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von Friso Melzer |
In Indien gibt es, was kein westliches Land kennt: ohne Ehe, ohne Familie, ohne Beruf und Besitz ziehen Tausende, ja Hunderttausende von Männern als Einzelgänger durch die Gangeshalbinsel. Sie gehören keinem Orden an und kennen kein Kloster als Ort der Sammlung. Das sind die Sadhus - fromme Bettler, Arme, mit einem Wort: Wandermönche (aber das Wort „Mönch” wörtlich genommen: „Einzelgänger”). Sie haben, sofern es sich um echte und ehrliche Sadhus handelt - es gibt auch zahlreiche Tagediebe im Gewande der Sadhu -, das Gelübde getan, heimatlos, arm und ehelos dieser Welt absterbend zu wandern, von Heiligtum zu Heiligtum zu wandern. Wer diese Ordnung, die aber von keiner Regierung, von keiner weltlichen Macht je geordnet oder gar angeordnet worden ist. verstehen will, muß geistig seinen Weg über das alte Rußland des orthodoxen Christentums nehmen: dem russischen Popen (der unserem Gemeindepfarrer ähnelt) entspricht in Indien der Tempelpriester; dem russischen Starez (dem „Alten”, das ist der Ehrenname des russischen Wandermönchs) entspricht der indische Sadhu. Der Pope verdankte sein Ansehen nur seinem Amt, als Person bedeutete er meist nicht viel; der Starez dagegen als Beichtvater und Seelsorger des russischen Volkes war, was er galt, durch sein Wesen, sein Selbst. Gleich dem Popen, nur noch in viel stärkerem Maße, erscheint der indische Tempelpriester als ein notwendiges Übel, dem das Volk nur die Achtung entgegenbringt, die er durch die Macht seines Amtes erzwingt, jene Mischung von Religion und Aberglauben. Der Sadhu dagegen findet offene Herzen und offene Türen - zwar nicht überall, aber doch bei den Frommen und Suchenden, die es unter den Hindu in großer Zahl gibt. Wie groß dieser Gegensatz zwischen Tempelpriester und Wandermönch in Indien ist, erfuhr ich eindrücklich, als ich 1937 bei meinem einzigen Besuche in Madras abends im Eingeborenenviertel mit einem anderen Missionar zusammen ins indische Kino ging und dort einen jener bezeichnenden Filme sah, die nichts weiter als hinduistische Religion und Mythologie bieten. Wir konnten im Film an Tempelzeremonien teilnehmen, die uns als Weißen sonst verwehrt waren. Als die Tempelpriester im Film auftraten, ging durch die Reihen der jungen Männer Gelächter und Widerspruch; als dann aber ein Sadhu kam, wurde es totenstill. Die Priester erschienen denn auch entsprechend fast als Zerrbilder, der Sadhu dagegen von reiner Luft und Hoheit umgeben. So viel über den Sadhu im Hinduismus. Wie aber steht es mit der Gestalt des Sadhu im indischen Christentum? Vielleicht ruft der eine oder andere Leser überrascht aus: Christliche Sadhus? Gibt es das denn überhaupt? Darf es diese Gestalten in christlichern Gewande überhaupt geben? Nach dem Dürfen, nach der Erlaubnis von Kirchenleitungen und Theologieprofessoren hat keiner gefragt. In Indien entsteht oder wächst manches ursprünglich, wurzelhaft. Vielleicht ist dies überhaupt der Weg echten Lebens? So daß Lehre und Verwaltung erst nachher sich der neuen Dinge annehmen. Wichtig ist und bleibt: Inmitten einer westlichen Gestalt des Christentums, die wir Abendländer nach Indien gebracht haben, ist schon vor fast einem halben Jahrhundert die indische Seele aufgewacht und zu eigener Gestaltung geschritten. Der christliche Sadhu ist Wirklichkeit und nicht mehr aus dem indischen Christentum fortzudenken! Dabei gibt es angesichts des christlichen Sadhu nicht nur Freude und Dank, denn auch hier haben sich falsche und faule Christen des altehrwürdigen safrangelben oder orangefarbenen Gewandes bedient, auch hier gilt es die Geister zu prüfen. Deshalb sei gleich zum Anfang von dem Zerrbild des christlichen Sadhu berichtet. Es war vor rund zwanzig Jahren in Basel, und ich stand vor meiner Ausreise nach Indien. Da rief mich die Hausmutter des Basler Missionshauses zu Hilfe: Ein Inder sei gekommen, in indischer Kleidung, ein Sadhu, also ein Wandermönch, und er habe gesagt, er sei Christ, er heiße „Kristananda” was sie tun solle. Weil ich Englisch verstand, eilte ich zu Hilfe, begrüßte den exotischen Gast und - wurde selber zweifelhaft. Mir fiel auf, daß er sehr beleibt war. Sadhus dagegen, so hatte ich immer wieder gelesen, seien im Gegensatz zu den Tempelpriestern hager und durchgeistigt. Also bat ich den Gast, mit mir zum Ersten Kassier zu kommen, der ein langes Leben in Indien geweilt hatte. Nie werde ich vergessen, wie dieser ihn begrüßte. Kaum hatte er den Inder gesehen, als er sich erhob und ihm sagte: We have nothing to do with you. Ich erfuhr nachher, dieser Mann sei ein indischer Pfarrer, im Gemeindepfarramt einer lutherischen Missionskirche. Aber er habe seine Gemeinde verlassen und ziehe in Europa herum. Er habe seine Arbeit wohl als zu anstrengend empfunden. So habe er den leichteren Weg gewählt, ziehe umher und - lasse sich bewundern. Welch ein „Sadhu”! Und sein Name „Kristananda” heißt doch „Christus (ist meine) Seligkeit”. Das Gelübde der Mutter wurde ihm zur Berufung. So zog er heimatlos und arm durch Indien, reiste auch einmal nach dem Abendland und sprach in sechs Schriften, die er auf Englisch erscheinen ließ, zu uns Menschen des Abendlandes. Man kann diese seine Schriften gesammelt, übersetzt und erläutert in einem Bande nachlesen (vom Verfasser dieses Berichtes im Ev. Missionsverlage, Stuttgart, herausgegeben). Sadhu Sundar Singh übte die Meditation, verweilte täglich lange Zeit im Gebet und wurde in den letzten Jahren seines Lebens mit der Entrückung begnadet. Aus ihr kam er mit der Kraft Gottes angetan hervor: er wurde durch sie noch fähiger zum Dienst der Seelsorge und Verkündigung in Liebe und Kraft. Als Wandermönch fühlte er sich an keine der zahlreichen Konfessionskirchen gebunden. Wie der Hindu-Sadhu außerhalb der Kastenordnung, so stand der christliche Sadhu außerhalb der Konfessionsordnung (nur in der römisch-katholischen Kirche durfte er nicht sprechen). Getauft hat er selber nie, ebenso nicht das Abendmahl ausgeteilt. Im Blick auf die Sakramente achtete er die Ordnung des Pfarramts, wie überhaupt Demut ein besonderes Merkmal seines Wesens war. Als ich vor 15 Jahren Indien verließ, lebte und wirkte an der Westküste Südindiens, im Gebiet der Basler Mission, ein schlichter Zeuge Jesu nach der Ordnung des Sadhu-Lebens. Er trug den dort nicht seltenen Familiennamen Soans, den Taufnamen weiß ich nicht mehr. Er hatte mich mehrfach besucht, und in meinem letzten Indien-Buche („Im Lande des Lotos”, 1954) habe ich ausführlicher von ihm erzählt. Was ich von ihm noch in Erinnerung habe, sind einige Dinge, die uns Abendländern zu schaffen machen. Da ist seine Armut, seine Wanderschaft, sein Leben ohne Programm. Natürlich - muß es noch besonders gesagt werden, da es doch zum echten Sadhu dazu gehört? - seine Ehelosigkeit` (und Keuschheit). Damals bewegte mich aber die Tatsache, daß er kein Programm aufstellte, keinen Terminkalender hatte. Als er mich zum letzten Mal aufsuchte, in Mangalore, erzählte er, daß er nach dem Süden fahren werde. Auf meine Frage, wer für, die Reisekosten aufkomme, erwiderte er lächelnd, seine Freunde würden ihm auf dem Bahnhof die Fahrkarte bezahlen. „Allerdings”, so fuhr er fort, „erwarteten sie mich schon heute” - es war abends, als er mich aufsuchte -, „aber ich konnte nicht pünktlich aufbrechen, denn ich hatte einen kleinen Rückfall meiner Krankheit. So werde ich erst morgen vormittag abreisen.” Das sagte er echt und ehrlich und demütig. Wir beteten miteinander, und still ging er wieder in die tropische Nacht hinaus. Zum Schluß sei noch ein Europäer erwähnt, der das Leben eines Sadhu auf sich nahm und der in allen Stücken ein indischer Sadhu wurde: C. F. Andrews. Dieser schottische Missionar mußte seine Missionsgesellschaft verlassen, um der zu werden, als der er im Gedächtnis des indischen Volkes lebt: als er Frühjahr 1940 starb, wurde er - was nie einem Europäer widerfahren war, - als „friend of India” von allen Kasten und Parteien auf der ersten Seite der großen Tageszeitung öffentlich betrauert. Er hat sich im Dienst der indischen Menschen verzehrt. Er reiste überall dorthin, wo Inder in Not waren, auch in Übersee und bat für sie. Als enger Freund Gandhis hat er Anteil daran gehabt, daß Gandhi das Evangelium kennenlernte. Daß Gandhi doch nicht Christ wurde, diese Wendung darf nicht C. F. Andrews als Schuld zugeschoben werden. Daran ist entartetes Christentum in Südafrika schuldig. C. F. Andrews war ein Mann des Gebets. Man lese seine englischen Bücher, und man wird spüren, daß man sie laut lesen muß. Liest man sie laut, so leiten sie den Lesenden unmerklich in die Seelenhaltung des Gebets. Es war ein Mann der Liebe. Er verzehrte sich in aufopfernder Liebe zu den Leidenden. Erhaben über die Grenzen der Rassen und Kasten, wirkte er als ein Bote jener Welt, die im Evangelium die Königsherrschaft Gottes heißt. Wer ihm begegnete, spürte, wie es ihm leichter wurde, in einer Welt des Hasses an die Liebe Gottes zu glauben, nicht nur an diese Liebe zu glauben, sondern sich ihr aufzutun und sie zu leben. Und das ist das Letzte, was der christliche Sadhu tun kann: ein Wegweiser zu sein auf dem Wege ins Gottesreich, eine Hilfe in der Christus-Nachfolge. Quatember 1955, S. 109-112 |
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