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Die Qibbuzim -Genossenschaften der Arbeit
von Georg Molin

LeerIn vielen Bereichen unserer Umgebung, in allen Konfessionen der Christenheit erleben wir heute ein neues Suchen nach Gemeinschaft, eine Neuentdeckung christlicher Bruderschaft, neue Gestaltungen und Formen geistlichen Lebens, wie etwa die uns so wohl bekannten Kommunitäten von Taizé und Grandchamp. Das lenkt den Blick auch auf jene bedeutsame Form eines neuen Gemeinschaftslebens, die seit etwa 45 Jahren von den jüdischen Pionieren in Israel erprobt wird, den Qibbuz. In mancher Beziehung hat diese Lebensform ihre Bewährung schon bestanden. Um es aber gleich eingangs zu sagen: trotz mancher Parallelen scheint es mir kaum möglich, die Kommunitäten der Christenheit von heute und die Qibbuzim Israels in ihrer augenblicklichen Gestalt in nähere Beziehung zu setzen. Eine Kommunität ist primär eine Stelle geistlichen Lebens, mag dieses auch aus Notwendigkeit oder aus Grundsatz mit harter Arbeit verbunden sein, ein Qibbuz ist primär eine Stätte der Arbeit (besonders Landwirtschaft), mag auch sein Leben gelegentlich geistliche Züge aufweisen.

LeerDas Geburtsjahr der Qibbuzim ist 1911. Damals trennten sich eine Anzahl von Männern und Frauen von der zionistischen Landwirtschaftsschule in Kinnereth, weil sie der Meinung waren, daß dort die Individualität des einzelnen zu sehr unterdrückt werde. Sie gründeten am Südende des Sees Genezareth eine landwirtschaftliche Siedlung auf der Basis gemeinsamen Eigentums und gemeinsamer Arbeit, die mithelfen sollte, das Land der Väter aus seiner Todesstarre zu erlösen und es durch eigener Hände Arbeit in Besitz zu nehmen. Diese Siedlung ist heute bekannt unter dem Namen Deganja Alef und einer der schönsten und wohlhabendsten Qibbuzim in ganz Israel. So steht der Individualismus an der Wiege dieser neuen Form gemeinschaftlichen Lebens, die sich besonders dort bewährt hat, wo es gilt, wüstes Land in fruchtbare Gebiete zu verwandeln.

LeerGeprägt ist die Bewegung der Qibbuzim von sehr verschiedenen Kräften: von der frommen Weisheit eines der ersten Theoretiker, A. D. Gordons, dessen Andenken in Deganja in hohen Ehren gehalten wird; von der Liebe zum Boden des heiligen Landes; vom Bewußtsein, daß man diesen Boden als Leihgabe von Gott empfangen hat und daß man nicht wert ist, auf ihm zu leben, wenn man ihn nicht mit eigener Hand bearbeitet; von der brüderlichen Gemeinschaft innerhalb des Zionismus, die sich ausprägt im Gebrauch der hebräischen Sprache, die kein Sie kennt, sondern nur das Du, sowie im Gebrauch des Vornamens untereinander und der Bezeichnung Chawer (Genosse, Gefährte, Kamerad), die schon einmal in den pharisäischen Kreisen der Zeit Jesu gebräuchlich war, und schließlich auch von sozialistischer Solidarität, die alle Standesunterschiede verwischt hat, die die Chawerim aus ihrem früheren Leben mitbrachten.

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LeerViel saurer Schweiß, viel Mühe und Arbeit, viel Opfergeist und Idealismus steckt in den blühenden Feldern und Industrieanlagen der Qibbuzim, auch so manches gewaltsam vergossene Blut hat ihr Boden trinken müssen. „Jeder von uns hat etwas opfern müssen”, sagte mir Mirjam Singer in Deganja, die aus dem Kreis um Franz Kafka kommt und selbst eine begabte Dichterin in deutscher Sprache ist, „ich habe meine Sprache geopfert”.

LeerAn der schönsten Stelle des Qibbuz, wo man zwischen Blumen und Palmen über den tiefblauen See hinübersieht ins Ostjordanland, zeigte sie uns das Denkmal jener, die bei der erfolgreichen Verteidigung des Qibbuz gegen einen übermächtigen Angriff syrischer Truppen ihr Leben gaben. Wer in einen Qibbuz eintritt, erwartet kein bequemes Leben, er weiß, daß es Opfer kostet, das Land der Väter „zu erlösen”, zu erlösen aus der Herrschaft fremder Eroberer, die es jahrhundertelang verkommen ließen, mehr noch aus der Todesstarre, die melancholisch über seinen braunen Hügeln liegt. Bilder aus den Worten der Propheten tauchen auf, wenn man statt Feigenkaktus, dürrem Gras, Sumpf oder Stein Felder, Gärten und Weinberge trifft, Citrus- und Bananenpflanzungen, Wiesen, Teiche, schmucke Häuser, Kulturzentren, Schulen und Bibliotheken und dazwischen hart arbeitende, aber fröhliche und zufriedene Menschen, denen es auch nichts ausmacht, daß vielfach Pistole und Gewehr Begleiter bei der Arbeit sein müssen, wie einst zu Nehemias Zeit das Schwert. Wie hoch der Staat Israel den Wert des Lebens im Qibbuz einschätzt, zeigt sich darin, daß er seine Rekruten auf ein halbes Jahr in grenznahe Qibbuzim schickt, nicht nur zum Schutz, sondern auch um Arbeit und Gemeinschaftsgeist zu lernen.

LeerWer im Qibbuz lebt, hat kein privates Eigentum, nur seinen Anteil am gemeinschaftlichen, der allerdings nicht realisierbar ist, da ein Austritt vor erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten (Arbeit, Wohnung) stellt. Der Chawer braucht auch kein Eigentum; Nahrung, Kleidung, Wohnung gibt der Qibbuz, alles ist einfach, aber ausreichend; für kleine Nebenbedürfnisse gibt es ein Taschengeld. Alle paar Jahre gäbe es Urlaub, aber nur wenige machen Gebrauch von der Möglichkeit dazu, den Qibbuz zu verlassen. Auch die ärztliche und kulturelle Betreuung erfolgt durch den Qibbuz. Die Arbeit wird zugeteilt, je nach Alter und Arbeitskraft. Da Männer und Frauen arbeiten müssen (der Qibbuz könnte sonst nicht bestehen), werden die Kinder in eigenen Kinderhäusern betreut, wo sie schlafen und wohnen und auch Elementarunterricht empfangen. Manche Qibbuzim unterhalten auch höhere Schulen. Nach Feierabend kommen die Eltern ins Kinderhaus, spielen und plaudern mit ihren Kindern und bringen sie ins Bett, so daß der Familienzusammenhang nicht verlorengeht. Die Jugend, die hier aufwächst, bejaht die von den Eltern gewählte Lebensweise. Nur wenige drängen hinaus, manchmal unter Schwierigkeiten, manchmal verständnisvoll gefördert.

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LeerEines aber sucht man in den meisten Qibbuzim vergeblich, irgendwelche Einrichtungen zur Pflege des geistlichen Lebens. Der Tagesplan sieht keinerlei Raum dafür vor. Die meisten Qibbuzim gehören zu drei großen sozialistischen Verbänden. Sie legen keinem etwas in den Weg, der in seiner Freizeit sein geistliches Leben pflegen will, etwa am Sabbat einen Gottesdienst besuchen. Der Sabbat wird auch strengstens eingehalten. Aber nicht überall ist eine Synagoge erreichbar, um so weniger, als am Sabbat kein öffentliches Verkehrsmittel zur Verfügung steht.

LeerIm Qibbuz selbst findet sich kaum geistliche Gemeinschaft und Förderung. Nur ganz wenige der Qibbuzim stehen den religiösen Zionisten nahe und haben eigene Rabbis und eine Ješiba (Schul- und Gottesdienstraum nach alter jüdischer Tradition), in dem tägliches Gebet und Sabbatgottesdienst gehalten wird. Trotzdem fanden wir in Deganja sowohl unter den Alten als unter den Jungen so manchen, der durchaus dafür Verständnis zeigte, daß Israels Anspruch auf das Land an seinem Gehorsam gegenüber dem Anspruch Gottes hänge. Sie wären wohl auch bereit, sich um die Tora zu mühen und um die religiöse Tradition ihres Volkes, träte sie ihnen nicht immer entgegen in einer überalterten, wenig überzeugenden Gestalt, verknüpft mit Erscheinungen des Gettolebens, die auf Israel nicht zutreffen und von den Jungen abgelehnt werden müssen.

LeerChristus ist diesen Menschen ein Fremder. Soweit sie einmal Begegnung mit der Kirche hatten, war diese selten positiv. Jude sein zu können, der Land, Volk und Staat bejaht, und doch auch Christ, scheint ihnen allen ein Wahnwitz. So ist weithin eine schmerzliche Leere da, die auf Füllung wartet oder sich mit pseudoreligiösen Surrogaten (Blut- und Bodenmystik, sozialistische Ersatzreligion) füllt. Eine Kommunität ist ein Quellort geistlicher Gaben; gerade in dieser Beziehung sind die Qibbuzim dürr und trocken. Es wird auch niemandem einfallen, etwa dort eine Retraite halten zu wollen.

LeerTrotzdem ist ihre Bedeutung nicht gering. Mehr als ein Fünftel der ländlichen Bevölkerung Israels lebt in Qibbuzim. Ihre Einkaufs- und Verkaufsgenossenschaften (Hammašber hammerkazi und Tenuba) sind aus dem Wirtschaftsleben des Staates nicht wegzudenken. Wichtiger ist, daß sie einen großen Teil der Jugend an den Boden binden und so vor Landflucht bewahren; ebenso wichtig, daß sie einen neuen Typ gemeinschaftlichen Lebens darstellen und einen mutigen Vorstoß zu einer neuen Sozialordnung. Martin Buber handelt von ihnen bezeichnenderweise in seinem Buche „Pfade in Utopia”. Utopisten, von den Klugen und Weisen belächelt, gehören oft zu den Wegbereitern einer neuen Zeit. Man möchte nur wünschen, daß von der stillen frommen Weisheit Bubers etwas einflösse in den Geist der Qibbuzim. Ihre segensreiche Kraft würde sich damit vervielfachen, ihre geistliche Dürre fruchttragendem Leben weichen. Nicht nur das Land würde dann durch ihre Arbeit erlöst, auch Menschenseelen würden zur Erlösung bereitet und zur Begegnung mit dem, der auch Israels Leere und Verlangen füllen kann.

Quatember 1957, S. 169-171

[Zu christlichen Kibbuzim siehe Nes Ammim]

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-27
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