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Das Neuwerk und sein Bote
(Nach einem Menschenalter XIII)
von Jörg Erb

LeerDer Neuwerkbote trägt in diesem Jahr ein Reislein im Knopfloch, denn er erscheint im 25. Jahr. Würden ihm nicht die Jahrgänge von 1942-1948 fehlen, so längen jetzt 32 Jahrgänge vor. Demnach gehört er zu denen, die vor einem Menschenalter angetreten sind. Er entstammt dem großen Aufbruch, aus dem auch die Bruderschaft hervorgegangen ist, Brüder haben stets zu seinen Mitarbeitern gezählt, und viele Brüder setzen sich Jahr um Jahr für ihn ein, weil seine Botschaft von den Erkenntnissen und Kräften bestimmt ist, die in der Bruderschaft lebendig sind.

LeerEr hat seinen Ausgang vom Habertshof bei Schlüchtern genommen. Das war ein Bauernhof auf einem Höhenrücken, der Rhön und Vogelsberg verbindet. Zwanzig Hektar Gelände gehörten dazu, Wiesenland, Ackerland und auch Ödland, das als Weide benutzt wurde. Hier faßte bald nach dem ersten Weltkrieg eine Gruppe „jugendbewegter” Menschen unter Eberhard Arnold Fuß. Diese Menschen litten unter der Zerrissenheit und Entwurzelung unseres Volkes, das vom Bürgerkrieg bedroht war. Sie kauften den Hof mit Schulden, legten Beerenkulturen an, betrieben eine kleine Handelsgärtnerei, gründeten einen Verlag, betrieben eine Versandbuchhandlung und lebten miteinander in Gütergemeinschaft.

LeerSie wollten der alten Welt des Kampfes und des Widereinander eine Gemeinde des Friedens und des Füreinander entgegenstellen. Sie wollten nicht mehr um Besitz, Geld und Macht kämpfen, sondern den Bruder über die Dinge stellen und mit ihrem Leben dem Nächsten dienen. Sie waren Städter und suchten die Verbindung mit dem Boden. Sie brachten viel guten Willen, aber wenig Fachkenntnisse mit und mußten viel Lehrgeld zahlen. Mit den Jahren wurde ihnen deutlich, daß die Grundlage für ein solches Leben des Füreinander nur im christlichen Glauben zu finden sei. Sie waren bestrebt, nach dem Worte zu leben: „So wir im Lichte wandeln, wie er im Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander.” Sie hielten die Erkenntnis fest, daß man nur mit dem Bruder an der Hand in Gottes Gnadenkreis treten darf.

LeerDie Schlüchterner Jugend hatte um ihres kühnen und radikalen Ansatzes willen, durch das Sprachrohr ihres Verlages und durch die Volkshochschule auf dem Habertshof unter Emil Blum durch mehrere Jahre hindurch eine erhebliche Strahlkraft in die bündische Jugend hinein. Auch wer nie auf dem Habertshof war und an keinem der Schlüchterner Pfingsttreffen teilgenommen hatte, fühlte sich angesprochen. Bedeutsame Männer mit Namen und Rang zählten zu den Freunden dieser Jugend. Wir nennen hier nur Georg Flemmig, den weisen und gütigen Rektor von Schlüchtern, den Verfasser der „Dorfgedanken” und des „Hausbacken Brot”.

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LeerDieser Freundeskreis trug auch die Zeitschrift „Neuwerk”, die im Neuwerk-Verlag, Schlüchtern-Habertshof herauskam. Die Herausgeber faßten die Aufgabe der Zeitschrift in die Worte: „Dienst am Werdenden, das ist das Gegenteil von aller Diktatur, auch der des Geistes. Das bedeutet kein Machen, Schwärmen oder Träumen, aber auch kein müdes unlebendiges Warten. Das Ergriffensein von dem, was werden will, von dem alten Wahren eint uns zu der Gemeinde der Hoffenden”. Im gleichen Sinn, aber in volkstümlicher Weise sollte der Neuwerk-Kalender wirken, der zum ersten Mal auf das Jahr 1925 erschien und von Wilhelm Praesent, einem jungen Lehrer in der Schlüchterner Gegend, herausgegeben wurde.

LeerHinter dem Kalender stand der Volkserzieher Georg Flemming. Für ihn bedeutete der Kalender Dienst am Volk, einen Dienst der Liebe. Dieser Ansatz war fruchtbar; noch heute lebt der Name Neuwerk im Neuwerkboten weiter. Wir jungen Menschen schauten vor dreißig Jahren verächtlich auf so eine altmodische Angelegenheit herab, wie es die üblichen Kalender unserer Meinung nach waren. Was sollten wir mit Kalendern anfangen? Aber mit dem Neuwerkkalender machten wir eine Ausnahme, der gehörte auf unsere Seite. Das war ein Kalender der Jungen, ein Kalender des Aufbruchs. Er sammelte die Menschen, die in nüchternem, fröhlichem Gehorsam den Kampf für eine neue Lebensordnung der Liebe zu kämpfen bereit waren und leben wollten als ein Schatten dessen, was kommen mußte.

LeerIm Neuwerkkalender schrieben Männer wie Paul le Seur und Johannes Zauleck, der Herausgeber des „Mutigen Christentums”. Die zupackende und angriffsfreudige Art tat es uns an; der Neuwerkkalender wurde unser Kalender. Zwar brachte er in den ersten Jahren fast nur Aufsätze und viel Gedankenfutter, aber das war uns damals gemäß; wir wollten nicht mit Geschichten getröstet werden. Aber von Jahr zu Jahr mehr befleißigte er sich einer edlen Volkstümlichkeit, und schon um 1930 räumten ihm einsichtige Männer unter den Volkskalendern den ersten Platz ein. Diese Entwicklung verdankte der Kalender der Arbeit Wilhelm Praesents. Sie war zugleich auch ein Verdienst von Karl Vötterle, der den Kalender und den ganzen Neuwerk-Verlag im Jahre 1927 übernommen hatte.

LeerAls nach 1933 der Kirchenkampf begann, bekannte der Kalender eindeutig Farbe. Im Jahrgang 1935 steht zu lesen: „Wir kämpfen um ein christliches deutsches Volk, wir sind der Überzeugung, daß Deutschland verloren ist, wenn man ihm das Christentum nimmt. Wir wissen, daß das Christentum weithin eine äußerliche und leicht entbehrliche Angelegenheit geworden ist und wie selbst bei schlichten, einfachen Menschen in Dorf und Stadt die Gleichgültigkeit gegenüber dem Kern der christlichen Botschaft in erschreckendem Maße zunimmt. Was uns aber am meisten Not macht: der größte und getreueste Teil unseres Volkes, der Bauernstand und weithin der Arbeiterstand sind seelisch entwurzelt, wenn ihnen das Christentum genommen wird. Es geht also zugleich um die Existenz des deutschen Volkes.”

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LeerDiese Sätze fanden sich in einem Hinweis auf den Sonntagsbrief, ein evangelisches Sonntagsblatt, das im Jahre 1933 begründet und von Wilhelm Thomas im Bärenreiter-Verlag herausgegeben wurde. Es trug an seinem Kopf das Ankerkreuz, das hernach das Zeichen des Stauda-Verlages wurde, und stützte sich auf den Berneuchener Dienst und auf die Leserschaft des Kalenders. Das Blatt führte keine unfruchtbare Auseinandersetzung mit der staatlich geförderten „Gottgläubigkeit”, sondern bemühte sich, einen neuen Grund zu legen und darzutun, was wir am Evangelium haben und was es um die heilige allgemeine apostolische Kirche sei. In enger Kampfgemeinschaft mit dem Sonntagsbrief schritt der Neuwerkkalender durch jene bewegte Zeit, bis dem Neuwerk-Verlag der „Sonntagsbrief” im Sommer 1935 verboten wurde und das Blatt den Verlag wechseln mußte.

LeerAber auch für den Kalender wurde es immer schwieriger, die klare Richtung einzuhalten, denn gerade auf das Kalenderschrifttum nahm die parteiamtliche Prüfungskommission stärksten Einfluß. Es ging nicht ohne Zugeständnisse an die herrschende Weltanschauung und politische Richtung, und im Jahrgang 1937 mußte erstmals ein „Auflage”-Aufsatz für die NSV aufgenommen werden. Unter diesen Umständen trat Wilhelm Praesent als Herausgeber zurück, nachdem er dreizehn Jahrgänge besorgt und dem Kalender Jahr um Jahr und Zug um Zug sein Gepräge gegeben hatte.

LeerDer Verlag wollte und konnte ein Aufgeben des Kalenders in der Kampfsituation jener Jahre nicht verantworten; auch fand der Kalender von Jahr zu Jahr größeren Absatz und hatte 1938 eine Auflage von 50 000 erreicht. Er bat den Verfasser dieses Aufsatzes, die Betreuung des Kalenders zu übernehmen. Dieser hatte durch seine Mitarbeit am „Sonntagsbrief” einen größeren Kreis von Menschen angesprochen. So schien es richtig, daß, nachdem ein Wechsel notwendig geworden war, er als Michaelsbruder den Kalender übernahm.

LeerDie Arbeit war sehr schwer, und es mußte viel gewagt werden. Jedes Jahr gab es ein nervenaufreibendes Umbauen und Umladen, ein Hangen und Bangen, bis der Kalender die enge Schleuse der Zensur passiert hatte. Jedes Jahr war der Wagen zu breit geladen, und jedes Jahr mußten Dinge aufgenommen werden, die als Fremdkörper im Kalender wirken mußten. Aber der neue Herausgeber vertraute darauf, daß die Leser den Herzton von den Nebengeräuschen unterscheiden würden, und diese Hoffnung hat nicht getrogen. Die wenigen Zuschriften, die in völliger Verkennung der Lage urteilten, daß der bis dahin so aufrechte Neuwerk-Kalender nun auch weiche Kniee bekommen habe, mußten verschmerzt werden. Der Kalender konnte in diesen Jahren des Zwangs noch viele Christen trösten und stärken. Vier Jahrgänge konnten noch durchgebracht werden, und die Auflage kletterte auf 100 000 hinauf. Der Jahrgang 1942 durfte nicht mehr erscheinen.

LeerIn der Rückschau scheint es uns heute kaum faßbar, daß der nächste Jahrgang erst wieder 1949 erscheinen konnte. Wir haben schnell vergessen, wie schwer der Wiederanfang war. Zwar hatten wir schon auf das Jahr 1947 einen Kalender vorbereitet; aber die Besatzungsmacht genehmigte keine Jahrbücher. Darum erschien dieser Jahrgang in Buchform als „Bote aus der Heimat, ein Büchlein von unserem irdischen und ewigen Vaterhaus” im Mai 1947 in der bescheidenen Auflage von 5 000; aber im September hatte es schon eine Auflage von 100 000 erreicht. Die amerikanische Sektion des Weltkonventes der lutherischen Kirchen stiftete das Papier. Unser Bruder Herbert Krimm hat als Generalsekretär des Hilfswerkes viel für dieses Buch getan und hat auch als Herausgeber gezeichnet.

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LeerIn dem Büchlein war viel von dem Elend der notvollen Jahre eingefangen, es wies in zu Herzen dringender Sprache auf die Quelle allen Trostes hin; darum wurde es vor allem von den Vertriebenen dankbar aufgenommen. Auch der Kalender auf das Jahr 1949, der im Oktober 1948 in einer Auflage von 100 000 erschien, bedurfte noch sehr seiner kräftigen Förderung. Auf der dritten Umschlagseite steht in großen Buchstaben der Eindruck: „Die Herausgabe dieses Kalenders wurde ermöglicht durch eine Rohstoffspende der Amerikanischen Sektion des Lutherischen Weltbundes an das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland”. Der „Neuwerk-Bote” schuldet Dr. Herbert Krimm viel Dank.

LeerSeither erscheint er in Verbindung mit dem Hilfswerk, und das ist durchaus folgerichtig; denn die Diakonie ist sein hervorstechendes Anliegen geblieben vom Ursprung an bis heute. Der eben erschienene 25. Jahrgang 1956 fügt zum erstenmal zu der Verbindung mit dem Hilfswerk die mit der Inneren Mission dazu. Der Kalender ist seit Jahren eine Gemeinschaftsarbeit von Jörg Erb und Paul Gümbel. An Lob für den Kalender mangelt es nicht; aber seine hohe Auflage von ehedem hat er nicht halten können, vor allem deshalb, weil er mit Ost- und Mitteldeutschland einen großen Abnehmerkreis verloren hat. Deshalb ist er vor allem auf die Treue der Freunde angewiesen, mit denen er sich im Berneuchener Dienst und in der Evangelischen Michaelsbruderschaft verbunden weiß.

LeerWie ist sein Verhältnis zur Bruderschaft heute? Manche mittelalterlichen Kirchen und Kapellen haben nach dem Friedhof hin eine Außenkanzel. Diese Kanzeln waren den wandernden Predigermönchen vorbehalten, die von dort aus zum Volk der Wallfahrer sprachen. Die Außenkanzel war eine Missionskanzel. Die drinnen am Altar die göttlichen Geheimnisse feierten, verkündigten von der Außenkanzel das göttliche Wort dem Volk, das draußen stand. Es war die gleiche Botschaft, wie sie am Altar der Kirche bezeugt wurde, wenn sie auch mit anderen Worten geschah als im Konvent der Brüder, und es bestand eine segensvolle Spannung zwischen dem Dienst „drinnen” und dem Dienst „draußen”.

LeerDer Neuwerk-Bote steht auf einer solchen Außenkanzel, und es fehlt ihm nicht an Zuhörern; das bezeugen viele dankbare Zuschriften. Seine Laienpredigt erwächst ihm aus der Feier der göttlichen Geheimnisse mit den Brüdern und aus der Teilhabe an ihrer Betrachtung des göttlichen Wortes und ihrer brüderlichen Gemeinschaft. Diese Verbindung sollte nicht übersehen werden, vielmehr Ursache werden zu einem freudigen Einsatz für ihn.

Quatember 1956, S. 23-25

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-25
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