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Retraite und Meditation in Taizé
von Frère François Stoop

LeerFür das Zeugnis der Christen in der modernen Welt wird die Frage einer geistlichen Bildung immer dringlicher. Wir wissen, daß gegenwärtig viel von uns allen verlangt wird. Wir sind das „Licht der Welt”, alle haben wir die Verpflichtung zum Zeugnis der Kirche Christi, sind lebendig beteiligt daran. Dies ist der Sinn unseres Christenlebens; dies ist auch das Wesentliche, um Notwendigkeit und Anwendung der geistlichen Retraite zu verstehen.

LeerDie geistliche Retraite will uns zubereiten für unseren Dienst an Christus, für unser Leben als Christ dort, wo wir hin berufen sind. Sie will uns stärken, uns freier machen in unserem Glauben und unserer Liebe, uns helfen das einzig Wichtige wieder ins Auge zu fassen, vor allem nach dem kommenden Reiche zu trachten. Die geistliche Zucht einer Retraite „n'a donc d'autre fin qu'une plus grande disponibilité” (hat deshalb keinen anderen Zweck als eine größere Verfügbarkeit zum Zeugnis). (Die Regel von Taizé, Vorwort.) Obwohl für einige Zeit völlig herausgehoben aus dem gewöhnlichen Rahmen unseres Alltags, soll eine Retraite konkret und einfach sein, in direkter Verbindung mit unserem täglichen Glaubensgehorsam. Weil die Retraite ihr Ziel nicht in sich selbst hat, soll ihre Praxis anpassungsfähig sein, den Anforderungen des Dienstes eines jeden entsprechend, anpassungsfähig und frei zu diesem Suchen nach dem Reiche Gottes.

LeerSomit erkennen wir die Notwendigkeit, geistliche Retraiten zu halten. Unsere Verfügbarkeit verlangt eine Bildung, unsere Eingliederung in die Kirche verpflichtet uns „acht zu haben auf uns selbst” (1.Tim. 4, 16). Gewiß, die Wirksamkeit unseres Zeugnisses hängt nicht von unseren Anstrengungen innerer Zucht und Sammlung ab; aber wir müssen das Vertrauen der Vögel unter dem Himmel haben, daß die echte Wirksamkeit auch nicht von unseren Bemühungen und unserer Arbeit abhängig ist. Wir dürfen die Freiheit haben, Zeit hinzugeben für Gott, ganz umsonst. Unsere Retraite, die konkret auf unseren Glaubensgehorsam hin ausgerichtet sein soll, wird demgemäß auch zum Zeichen des einfachen und direkten Lobes des Reiches Gottes, gleich dem Beispiel der Vögel und Blumen.

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LeerWährend zwei oder drei Tagen lebt der Retraitant in mehr oder weniger streng eingehaltener Einsamkeit: er bewohnt sein Zimmer im Retraitehaus, nimmt jedoch an den Offizien und an den Mahlzeiten der Communauté teil. Es ist von großer Wichtigkeit, daß eine Retraite inmitten einer Communauté gehalten wird. Die stete Folge von Vorbereitung und Empfang und besonders von Liturgie und gemeinsamem Gebet gibt der Retraite einen Rahmen der Ruhe und der Begegnung mit Gott, und vielleicht einen Rahmen der Gegenwartsnähe, geschaffen durch die Arbeit der Brüder und ihre Bemühung um die Gemeinschaft.

LeerDiese paar Tage der Stille dienen dazu, uns zu „bilden” in Christus, das will heißen, daß „Christus in uns Gestalt gewinne” (Gal. 4, 19). Die natürlichste Ordnung für diese Tage wird oft sein: zuerst heimkehren zu Ihm in der Selbstprüfung (Klagel. 3, 40), und dann Vorbereitung zum Weitergehen in Seiner Gemeinschaft, in der Dankbarkeit und im Fragen nach Seinen Geboten.

LeerDie Gewissensprüfung besteht darin, sich selbst zu erforschen gemäß dem Willen Gottes, wie er sich uns in Christus offenbart. Diese Prüfung ist eine Begegnung mit Jesus, unserem Herrn. Es ist also von uns verlangt, uns zu prüfen vor Ihm demgemäß. was unser Gewissen uns ins Gedächtnis ruft. Und um fortzuschreiten in der Erkenntnis seiner Gebote, können wir die Zusammenfassungen der Bibel anwenden (2. Mose 20. Matt. 5, Gal. 5, 1. Kor. 13), oder auch einen Fragebogen, welcher die Lehre der Bibel in einer praktischen Form, in ihrer Beziehung, zur Gegenwart, zusammenfaßt. (Max Thurian, La Confession, Seite 157-167.) Dadurch aber ist die Selbstprüfung oft in Gefahr, äußerlich zu werden; darum müssen wir diese Begegnung mit Christus stets erneuern durch das Gebet und im Blick auf Sein Kreuz.

LeerIn dieser Gewissensprüfung hilft ein Bruder dem Retraitanten; seine Gegenwart durchbricht die Einsamkeit, die in sich zu subjektiv ist, sein Beistand hilft den Willen Gottes klarer zu erkennen und Seine Gnade in Christus immer wieder zu sehen, er hilft zum Fortschreiten in der Selbsterkenntnis. In den Gesprächen einer solchen direction spirituelle vollzieht sich schon eine Beichte. Aber wenn der Retraitant eine neue Gewißheit, ein klares und persönliches Zeichen der Vergebung seiner Sünden in Christus wünscht, kann er von dem ihn führenden Bruder die Absolution erhalten.

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LeerDiese Rückkehr zu Christus ist der Beginn eines neuen Weges, eines Weges der Dankbarkeit, des Glaubens an den Sieg, der Hoffnung, des Lebens im Heiligen Geist. Die Retraite setzt sich fort in der Meditation, im Horchen auf Gottes Willen für die Zukunft und in der Kontemplation. Die Meditation ist immer auf die Bibel ausgerichtet. Paulus bezeichnet für den Diener Christi die Kenntnis der Schrift als unentbehrlich für sein Amt (2. Tim. 3, 14-16). Und die Meditation ist notwendig dafür, damit der Text wirklich aufgenommen, unserem Leben völlig eingegliedert werde und daß er sein Licht leuchten lasse in alle Bereiche unserer Existenz. Diese Meditation bedeutet also einfach suchen und arbeiten, bis wir Christus gefunden haben in diesem Text, bis der Text Evangelium, frohe Botschaft werde für uns. Wir lesen ihn, wir versuchen seinen Sinn zu erfassen, seinen Akzent und die Wirklichkeit, die er darstellt, wir wenden ihn an auf unser Leben, unsere persönliche Situation, auf unsere Verhältnisse; und vor allem beten wir ihn, sprechen seine Botschaft betend nach. Der Text wird sich vereinfachen, wird zum Evangelium für uns und wird uns diese Begegnung mit Christus schenken, welche die Kontemplation ist. Die Meditation findet ihre Erfüllung in diesem Blick des Glaubens auf Den, der die vollkommene Offenbarung Gottes ist. Es ist eine Kontemplation, bestimmt und unterstützt durch das sichtbare Zeichen der Liebe Gottes, das Kreuz, Zeichen der „Erhöhung” Christi (Jean de Saussure, Contemplation de la Croix, Deláchaux und Niestlé, Neuenburg).

LeerAber was die Einsamkeit uns vornehmlich schenkt, das ist die Möglichkeit zum Gebet, frei zu sein, um das Reich Gottes betend, lobend, dankend und fürbittend zu suchen. Wie Calvin geschrieben hat in seiner Auslegung von Apostelgeschichte 10, 9: „Car la retraite aide grandement à prier, ce que Christ lui-même n'a pas oublié de pratiquer, afin que l'esprit étant mieux à délivre et détourné de tous les destourbiers, seit plus attentif à Dieu” (Die Retraite hilft außerordentlich zu beten, Christus selbst hat nie vergessen dies anzuwenden, damit der Geist befreiter und abgewendet von allen Hindernissen aufmerksam sei auf Gott).

LeerDie Intensität des Lebens in einer Retraite fordert auch die Ausspannung und die Ruhe. Der Spaziergang ermöglicht eine um so heilsamere Meditation, je ausgespannter, absichtsloser, freier sie ist; die Schönheit der Schöpfung befreit uns oft von dem, was die Einsamkeit an Belastung und Verschlossenheit birgt. Damit verstehen wir von neuem, daß für diese individuellen Retraiten die wesentlichsten Voraussetzungen eine große Anpassungsfähigkeit und Elastizität sind; jeder soll demnach seine Retraite halten können, mit der Hilfe eines Bruders, aber ohne dabei etwas durch Zwang einzuengen. Das alles geschehe in der wunderbaren Freiheit, die Christus uns gegeben hat.

Quatember 1955, S. 102-103
© Frère François Stoop

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-19
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