 Wenn heute von neuen und in die Zukunft weisenden Bewegungen in der evangelischen Kirche die Rede ist, wird meist nur vom Kirchentag und von den Evangelischen Akademien gesprochen, die die öffentliche Aufmerksamkeit in ungewöhnlicher Weise beanspruchen. Dagegen treten die Bemühungen um eine Neugewinnung des Apostolats auf bruderschaftlicher Grundlage, die heute als ein Aufbruch in beinahe revolutionären Formen überall in der evangelischen Christenheit zu beobachten sind, fast ungebührlich in den Hintergrund. Das ist zum Teil ganz einfach sachlich bedingt: die öffentliche Aufmerksamkeit, die bei Kirchentag und Akademien unmittelbar zur Sache gehört, ist bei der Bemühung um bruderschaftliche und ordensähnliche Gemeinschaften, die in der Stille wachsen müssen, unangebracht und kann sehr schädliche Folgen haben.
Gleichwohl scheint es an der Zeit, von dem, was sich hier begeben hat und begibt, nunmehr auch in aller Öffentlichkeit zu sprechen, schon um naheliegende Mißverständnisse auszuräumen, die gerade auf diesem Gebiet viel Verwirrung gestiftet haben. Zudem hat die bruderschaftliche Bewegung, von der man heute ohne Übertreibung sprechen kann, jenes Anfangsstadium, in dem sie des unbedingten Schweigens bedurfte, bereits hinter sich. Sie braucht es nicht mehr zu scheuen, sich Gesprächen und Diskussionen zu stellen, so wenig sie Ihnen allerdings entscheidende Bedeutung beimessen kann. Denn das Entscheidende bei allen Bruderschaften liegt nicht in einer zu entfaltenden Programmatik, sondern im unmittelbaren Vollzug der Nachfolge des Herrn.
In diesen Zusammenhängen gesehen war es ein guter brüderlicher Dienst der Evangelischen Akademie Tutzing, daß sie zum ersten Wochenende der Fastenzeit, mit dem Tag nach Aschermittwoch beginnend, eine Tagung veranstaltet hat, die ganz speziell der Frage nach Recht und Aufgabe evangelischer Orden und Bruderschaften gewidmet war. Wenn es der Auftrag der Evangelischen Akademien ist, als eine Art geistlicher Spähtrupp nach dem Neuen Ausschau zu halten, das sich in Welt und Kirche begibt, so hat die Tutzinger Akademie diesem Auftrag mit der Bruderschaftstagung in besonders überzeugender Weise gedient. Sie war zugleich - mittelbar und gewiß ungewollt - ein Zeugnis für die innere Nähe von Bruderschaftsbewegung und Evangelischer Akademie, die bei aller äußeren Verschiedenheit ihres Tuns unverkennbar ist.
Die Tutzinger Tagung war ein großes Wagnis, weil mit ihr vollkommenes Neuland betreten wurde. Pfarrer Hildmann, Leiter der Akademie und der Tagung, hatte ihrer Vorbereitung viel Zeit und Mühe gewidmet. Er hat die wichtigsten Orden und Bruderschaften bis nach Grandchamp und Taizé vorher persönlich besucht und sich auch durch Absagen, die er gerade von der Seite der eigentlich apostolischen Communautés erhielt, in der Verwirklichung seines Vorhabens nicht beirren lassen.
Gerhard Hildmann wies zu Eingang der Tagung auf die Tatsache hin, daß vor eben hundert Jahren in der evangelischen Christenheit eine erste Bemühung um neue Bruder- und Schwesterschaft zu verzeichnen war, die in Deutschland zur Begründung der Mutterhausdiakonie und in England zu den verschiedenen anglikanischen Orden geführt hat. Allerdings zeigte sich in den nachfolgenden Diskussionen, daß die bei der Tagung anwesenden Vertreter der großen Diakonissenhäuser dem heutigen Bemühen um neue Ordensgestalt eher noch skeptischer und ablehnender gegenüber standen als die unbedingten Verfechter des Parochialsystems.
Wer mit der Befürchtung zu der Tagung gekommen war, daß sich die Vertreter der verschiedenen Richtungen in der bruderschaftlichen Bewegung in Dispute über ihre je besonderen Wege verlieren könnten, der wurde auf erfreulichste enttäuscht. Obwohl die Verschiedenheit dieser Wege ganz offenkundig war und im Verlauf der Tagung nur noch deutlicher wurde, gab es darüber keinerlei Disput, sondern die Fronten der bisweilen sehr temperamentvollen Auseinandersetzung verliefen ganz eindeutig zwischen den neuen Bruderschaften auf der einen und den Vertretern der herkömmlichen Gestalt der Kirche - als Parochie oder kirchliche Werke - auf der anderen Seite.
Es gehörte zum besonderen Charakter der Tagung, daß die ausgezeichneten Referate, zu denen unter anderen Propst Asmussenund Professor Heinz Dietrich Wendland herangezogen waren, nicht eigentlich den Mittelpunkt des Ganzen bildeten. Der lag eindeutig im Gespräch und verlagerte sich im Verlauf der Tagung immer mehr zu den Berichten über die verschiedenen Bruderschaften, die ein auch für den Sachkenner überraschend vielfältiges Bild ergaben. Dabei fehlte nicht nur eine ganze Reihe wichtiger „Kommunitäten” - wie man die neuen Gemeinschaften wohl am besten zusammenfassend benennt - sondern einiger wurde aus Mangel an Gelegenheit nicht einmal Erwähnung getan, etwa der Bruderhöfe in England und Südamerika und der evangelischen Ashrams in Indien.
Es handelt sich, wenn man diese mannigfaltigen Berichte in ihrer Gesamtheit überblickt, nicht um die Bilanz einer zielgerichteten Arbeit, wie sie die Evangelischen Akademien aufzuweisen haben. Und es konnte sich schon gar nicht um eine „Heerschau” handeln, die hier vorgenommen wurde. Es waren keine großartigen oder imponierenden Zahlen zu nennen, vielmehr stellte sich gerade dort, wo Zahlen eine Rolle spielten, am ehesten ein Bedenken ein.
Trotzdem konnte der aufmerksame Teilnehmer der Tagung nicht nur einen guten Einblick, sondern auch einen ziemlich guten Überblick über die gegenwärtige Struktur der „kommunitären” Bewegung in der evangelischen Christenheit erhalten. Man kann drei ziemlich scharf konturierte Typen von Bruderschaften unterscheiden, wobei man sich sehr hüten sollte, diese Unterscheidung mit einem voreiligen Wertakzent zu versehen: den historisch-hochkirchlichen und den mehr pietistisch geprägten sowie den zwischen beiden ungefähr in der Mitte stehenden, mehr welthaften und eigentlich apostolischen Typus.
Die Bruderschaften vom hochkirchlichen Typus spielten in Tutzing eine geringere Rolle als ihnen tatsächlich zukommt. Sie waren nur durch den seit 1921 bestehenden Humiliaten-Orden vertreten, der wie die Evangelische Johannisbruderschaft auf die geistigen Anstöße Friedrich Heilers zurückgeht. Der Tutzinger Vertreter des Ordens gab einen gerade für evangelische Ordensbemühungen besonders wichtigen Hinweis auf die in der römischen Kirche bekannte Übung der Gelübde mit zeitlicher Befristung auf drei oder auf zehn Jahre. Die Humiliaten pflegen solche zeitlicben Gelübde immer auf zwei Jahre abzulegen.
Am stärksten waren in Tutzing die Bruder- und Schwesternchaften pietistischer Prägung vertreten: von den Brüdern vom Gemeinsamen Leben, deren ältester Zweig im schweizerischen Rüschlikon bis ins Jahr 1905 zurückgeht und die gerade jetzt Bruderhäuser in Nürnberg und Augsburg eingerichtet haben, über die Christusbruderschaft in Selbitz, die im Sommer ein großes und weiträumiges Mutterhaus eröffnen wird, bis zu den Darmstädter Marienschwestern, deren Oberin Martyria gleich zu Beginn der Tagung ein besonders eindrucksvolles Zeugnis für die Berufung zum gemeinsamen Leben ablegte. Niemand konnte sich dem Ernst des Bußrufes entziehen, unter dem die Schwestern von Dannstadt vor zehn Jahren ihren Weg angetreten haben, auf dem ihnen inzwischen die Buße für unsere Untaten an Israel von Jahr zu Jahr wichtiger geworden ist.
Es wurde von vielen Teilnehmern bedauert, daß die ohne Zweifel bedeutendste der Bruderschaften neuen Stils, die Communauté von Taizé, in Tutzing nicht vertreten war. Es war aber das merkwürdige Phänomen zu verzeichnen, daß sie auch als abwesende weithin die Diskussionen der Tagung beherrschte. Eine große Anzahl von Teilnehmern kannte Taizé aus eigenen Begegnungen, die nicht nur touristischer Art waren. So blieb die Behandlung der Regel von Taizé, der ein ganzer Vormittag gewidmet war, nicht im Theoretischen stecken. Schwester Elisabeth Pontoppidan, die als deutsches Mitglied der südfranzösischen Communauté de Pomeyrol der Bruderschaft von Taizé besonders nahe steht, konnte die Erfahrungen der „Touristen” aufs beste ergänzen. Das nachdrücklichste Zeugnis aber für das, was an neuem Apostolat für die Welt mit Taizé begonnen hat, wurde am Abend durch die Wiedergabe der französischen Psalmen gegeben, wie sie in Taizé gesungen werden. Der Vehemenz dieser wahrhaft himmelstürmenden Gesänge, die Pfarrer Hildmann, als er sie in Taizé hörte, an die Marseillaise erinnerten, konnten sich auch die Vertreter herkömmlicher Positionen auf der Tutzinger Tagung nicht entziehen.
Es war gut, daß der Typus der welthaft-apostolischen Kommunität nicht nur in der Ausprägung von Taizé, sondern durch ein zu der Tagung gekommenes Mitglied der Community von lona in Schottland auch in deren ganz anderer Gestalt zur Geltung kam. Daran zeigte sich einmal mehr, daß es keinen patentierten Typ von neuer Bruderschaft gibt und geben kann, gerade weil es sich hier um eine unerhört lebendige, von Leben übersprudelnde Bewegung in der Christenheit handelt.
Soeur Elisabeth von Pomeyrol begann ihren Bericht mit der Erwähnung des bemerkenswerten Faktums, daß gleichzeitig mit der Tutzinger Tagung der erste deutsche Bruder seinen Eintritt in die Communauté von Taizé vollzogen hat, ein Angehöriger der kleinen Studentenbruderschaft der Peregriner, der über die Imshäuser Untermühle den Weg nach Taizé gefunden hat. Das ist gewiß kein umstürzendes Ereignis, aber es hat gerade in Taizé, dessen Arbeit während des Hitlerkrieges damit begann, daß Roger Schutz, der jetzige Prior, Juden und Judenkinder vor der deutschen Besatzung in die unbesetzte Zone Frankreichs rettete, eine Art zeichenhafte Bedeutung. Möchte sich das zeitliche Zusammentreffen der Tagung in Tutzing, die eine so erfreuliche Bruderschaft unter den Bruderschaften bekundete, mit diesem Ereignis ebenfalls als ein gutes Zeichen erweisen!
Quatember 1956, S. 103-105
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