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„Von Ewigkeit zu Ewigkeit”
von Wilhelm Stählin

LeerMan wird das „Gestern” und das „Morgen” und erst recht das „Heute” der Sprache, die der christliche Glaube und die christliche Liturgie reden, nie richtig verstehen, wenn man nicht alle „Zeiten”, die Vergangenheit, aus der wir herkommen, die Zukunft, der wir entgegengehen, und erst recht das lebendige Geschehen des gegenwärtigen Augenblicks (alle tempora also, grammatikalisch gesprochen) hineinordnet in die große Bewegung, die alle Zeiten überwölbt und zusammenschließt, und an die wir rühren mit der feierlichen Formel „von Ewigkeit zu Ewigkeit”.

LeerEs ist freilich eine gewichtige Frage, ob wir aus dem Wort „Ewigkeit” eben das herauszuhören vermögen, was mit jener Formel eigentlich gemeint ist.

LeerIch bekenne, daß ich das Wort „Ewigkeit” nicht liebe und daß ich es bedaure, daß Luther sich in seiner Verdeutschung der Bibel dieser Vokabel bedient und sie dadurch zu einem nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil unserer kirchlichen Sprache gemacht hat. Es ist zunächst rein formal betrachtet eine unglückliche Wortbildung. Die Substantiva auf „heit” und „keit” bezeichnen eine Eigenschaft, ein „So-Sein”, abstrakt, das heißt abgezogen und losgelöst von den konkreten Trägern dieser Eigenschaften. So reden wir von Schönheit, Schnelligkeit, Herrlichkeit und dergleichen und können diese abstrakten Begriffe kaum entbehren; doch hat es mich immer gefreut, bei Karl Spitteler nachzulesen, wie er seinen Helden Prometheus und Epimetheus nachrühmt „und waren auch von Herzen spinnefeind den Götzen Heit und Keit”. Das Schlimmste an dem Wort „Ewigkeit” ist aber dies, daß das Stammwort, von dem das Eigenschaftswort „ew-ig” abgeleitet ist, unserem Sprachgebrauch und unserem Bewußtsein fast völlig entglitten ist: Die ewe, sprachgeschichtlich verwandt mit dem griechischen Wort aion, das Luther mit „Ewigkeit” übersetzt hat. Das Wort ist erhalten in dem holländischen Wort eeuw (ausgesprochen wie eeu), welches Jahrhundert bedeutet, aber auch in dem abgeblaßten Sinn einer sehr langen Zeit gebraucht wird, und ebenso in dem deutschen Wort „Ehe”, das die das ganze Leben währende (Kant gebraucht nach Analogie des Wortes langwierig das Wort „lebenswierig”) Gemeinschaft von Mann und Frau bezeichnet. Noch fast gleichzeitig mit Luther wurde (nach Ausweis von Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache) die liturgische Formel in saecula saeculorum, die wir zu übersetzen pflegen „von Ewigkeit zu Ewigkeit”, verdeutscht „von Ewen zu Ewen”; wobei eben Ewen nicht das gleiche bedeutet wie das Wort Ewigkeit, aber genau das, was in der Bibel gemeint ist.

LeerDer Unterschied ist für jeden, der ihn einmal wahrgenommen und verstanden hat, ebenso einleuchtend wie wichtig.

LeerDie griechische Philosophie hat nach dem Vorbild Platos unter dem Wort aion eine „Ewigkeit” verstanden, in der es überhaupt keine Zeit, keine Vergänglichkeit und keinen zeitlichen Ablauf gibt, und die eben damit der ablaufenden Zeit, dem chronos, gegenübersteht; genau dieses hören wir alle zunächst aus dem Wort „Ewigkeit” heraus: jene unendliche Dauer ohne Anfang und ohne Ende, deren Unheimlichkeit wir unseren Kindern an der Geschichte von dem Diamantberg zu verdeutlichen suchen, an dem ein Vögelein alle tausend Jahre einmal seinen Schnabel wetzt; „und wenn der Diamantberg ganz und gar abgewetzt ist, dann ist die erste Sekunde der Ewigkeit vergangen”. Aber das griechische Wort aion ist auch einer wesentlich anderen Bedeutung fähig. Es bezeichnet nämlich die einem bestimmten Ding oder lebenden Wesen zugemessene Zeit, seine Zeit, die Frist seiner Existenz. Hier wurzelt die Verwendung dieses Wortstammes zur Bezeichnung der Ehe, aber auch die Bedeutung „Zeitalter” oder „Weltalter”, womit die das Erleben jedes einzelnen Menschen transzendierende Dauer der Welt, oder auch die die ganze Erdenzeit begrenzenden Zeiträume der Urzeit und Endzeit gemeint sind.

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LeerGewiß werden die beiden entsprechenden hebräischen und griechischen Vokabeln olam und aion auch in jenem etwas unbestimmten und abgeblaßten Sinn zur Bezeichnung einer nicht mehr erkennbaren Vergangenheit oder einer nicht abzusehenden Zukunft gebraucht. Weil die Gott zugemessene Zeit keine Grenzen hat, darum gewinnt das Wort aion, auf Gott angewendet, den Sinn jener Ewigkeit, vor der alle unsere irdischen Zeitmaßstäbe versagen und ungültig werden: Vor Ihm sind tausend Jahre wie ein Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Wache der Nacht (Ps. 90, 4). Und was „in Ewigkeit” nicht geschehen wird (Joh. 13, 8), wird eben gewiß auch in Zukunft niemals geschehen. Aber schon die Tatsache, daß wir im Deutschen für jenen unendlich weit zurückliegenden Anfang die Vorsilbe „ur” kaum entbehren können und von der Urzeit oder dem Ursprung reden, sollte daran erinnern, daß es sich hier nicht um einen unvorstellbar weit zurückliegenden Punkt der geschichtlichen Ereigniskette handelt, in der wir selber ein Glied sind, sondern um einen „Anfang” und Ursprung, der jenseits jedes vorstellbaren Anfangs liegt. Daß das Abstraktum „Ewigkeit” keine angemessene Übersetzung weder des hebräischen olam noch des griechischen aion ist, wird aber vor allem daran deutlich, daß beide Vokabeln auch und sogar mit besonderer Vorliebe im Plural gebraucht werden. Daß dieser Plural (aiones) nichts anderes als eine Steigerung bedeutet, ist wenig wahrscheinlich, wenn es eben nicht grundsätzlich möglich ist, diese Fristen auch in der Mehrzahl zu denken. Erst recht ist die so vielfältig vorkommende Wendung „von Ewigkeit zu Ewigkeit” sinnlos, wenn es nicht verschiedene Zeiträume, verschiedene Äonen gibt, die unseren irdischen Zeitenablauf von beiden Seiten begrenzen. Der „ewige” Gott, der „ewige” König ist ewig, weil er das, was er ist, jenseits der Grenzen der irdischen Geschichte ist als der Schöpfer und Vollender. Nicht eine statische und unwandelbare Dauer (die „Zeit ohne Zeit”) steht dem irdischen Geschichtsbild gegenüber, sondern vielmehr eine Bewegung, die von dem schlechthin Verborgenen in das ebenso schlechthin Verborgene sich erstreckt. Der Bedeutungswandel von dieser Vielzahl von Zeiträumen, außerhalb und jenseits unseres „Äons”, zu dem singularischen Abstraktum „Ewigkeit” ist also ganz analog dem Vorgang, daß im Alten wie im Neuen Testament, die Bezeichnungen für die himmlische Welt überwiegend pluralische Form haben, während schon Luther offenbar keinen Wert mehr darauf gelegt hat, diese Seinsfülle der oberen Welt auch sprachlich auszudrücken, und den Singular „Himmel” bevorzugt, der sich dann unvermeidlich in eine abstrakte Geistigkeit auflöst.

LeerDiese Erkenntnis aber hat, wie mir scheint, eine sehr große Tragweite. Der Rede von den Äonen, von Urzeit und Endzeit, liegt ein anderes Verständnis Gottes und darum auch der Geschichte zugrunde als dem Abstraktum „Ewigkeit”. Hier ist Gott nicht die in sich beruhende Ewigkeit, in unbewegter Dauer jenseits alles Geschehens in der „Zeit”, sondern in Ihm selbst ist Geschichte und Bewegung; Er hat Seine eigene Geschichte, von uns nicht meßbar oder berechenbar, in der Er handelt und Seinen Ratschluß vollstreckt. Das alte Wort ewe gab noch die Möglichkeit, in dieser Vielzahl von Zeiträumen die ewe unserer Geschichte abzusetzen von den ganz anderen „Ewen” der Urzeit und Endzeit: Wie großartig wird die Doxologie, wenn sie so gefaßt und so verstanden werden darf: Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste, wie es war in der Urzeit, jetzt und immerdar, von Ewen zu Ewen; von der Urzeit „ehe denn die Berge und die Welt geschaffen wurden”, bis hin zu der Endzeit, wo alles das „nicht mehr” sein wird, was unser irdisches Leben bestimmt.

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LeerIch habe vor einiger Zeit versucht (in einem Vortrag über „Kreis, Pfeil und Bogen als Symbol der Zeit”, den ich auf Einladung der Evangelischen Akademie Tutzing in Regensburg gehalten habe, und der im „Tagebuch” der Tutzinger Akademie abgedruckt ist; im Vorstehenden habe ich manche Gedanken und manche Sätze aus diesem Vortrag übernommen) -, diesen Sinn der Zeit im Bild des Bogens anschaulich zu machen, eines Bogens, der die kreisförmig wiederkehrende und die pfeilförmig dahineilende Zeit überwölbt und durchkreuzt. Denn die Vorstellung, die durch den Begriff der Ewigkeit immer wieder erweckt und nahegelegt wird, daß diese Ewigkeit wie ein unbewegtes Himmelsdach sich über aller irdischen Zeit und Geschichte erhebt, verfehlt gerade das Entscheidende in dem biblischen Begriff der Ewigkeit; es ist ein Spannungsbogen, der jeden irdischen Ablauf an bestimmten, von uns nicht vorherzusehenden und noch weniger vorherzubestimmenden Punkten berührt und durchkreuzt. Ich bin mir klar darüber, daß auch das Bild des Bogens unzulänglich und irreführend ist. Die Bewegung der Gottesgeschichte „von Urzeit zu Endzeit” leuchtet an bestimmten Punkten des irdischen Zeitraumes auf und gibt dann im also getroffenen und geladenen Augenblick das unermeßliche Gewicht eines „Jetzt” und „Heute”, das nicht nur zwischen gestern und morgen, zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern zwischen „Anfang” und „Ende” eingespannt, von beiden erfüllt und bewegt ist.

LeerDie griechische Sprache hat, wie wir wissen, zwei verschiedene Vokabeln für die „Zeit”; chronos ist die unaufhaltsam ablaufende Zeit, die mit Hilfe ihrer rhythmischen Gliederung „chronologisch” gemessen werden kann; kairós ist die erfüllte Zeit, die plötzlich und unangemeldet „eintritt”, um nicht zu sagen: einbricht, unangemeldet, sagt der Herr, wie der Dieb in der Nacht oder wie der Bräutigam zur nächtlichen Hochzeitsfeier. Dieser kairós ist der Punkt, wo der Spannungsbogen der Gotteszeit den irdischen Zeitablauf berührt und durchbricht. Die philosophisch gesprochen sinnlose Formel „von Ewigkeit zu Ewigkeit” ist in diesem biblischen Denken die Bereitschaft, in dem gegenwärtigen Augenblick dieses Unheimliche und Unbegreifliche zu erwarten, das jedes Maßes spottet und jedes Maß zerbricht. Wir reden von „Zufällen”, wenn wir des göttlichen Bogens nicht ansichtig werden (oder nicht an ihn glauben), der jene letzte Unruhe, aber auch jenen letzten verborgenen Sinn in unsere „Zeit” trägt.

LeerAber es steht nun nicht so, daß nur aus den himmlischen Räumen und Zeiträumen des Ursprungs und des Eschaton (des „vorauslaufenden Endes”, das dem „mitlaufenden Anfang” entspricht) die eigentlichen Ereignisse einbrechen in unsere Erdenzeit, sondern es kann auch die umgekehrte Bewegung stattfinden, die von dem irdischen Ablauf zurückschwingt in die verborgene Gottesgeschichte. In der apokalyptischen Vision von dem himmlischen Sieg Sankt Michaels über den Drachen (Offenb. 12) heißt es, daß die Zeugen Christi, die ihr Leben nicht geliebt haben bis in den Tod, mitwirken an diesem himmlischen Sieg, und es heißt an anderer Stelle (Offenb. 5, 8), daß die „obere Schar” der Vollendeten die Gebete der Heiligen als edles Räucherwerk vor den Thron des „Lammes” bringt. Der stärkste und wahrhaft erschreckende Ausdruck für diese Rückstrahlung aus der Zeit in die „Ewigkeit” ist die alttestamentliche Redeweise „Da gereute es Gott ...” Diese angeblich allzu menschliche und der „Ewigkeit” Gottes unangemessene Ausdrucksweise ist das sehr tröstliche Bekenntnis zu dem lebendigen Gott, der eben weder in unbewegter Ruhe über den Wechselfällen der Zeit thront, noch auch seinen Ratschluß wie einen einmal aufgezogenen Automaten abrollen läßt, sondern in sich selbst eine lebendige Geschichte ist, die in geheimnisvoller Weise mit dem Geschehen in der Zeit verflochten ist.

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LeerWährend der platonische Begriff der Ewigkeit notwendig alle Geschichte in der Zeit entwertet, gibt jener Spannungsbogen „von Urzeit zu Endzeit” jedem Augenblick seinen konkreten Sinn und sein eigenes Gewicht, nämlich seinen Ort in dem Heilsplan Gottes. Der Begriff der Ewigkeit, so wie dieses Wort zumeist verstanden wird, der Begriff einer statischen und unabänderlichen Ewigkeit, müßte auch die Kraft und Freudigkeit des Gebetes lähmen, das nach Blumhardts kühnem Wort eine Teilnahme an der Weltregierung, ein Mithandeln in der Gotteszeit also ist. Es gilt auch hinsichtlich des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit, sich von dem Gott der Philosophen zu dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zu bekehren. Das heißt mit anderen Worten: Die ewe des Heute ist in unmittelbarer Nachbarschaft, in bedrohlicher und verantwortungsvoller Nähe zu der ewe der Urzeit und der ewe der kommenden Welt.

LeerVielleicht kann kein Bild aus der zweidimensionalen Fläche genügen, diesen Aspekt der Zeit anschaulich zu machen, weil es sich hier wirklich um den Einbruch einer anderen Dimension handelt. Jede gottesdienstliche Begehung der Zeit, der naturhaften Zeit wie der Geschichte, hat letztlich den Sinn, daß wir heute, auf dem Weg von der Vergangenheit in die Zukunft, jener „Ewigkeit” begegnen; freilich nicht in dem idealistischen Sinn, dem einst Schleiermacher einen klassischen Ausdruck gegeben hat: Mitten in der Endlichkeit eins zu werden mit dem Unendlichen und ewig zu sein in jedem Augenblick, das sei die Unsterblichkeit der Religion; sondern in dem biblischen Sinn, daß wir eingespannt in den himmlischen Bogen „von Ewigkeit zu Ewigkeit”, „von Ewen zu Ewen”, berührt werden von der Bewegung Gottes selbst, und daß also das Heute der flüchtigen Zeit, des tödlichen chronos, zugleich eine Stunde der Gotteszeit, des kairós werde, in dem sich die Bewegung vom Anfang zum Ende, vom Ursprung zum Ziel ereignet und erfüllt: „ . . wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, von Ewen zu Ewen.”.

Quatember 1955/56 S. 214-218

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 19-05-10
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