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Nach einem Menschenalter XX von Rudolf Spieker |
Vor mir liegt eine in Leder gebundene Taschenbibel, in der ich seinerzeit notiert habe: „Lübecker Bucht 1927, zur Arbeit an der Bibellese.” So darf also mit Fug und Recht diese Erinnerung unter der Überschrift stehen: „Nach einem Menschenalter.” Als ich von der damaligen Berneuchner Konferenz den Auftrag zu dieser Arbeit erhielt, hatte sich das von Wilhelm Stählin herausgegebene „Gottesjahr” bereits seit 1924 um die innere Ordnung des Kirchenjahres gemüht. Dort waren auch schon Wochensprüche gebracht worden, welche zunächst sich noch an die Monatsordnung hielten, aber sich seit 1928 klar in den Gang des Kirchenjahres einfügten. Als zweiter normgebender Faktor für meine Arbeit lag mir das „Gebet der Tageszeiten” vor mit einer deutlich erkennbaren Gliederung der Woche. Beide, die „Ordnung des Jahres” und die „Gliederung der Woche”, bildeten gewissermaßen die Vertikale und Horizontale eines Kreuzes, in welches die Lesungen je einer Woche einzufügen waren. Obwohl die Lesung zunächst ohne Auslegung erschien, so haben doch rasch viele Benutzer diesen Sinn erfaßt. „Wer die zweimal sieben Lesungen liest, dem leuchtet der in dem Wochenspruch ausgedrückte Grundgedanke der Woche in immer neuen Farben auf, und er lernt die eine darin ausgesprochene Wahrheit von den verschiedensten Seiten her sehen und betrachten”, so heißt es im „Gottesjahr” 1928 (S. 22). Hinter dem Wochenspruch tritt immer deutlicher als die beherrschende Sonne, welche die ganze Woche überstrahlt, das Sonntagsevangelium heraus, als dessen Entfaltung die „zweimal sieben” Lesungen anzusehen sind; in einigen wenigen Fällen tritt die Epistel des Sonntags als das die Woche bestimmende Element hervor. Neben den Wochenspruch trat das Wochenlied, welches in deutlicher Beziehung zum Sonntagsevangelium steht und um dessen Auswahl sich Wilhelm Thomas vor allem bemüht hat. Von diesen drei Größen also, dem Sonntagsevangelium, dem Wochenlied und dem Wochenspruch - die man in einem bildhaft gewählten Namen für die Woche zusammenzufassen suchte -, wurden die Lesungen bestimmt. Man kann also nicht sagen, wir hätten das Kirchenjahr thematisiert. Es ist ganz eindeutig, daß die Lesungen von einer komplexen Größe bestimmt sind. Wie wurden nun die über 1 000 Lesungen für das ganze Kirchenjahr nebst den Apostel- und evangelischen Marientagen gefunden? Vor die erste Lesetafel, die mit kurzen Erklärungen erschien, habe ich für mich selber das Lutherwort aufgeschrieben: „Die Heilige Schrift ist ein weiter gewaltiger Wald, aber kein Baum ist darinnen, den ich nicht geschüttelt hab mit meiner Hand” (WA Tischreden I, 674). Gewiß habe ich selber die ganze Heilige Schrift auf Lesungen hin durchsucht, welche sich zum Einbau in die Leseordnung eigneten. Aber ich habe diese Arbeit nicht allein getan. Pastor Kähler aus Flensburg - er ist der Einsender dieser launigen Begleitworte - hatte darin zweifellos recht, daß die Zusammenschau der von so viel Bearbeitern gefundenen Vorschläge noch keine Leseordnung ergab, dafür waren die Auswahlgrundsätze zu verschieden, es gab auch zu viel Überschneidungen in der Besetzung der einzelnen Tage. Bei der Arbeit wurde mir immer deutlicher, daß es sich gleichsam um eine architektonische Aufgabe handelte. Die Pfeiler und Bögen waren gegeben durch den Bau des Kirchenjahres, der für uns in jenen Jahren nach 1930 immer deutlicher hervortrat. Die Lesungen waren die Steine, welche in die Wände, die Rippen und Bögen des Bauwerks einzusetzen waren. Kaum jemand ahnt heute, da die Kirchenjahreslese als geschlossenes Werk vorliegt, die Mühsal des Bauens. Die Auswechslung nur einer einzigen Lesung zog oft nicht weniger als den Umbau der ganzen Woche nach sich. Meine Familie weiß am besten, wieviel Ferienwochen an diese Arbeit gesetzt sind. Immerhin haben auch Eindrücke der Landschaft, von Prerow auf dem Darß bis zum Vogelsberg, von den Sylter Dünen bis zum Thuner See auf das Schauen der Texte und ihre Auslegungen eingewirkt. Unvergeßlich sind mir Stunden der vollkommenen Stille in einer kleinen gotischen Kapelle inmitten des alten Städtchens Wertheim am Main, wo ich nach meiner Erinnerung die Buchform der Lesungen abgeschlossen habe. Die Arbeit an der „Lesung für das Jahr der Kirche” geschah in einem Großstadtpfarramt, das an sich gewiß wenig Raum läßt für eine solche Sonderaufgabe. Und doch hat auch dieses Amt mir geholfen, die Lesungen zu sichten und zu erproben. Sie wurden fast alle im praktischen Gebrauch erprobt am Altar der St. Johanniskirche in Hamburg-Eppendorf, in Metten, Vespern und Messen der Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Insofern hat auch die hörende Gemeinde ein Verdienst an dieser Lesung. Inmitten der Gemeinde ist sie entstanden. Selbstverständlich haben auch Vorbilder eingewirkt: Bruchstücke einer Leseordnung aus Nordafrika, welche mir durch ein Buch über Augustin als liturgiegeschichtliche Quelle zugänglich gemacht wurde; Sonntags- und Wochenverständnis der Ostkirche, für die Fasten- und Osterzeit Stücke aus dem römischen Brevier und Missale. Selbstverständlich habe ich auch Arbeiten über die Perikopenforschung eingesehen (Ranke, Gerhard Kunze). Die Leseordnung erschien zuerst als Beilage zu mehreren Jugendzeitschriften - „Christdeutsche Stimmen”, „Werdende Gemeinde”, „Unser Bund” - in der Form der schlichten Lesetafel ohne jede Erklärung. Seit 1929 erschien sie als Lesetafel der Berneuchner Konferenz mit knappen Hinweisen auf den Inhalt der Lesungen, seit 1930 verbunden mit Mitteilungen der Berneuchner Konferenz und mit ausführlicheren Erklärungen. Seit Advent 1931 bildete sie einen Bestandteil der Jahresbriefe des Berneuchner Kreises und wurde seit Advent 1933 unter dem Titel „Evangelische Bibellese” weiteren Kreisen zugänglich gemacht. Advent 1936 erschien sie in Buchform mit dem Titel „Die Lesung für das Jahr der Kirche”, an deren Auslegung viele Freunde - die meisten sind Glieder der Evangelischen Michaelsbruderschaft - mitgearbeitet haben. Die zweite und dritte Auflage, die nach 1945 notwendig wurde, erschien in sehr veränderter Form. Die Auslegungen sind gestrafft und sämtlich von einer Hand überarbeitet und neugestaltet. Im Gefüge des Ganzen waren erhebliche Umbauten nötig, um die Kirchenjahreslese der fortgeschrittenen liturgischen Arbeit der Lutherischen Liturgischen Konferenz Deutschlands unter der Führung von Christhard Mahrenholz anzupassen. In dieser Gestalt ist die Leseordnung von weiten kirchlichen Kreisen aufgenommen worden. Sie wird für Gebetbücher und selbständige Auslegungen zugrunde gelegt. Unter diesen wird das jetzt erscheinende Andachtsbuch von Wilhelm Stählin am ehesten beanspruchen dürfen, eine wirklich authentische Auslegung dieser Leseordnung zu sein. Quatember 1957, S. 222-224 [Reinhard Brandhorst: Lesung der Heiligen Schrift im Kirchenjahr. Lektionar für alle Tage. Lutherisches Verlags-Haus, Hannover 1997, ISBN 3-7859-0744-3 (Reihe Gottesdienst 19)] |
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