle Teilnehmer haben dabei ihren Stein gesetzt, ohne lange Geschichten und ohne Bedenken, einfach weil die Arbeit uns zu Kameraden und Brüdern gemacht hat.

LeerGott, der leidet, weil seine Kinder sich um die Wahrheit seines Sohnes streiten ihn hat Sèvres aufgenommen, wie die Seele des Mystikers Gott empfängt, den heimlichen Gast oder den verlassenen Armen. Gott ist hier zu denen gekommen, die ihn anriefen. Auch verleugnet niemand im gemeinsamen Gebet seinen besonderen Gottesdienst oder seinen Glauben. Um noch einmal Paul Evdokimov zu zitieren: Der Katholik bewahrt „die kindliche Liebe zum Ursprung der geistigen Kraft”, der Protestant bewahrt die „sakramentale Verehrung des Wortes”, und der Orthodoxe „die Verbundenheit mit der Freiheit der Kinder Gottes, die sich in der heiligen Kommunion entfaltet”.

LeerDiese Kapelle ist so bescheiden wie die Krippe des Jesuskindes, wie der Glaube, der voller Demut im Schoß der reuigen Seele entsteht, aber sie ist wie der Glaube ein Senfkorn. Sèvres hat den Namen der Ökumene ausgestreut; möchte er auf gutes Land gefallen sein!

LeerSollten einige römische Katholiken den „Irenismus” und die gemischten Gruppen in Frage gestellt haben, so muß dazu bemerkt werden, daß Rom uns nicht verdammt hat. Ich hoffe in aller Demut, daß eines Tages der Papst unsere Kapelle segnen wird, so wie er alle Unternehmungen segnet, die Glauben und Liebe beachten.

Linie

LeerHier spricht ein Katholik für die Einheit der Kirchen. Wir wollen aber, daß die Einheit weitergeht: die Christen müssen sich zusammenschließen, um Muselmanen und Juden unter sich zu empfangen, denn die Ökumene ist auch die Vereinigung derer, die Christus in sich tragen, ohne ihn zu nennen oder zu erkennen. Zudem werden Muselmanen und Juden nicht eher an den göttlichen Charakter Jesu glauben als an dem Tage, an dem wir aufgehört haben werden, uns zu spalten. Es ist nötig, daß alle Christen insgesamt den mystischen Leib Christi darstellen, damit die Gläubigen sich bekehren. Bis dahin kann niemand schuldig genannt werden. Wie kann ein „Ungläubiger” gläubig werden, an einen Christus glauben lernen, den wir nicht darzustellen vermögen? Darum sind wir verantwortlich für alle, die in dieser Welt nicht an Christus glauben oder nicht mehr an ihn glauben.

LeerDie Ökumene ist die einzige Antwort an die kommunistische Welt: wenn wir ihr zeigen wollen, daß es unmöglich ist, ohne den Christus ein Reich des Friedens und der Liebe zu verwirklichen, dann müssen wir uns vereinen, und nicht ausschließlich mit denen, die sagen „Herr, Herr!”

LeerDarum sollten wir mit den Lauen und denen, die Spaltung säen, unnachsichtig sein, mit diesen neuen häretischen Sektierern, denn der Gott, der die Liebe ist, speit die Lauen aus!

LeerÜber die Gemeinschaft von Sèvres sprechen ist ein schwieriges Abenteuer, denn nur im Schweigen ließe sich ausdrücken, was sie ausstrahlt.

LeerKeine Hausordnung ist uns hier auferlegt - uns, die wir aus Osteuropa kommen oder anderswoher. Freiwillige Disziplin sichert uns größte Freiheit, in einem neuen Lebensstil, den wir vorher nicht kannten.

LeerAls „Displaced Persons”, die wir sind, hat jeder seine Odyssee. Aber wir haben eine gemeinsame Erfahrung, und aus ihr ist unsere Gemeinschaft entstanden. Denn wir alle sind „verschleppte Personen” in einer gottlosen Welt. Daß man uns im besonderen so nennt, scheint mir nur äußerlich zu sein, der notwendige historische Anlaß, uns unser menschliches Abenteuer klar, zu machen. Es hat sich herausgestellt, daß wir aus reiner Gnade selber uns den Ort geschaffen haben, der uns fehlte, den Fuß auf die Erde zu setzen, auf den Boden einer neuen und wahren Heimat. Von unseren eigenen Händen gebaut, hat er sich vor uns aufgerichtet, und durch die Pforten unserer Kapelle sind wir in die Welt eingetreten.

Linie

LeerDer orthodoxe Christ führt sein Leben im Rhythmus des kirchlichen Kalenders. Die großen Entscheidungen, die großen Fragen seines Lebens fügen sich dem Licht der Geschehnisse des Kirchenjahres ein, an denen er nicht einsam teilnimmt, sondern mit allen seinen Toten - seinen Eltern, Freunden, Kameraden und Mitbürgern.

LeerIn unseren Tagen mag es für einen Menschen der westlichen Welt schwer sein, sich vorzustellen, wie ein ganzes Land sich an einem kirchlichen Feiertag im Gebet vereint, oder daß ein ganzes Dorf zur Kirche kommt, oder daß eine ganze Schule - Lehrer und Schüler - zu Füßen des Altars kniet, um die Kommunion zu empfangen.

LeerDaß wir dem Kirchenjahr gemäß leben, nicht weil es im Kalender steht, oder weil dieses oder jenes Fest uns Tafelfreuden verheißt, sondern aus einer neuen seelischen Einstellung heraus, die auf unser ganzes Leben wirkt, und anderseits das Gefühl der Gemeinschaft, die sich in kleinsten und ganz persönlichen Handlungen der Nächstenliebe ausdrückt, bis hin zur gemeinsamen Hoffnung auf das ewige Heil, das sind die beiden wesentlichen Elemente, die uns Orthodoxe dazu geführt haben, uns der ökumenischen Gemeinschaft von Sèvres, anzuschließen.

LeerDie Vorbereitungszeit hier verwirklicht ständig die Legende vom Reichen, der ins Himmelreich kommen wollte. Vor allem bezeichnen die kirchlichen Feste Kardinalpunkte im Chaos der Welt, in der wir leben. Es handelt sich darum, Bescheid zu wissen, zu allererst über uns selbst, das heißt, die Echtheit unserer Bemühung zu prüfen, sie unter dem Zeichen der Aufrichtigkeit und unserer jugendlichen Opferfähigkeit recht zu lenken.

LeerEin solches gemeinsam begangenes Fest, Weihnachten 1949, hat uns auf den Gedanken gebracht, eine Kapelle zu bauen. Bis wir uns Ostern 1950 an die Arbeit machten, haben wir wahrhaftig eine harte Zeit verlebt. Wir mußten in die Welt hinaus und dort zu Leuten reden, an die sogar jede Schönheit des Wortes und der Geste verschwendet war.

LeerFür uns, die wir aus dem Osten kommen, und von denen die meisten das waren, was man so nett DP's nennt, war es noch viel schwerer, unsere Schüchternheit zu überwinden, und mehr noch unsere Verachtung für das System der westlichen Logik. Aber Furcht und Zittern haben gesiegt, wir konnten geistig zugrundegehen, und wir haben uns ans Werk gemacht.

LeerWeihnachten, Ostern, wieder Weihnachten ... Ziegelsteine, von protestantischen, katholischen, orthodoxen Händen gelegt, bilden gemeinsam ein festes Haus, das wächst, das immer noch wächst.

Linie

Persönliches Nachwort

LeerUnsere Gemeinschaft tritt in ihr drittes Jahr ein. Einige dreißig Studenten und Studentinnen aus fünfzehn verschiedenen Nationen, Orthodoxe, Protestanten und Katholiken bilden sie. In Wirklichkeit ist sie größer, denn die Fortgegangenen bewahren getreulich die Verbindung mit dem „Mutterhaus”. Nach und nach hat sich der Wunsch herausgebildet, der Wirkung der Zeit und der Entfernung zu widerstehen, sich als geistiger Orden zu fühlen, dessen Angehörige, einmal in die Welt geworfen, sich in befohlener Mission finden, einer Mission des Zeugens als ein Orden von Zeugen. Zweierlei zeichnet sie im besonderen aus: der Geist der Ökumene und der Geist der Gemeinschaft, im übrigen lebt jeder sein eigenes Leben.

LeerUm die Bedeutung der beiden Lebensformen ganz zu verstehen, muß man erkennen, daß die Flüchtlinge zugleich mit ihrer Kirche in der Emigration das sicherlich Teuerste wiederfinden, das sie besitzen: in der Kirche ist zugleich ihr Vaterland in gewisser Weise gegenwärtig. Aber gerade die so heraufbeschworene Erinnerung, die so freundlich und zugleich so bitter ist, läßt sie mit dem Psalmisten fragen: „Wie sollen wir singen auf fremder Erde?” Sie macht das Gefühl, im Exil zu leben, unvergleichlich viel schmerzhafter, in allen Aufnahmeländern ein Fremdkörper zu sein. Die ökumenische Bewegung dagegen, die danach trachtet, zusammenzufügen, schafft den Boden eines echten christlichen Universalismus, auf dem niemand sich mehr als Fremdkörper fühlt, ohne daß dabei etwas von dem ethnischen Element verloren ginge, das an seinem Ort durchaus seinen Wert bewahrt. Denn gerade hier fühlt man mit aller Macht, daß wir alle in gleicher Weise Vertriebene sind, die das himmlische Jerusalem suchen. Ein mächtiger Wind treibt die natürlichen Gefühle der Verbundenheit an und vergeistigt sie.

LeerIn einem solchen Klima hört man aufmerksamer den Anruf, „in der Welt und nicht in ihr zu sein”, zu besitzen, als besäße man nicht. Der Zwang der Verhältnisse hat uns unmittelbar in das größte Paradoxon der christlichen Situation geführt: immer unterwegs sein in beiden Welten, immer gleichzeitig in zwei verschiedenen Dimensionen leben, jenseits der Liebe zum eigenen Volk die große Bruderschaft aller Menschen finden, und auf dem tiefsten Grund des eigenen Glaubens wie der vollständigsten Treue zur eigenen Kirche den Anruf der Ökumene vernehmen - stufenweise die Weihen durchlaufen: Sohn der eigenen Nation, Gläubiger der eigenen Kirche, Kind des Gottesreiches.

LeerDie sichtbaren Bande zum Vaterland, zur angebotenen Umwelt zerreißen schafft tiefes Leiden, aber solches Leiden vertieft den Menschen. Wie alle irdischen Beschwerden, birgt es in seinem Schoß eine große Erleichterung: Freiheit des Urteilens, wie sie der Pilger besitzt, objektivere Einschätzung der Güter dieser Erde, unmittelbarere Erkenntnis der geistigen Werte. Eine solche Mentalität nimmt leicht eschatologische Färbung an, denn sie orientiert auf das Ende hin. Eine bestimmte Ungeduld im Ertragen der Schranken regt dazu an, die explosive Berufung der Kirche zu entdecken, in jener Unruhe, die die Kirche selber verpflichtet, sich unablässig zu fragen: Wer bist du? Was ist deine Aufgabe? Dazu macht der Daseinskampf den Leidenden beinahe übersensibel und formt in uns gebieterisch die Vorstellung einer Kirche, die dem Heil der ganzen Welt dient.

Linie

LeerDa der König gekommen ist, muß auch sein Reich im Werden sein. Sein Reich muß gesucht und gefunden werden. Aus dem gestaltlosen Zustand des Pfarrkindes geht man zur bewußten Anwesenheit in der Welt über, aber auch das erweist sich schnell als ungenügend. Wenn man das Leben eines Verschleppten intensiv lebt, ist das Dasein in der Welt, das Dasein in jedem Gottesdienst nur dann etwas wert, wenn damit eine Bresche geschlagen wird, wenn es die Gewalt besitzt, sich des Reiches Gottes zu bemächtigen, wenn es „etwas anderes” in die Welt bringt, damit der Geschichte eine andere Richtung gibt und sie in die Dimension des Reiches des Vaters führt.

LeerIn solcher Perspektive muß die ökumenische Kapelle von Sèvres gesehen werden. Hier wird kein Anspruch auf Glanz und Größe erhoben. Hier ist nichts als bescheidenes, demütiges Bemühen, aber - damit steht die ganze Frage vor uns, und sie bleibt immer offen - wenn das kleinste Stück des Glaubens echt ist, gewinnt er sofort eine universale Resonanz, wird er zur Stimme des Ganzen.

LeerAls Schwerpunkt und zugleich Ausdruck unseres Geistes war die Kapelle schon vorhanden, ehe die Grundmauern gelegt wurden. Unser Gebet wuchs mit ihren Mauern. Jeden Abend hört man dort für die Einheit der christlichen Welt beten, für Frieden in der Zeit, und daß überall einer des Anderen Last trage. Das Berufsleben oder das Studium, jede Arbeit und ebenso der nebensächlichste Handgriff bei der Hausarbeit nehmen ganz von selber etwas von diesem Abendgebet an - etwas von einem Gottesdienst. So wird die Kapelle über ihre Mauern hinaus ausgedehnt, so lernt man, mit den Händen und den alltäglichsten Verrichtungen beten.

LeerEs ist unsere tägliche Prüfung, mit Zittern zu vergleichen, ob die geistige Kapelle auf dem Grunde unserer Seelen, ob unser Leben in der Gemeinschaft insgesamt mit dem Gebäude in Stein und Ziegel übereinstimmt, mit der göttlichen Gegenwart, die sie beseelt. Können wir uns in ihm betrachten wie in einem Spiegel? Das ist unsere Hoffnung. Sie wirft uns jeden Tag von neuem um und hält uns wach. Und schließlich läßt sich darin eine prophetische Bedeutung erkennen. Unsere Kapelle ist nicht die Kirche einer Konfession, sie ist sogar nicht einmal eine Kapelle. Genauer müßte man sie ein Oratorium nennen, eine Stätte des Gebets. Durch Protestanten, Katholiken, Orthodoxe errichtet, ist sie unabhängig von der historischen konfessionellen Situation.

LeerDaß absichtlich nichts vorhanden ist, was sie einer Konfession weihen könnte, macht sie unabhängig von dogmatischen Forderungen und übergeht die Frage der gegenseitigen Beziehungen der Kultstätten. Der ganze Komplex des Dogmas und des kanonischen Rechts spielt keine Rolle mehr. Hier ist eine offene Stätte, wo jeder Priester und jeder Pastor an den Steinen der Wände die Spuren der Hände, die sie gelegt haben, erkennen kann, lebendige Zeichen seines besonderen Glaubens, so daß er in voller Freiheit und voll ökumenischer Liebe seinen Gottesdienst begehen kann. Nichts hindert hier, daß jeder Gott auf seine Weise lobt. Ein Ort, der empfängt und vereint, ein Ort, an dem der Gesang zu Gott weithin und frei schallt, ohne Hintergedanken. Damit wird etwas verwirklicht, was sich nicht ausdrücken läßt, dessen Wahrheit aber alle bestürzend anrührt, die aus der Welt kommen - die nicht allein kommen und hören, sondern auch kommen und sehen.

Quatember 1955, S. 36-39

[Biographie Paul Evdokimov (Englisch)]

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-19
Haftungsausschluss
TOP