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Das Gesicht des alten Menschen
von Max Picard

LeerDas Gesicht des alten Menschen ist mehr als bloß eine Merktafel der vergangenen Erlebnisse, es ist keine Fortsetzung der vorangegangenen Gesichter, es ist Wesen für sich, unabhängig von allem Erlebten und Vorangegangenen; das heißt, Erlebtes und Vorangegangenes ist da, aber es ist einem ganz Neuen untergeordnet. Das alte Gesicht steht vor einem, als ob es von jeher so, als das alte Gesicht, da gewesen wäre. Es ist nicht vorauszuberechnen vom mittleren Alter her, wie es später aussehen werde, nicht einmal vorauszuahnen, so selbständig ist es da. Vom Menschen geschaffen wäre es, am Ende des Lebens, abgenutzt, zerfallen, aufgelöst. Aber das Gesicht des Greises ist ein Ganzes und ein Neues für sich und führt den Greis selber zu etwas Neuem und Ganzem. Es ist, mehr als das Gesicht früher: Leitgesicht, Sternbild über dem alten Menschen. Das Gesicht des Greises ist Erscheinung über der puren Tatsächlichkeit des gelebten Lebens.

Ist das andere, das nach dem Leben des Greises sein wird, so im Übermaß neu, daß es überfließt, zurückströmt von dort in das Gesicht des Greises?

LeerEtwas Neues ist also unabhängig von der Person ins Gesicht gekommen. Durch dieses Neue sind die Gesichter der alten Menschen miteinander mehr verbunden als mit dem Gesicht der eigenen vergangenen Zeit. Alle alten Gesichter gehören zueinander, in der Welt der alten Gesichter ist solch ein Gesicht daheim, nicht in seiner eigenen Vergangenheit. Über alle Rassen hinweg ähneln sich die alten Gesichter. Das Geheimnisvolle des alten Gesichtes kommt daher, daß über alles Sichtbare hinaus die alten Gesichter miteinander verbunden sind. Sie sind im Bogen des großen Blicks, der über ihnen ist, zusammenfaßt. Der alte Mann weiß das selber nicht, es ist ein Geheimnis, das über den Träger hinausgeht, er weiß es nicht, aber er scheint es zu ahnen: es ist, als verrate er etwas, wenn er spricht, auch das Einfachste spricht: die Worte kommen langsam aus ihm heraus, wie von etwas kontrolliert, das hinter ihm aufpaßt, ja sie sind zugleich dorthin und zum Angeredeten gesprochen. Pausen macht er oft, wie Antwort von dort erwartend.

LeerDie Gemeinschaft der alten Gesichter ist da - aber in ihr ist jedes Gesicht für sich, wie Bauerngehöfte im Schwarzwald, die alle zusammengehören, einer Art sind und doch getrennt voneinander. Es ist ein Hiatus, ein Graben, zwischen Greisengesicht und Greisengesicht - ist es das Vor-Grab, hat es das Grab schon neben sich?

LeerIch habe oben gesagt, daß das Gesicht des Greises etwas ganz Neues sei, unabhängig von der Vergangenheit. Aber es gibt Gesichter, die so intensiv da sind, daß in ihre Gegenwart auch das Gesicht der früheren Zeit hineingezogen wird, die Gegenwart ist so mächtig hier, daß sie die Vergangenheit von selber anzieht, Churchills Greisengesicht zum Beispiel hat noch sein Knabengesicht bei sich, Bismarcks das der Mannesjahre. Diese Menschen leben in einer so dichten inneren Kontinuität, daß die Jugend und die Manneszeit auch noch ins Greisengesicht hineinreichen, es ist immer alles als Gegenwart da.

LeerDas Gesicht der mittleren Jahre ist bewegt davon, daß von außen her die Menschen der Umgebung, Landschaft, Rasse, Volk, Beruf auf das Gesicht wirken. Gestalt und Wesen der Landschaft, der Menschen streben zur Gestalt des Gesichtes hin, suchen sich in ihm abzubilden, sie wollen beim Menschen sein, in ihm, in seinem Menschenbilde, dort, wo dieses sich am deutlichsten ausprägt, im Bild des Gesichts. Von innen her, vom Innern des Menschen her, wird auf dieses Zuströmen geantwortet, auch im Gesicht. Dieses Drängen der Dinge zum Menschen hin ist ein Fragen der Dinge an den Menschen, und seine Antwort, wie das Fragen, zeichnet sich im Gesichte ab. Das Gesicht ist Mitte zwischen Fragen und Antworten, zwischen Bringen und Zurückgeben.

Linie

LeerDem alten Gesicht wird nichts oder fast nichts mehr gebracht. Seine Teile fallen ein wenig in sich zurück, weil sie nichts mehr erwarten, die Nase tritt stärker hervor, als suche sie etwas, die einzelnen Teile stehen härter gegeneinander. Das Gesicht ist nicht leer, aber einsam, es ist wie Schäfte ohne Waren eines kleinen Geschäftes in einem Dorf: hier ist auch nicht die Leere, die ein Mangel ist, sondern die Einsamkeit im Gegensatz zur Fülle.

LeerHier also, in diesem Gesicht, wird nicht mehr erwartet, keine Frage mehr, Antwort wird hier gegeben ohne Frage, drum redet der alte Mann oft mit sich selber.

LeerEs ist notwendig, daß es eine Menschenart gibt, eben die des Greises, wo das Fragen und Antworten aufhört: die Jugend, das Mannesalter ist dadurch weniger im dynamischen Fragen und Antworten gefährdet, das Dynamische wird gehemmt durch das Statische des Alters, einfach dadurch, daß das Statische da ist. Durch das pure Da-Sein schon ist ein Gegengewicht vorhanden.

LeerIm Gesicht des alten Tolstoi hat das Fragen und Antworten nicht aufgehört, heftig war es da, daß es die Zeit vergaß und bis zum Tode hin fragte und antwortete. Einige Tage vor seinem Tode versuchte er zu fliehen vor den Fragen und Antworten; aber es folgte ihm nach bis in den einsamen kleinen Bahnhof, wo er starb. „In Wahrheit... ich liebe viel... Wie sie ...” das waren seine letzten Worte.

LeerFrüher, im Jünglings- und Mannesalter, war das Gesicht Mitte zwischen Hin und Her, zwischen Frage und Antwort, Außen und Innen, es wurde fast zugedeckt von diesem Hin und Her, ging unter und deckte sich immer wieder auf und ward von neuem Mitte des Zu-und Abströmenden; jetzt, im Alter, ist es nur Schauplatz seiner selbst, Bild des puren Da-Seins, Antwort ohne Frage, das heißt, Frage und Antwort sind im reinen Da-Sein aufgegangen.

LeerUnd doch ist das Gesicht des Greises mit seinen jetzt schärferen und ins Einsame auslaufenden, sich nicht mehr verbindenden Linien Frage, Bild der Frage; das Bild der Erscheinung des Greisengesichts ist Frage: wie die dürren Äste der Bäume im Winter Hieroglyphen sind, in die Luft gezeichnet, der Baum ist nicht mehr Baum, nur noch Hieroglyphe, so ist auch das Gesicht des Greises Hieroglyphe, nicht von ihm selber geschrieben, sondern an ihm geschrieben - von wem, für wen?

LeerHier im Gesicht des Greises bewegt sich nichts mehr, als wollten sich die fragenden Hieroglyphen die Antwort nicht verstören lassen. Alles in ihm wird statisch, seinshaft, phänomenhaft. Der Ernst in ihm zum Beispiel bezieht sich nicht mehr auf die Welt, es ist der Ernst, der hier ausruht von der Welt. Das Böse, wenn es da ist, ist fast das Böse an sich, nicht mehr gemildert durch die Erfahrung. Das Lächeln ist da, wie etwas über die Person hinaus, nicht subjektiv; das Lächeln selber lächelt einen an, nicht der Greis. Hier im Gesicht des Greises bewegt sich auch die Zeit nicht mehr, die Zeit selber ruht aus von ihrer eigenen Bewegung, sie kommt zu sich selber in diesem Gesicht, als sei nie ein Rhythmus, ein Ablauf in ihr gewesen, nur immer eine geschlossene Zeit. Die ganze, ungeteilte Zeit ist im Greise. Darum erwartet der Greis auch nichts mehr von der Zeit, und es ist gleichgültig, ob er 70 oder 90 Jahre alt ist. Tag und Nacht, sie unterscheiden sich kaum bei ihm: er wacht viel in der Nacht, und am Tage schläft er, und darum wünscht er sich auch, auszuruhen „unter solchen Bäumen, in deren Wipfel wäre Tag und Nacht zugleich” (Hofmannsthal).

LeerEs ist wunderbar, im wahren Sinne des Wortes wunderbar, daß am Ende des Lebens, wo das Sein aufzuhören scheint, die Eigenschaften des Menschen noch einmal rein, als Bild, urphänomenhaft erscheinen. Das ist ein erhaben Überflüssiges, das mit einem Zweck nichts mehr zu tun hat. Es ist die Ehre des Greises, Bild zu sein des hohen Seins über allen Zweck hinaus.

Quatember 1958, S. 159-161

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-30
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