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Zur Geschichte des deutschen Namens
von Erich Müller-Gangloff

LeerÜber den weltumspannenden Themen seiner größeren Werke ist fast vergessen worden, daß Eugen Rosenstock-Huessy auch sehr wesentliche Beiträge zur deutschen Geschichtsschreibung geleistet hat. Sein bedeutendstes Frühwerk hatte Königshaus und Stämme des deutschen Mittelalters zum Gegenstand, und diesem Buch war bereits 1910 eine Untersuchung des eben zwanzigjährigen Historikers über „Herzogsgewalt und Friedensschutz” vorausgegangen.

LeerEines seiner letzterschienenen Bücher zeigt, daß Eugen Rosenstock dieser seiner ersten Liebe bis heute treu geblieben ist, obwohl er vor über zweieinhalb Dezennien aus Deutschland und Europa fortgegangen ist. Eine 1957 in Berlin erschienene Schrift von hundert Seiten handelt unter dem Titel „Frankreich - Deutschland, Mythos und Anrede” von Vorgeschichte und Geschichte - und Nachgeschichte unseres Volksnamens, die sehr viel interessanter und vor allem viel hintergründiger ist, als der deutsche Durchschnittsgebildete weiß (Käthe Vogt Verlag Berlin, Preis 8.50 DM).

LeerRosenstock hat sich auch mit diesem Spezialthema schon seit Jahrzehnten beschäftigt, so daß er geradezu als Experte gelten kann: in Kluges Etymologischem Wörterbuch der deutschen Sprache ist unter den sehr knappen Literaturangaben zum Stichwort „deutsch” ein Aufsatz zu diesem Thema angeführt, der 1928, also bereits vor einem Menschenalter, in einer schlesischen Zeitschrift erschien. In der vorliegenden Arbeit geht es ihm vor allem um das dem Volksnamen zugrunde liegende Wort diot, das eine ganz eigene Bedeutungsgeschichte hat. Es ist nach Rosenstock nicht einfach ein Synonym des Wortes „Volk”, sondern bezeichnete im frühen Mittelalter, als der Name diutisk-deutsch entstand, das im Heer verleiblichte und gegenwärtige Volk, insbesondere die Einheit von Heer und Gericht. „Diot-isch” war die Hochsprache des Adels als der führenden Schicht jener Zeit, sowohl die Kommandosprache des Heeres als auch die Rechts- und Gerichtssprache, die von der Vulgärsprache des fränkischen Volkes durchaus unterschieden wurde.

LeerEs wird in der Schrift im einzelnen aufgewiesen, wie der im Wort diot angesprochene Einheitsbegriff von Heer und Ding (Gericht) im späteren Mittelalter verloren gegangen und „am zivilen Fürstenstaat und seiner Schaffung eines bloßen Militärs auseinandergebrochen” ist. An anderer Stelle formuliert Rosenstock: „Das Wort ist wirklich und wörtlich ein Opfer der Reformation, dieser Revolution der Staaten mit ihren Akten und Beamten und Berufssoldaten, gegen den Diot, das Volk zu Schutz und Trutz.”

LeerEs geht Rosenstock nicht um philologische Besonderheiten, wie ein diese Schrift nur flüchtig Lesender vielleicht meinen könnte. Sonst hätte er nicht darauf verzichtet, auf die mannigfaltigen und teilweise sehr interessanten Sonderentwicklungen des Wortes hinzuweisen, wie sie im elsässischen „ditsch” und im englischen dutch (als Volksname der Holländer), auch im Mittelkonsonanten des Namens der Schweden vorliegt.

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LeerUm so mehr Bedeutung mißt er einer bisher nicht beachteten Wortentwicklung bei, die allerdings auch sehr geeignet ist, die Wichtigkeit seiner Gedankenführung zu unterstreichen. Wie er nachweist, gehen die im Englischen und im Französischen üblichen Bezeichnungen diet, bzw. diète und diette auf das altdeutsche Diot zurück. Nach Auskunft der Wörterbücher bezeichnen diese Namen Reichs-, Kreis-, Landes- und Bundestage, also Parlamente verschiedener Größenordungen wie die Kapitelversammlungen größerer Orden. Und wie Rosenstock sehr wahrscheinlich machen kann, ist sogar in der Benennung für die Tagegelder der Abgeordneten als Diäten noch ein - allerdings ziemlich kurioser - Rest der alten Wortbedeutung erhalten.

LeerRosenstocks Arbeit enthält - keineswegs nur als Beiwerk - außerordentlich instruktive Einsichten in die Struktur des wesentlich auf dem Diot beruhenden mittelalterlichen Reiches. Er setzt damit ganz unmittelbar die Untersuchungen seines Werkes über Königshäuser und Stämme des Mittelalters fort. Insbesondere gilt dabei seine Aufmerksamkeit der geistlichen Struktur, die in der Institution der Kapelläne Gestalt und Ausdruck fand. Nach Rosenstock haben die Kapelläne als die Heeresgeistlichkeit über ein Jahrhundert lang die Reichskirche regiert und damit die erst viel später erfolgte Klerikalisierung des Reiches zunächst verhütet und verhindert. Sie führten ihren Namen danach, daß sie mit der Kappa des heiligen Martin ins Feld zogen, der der Schutzpatron des Frankenreiches war, bis der Erzengel Michael als Reichsbannerherr an seine Stelle trat.

LeerAm wichtigsten scheinen uns die Folgerungen, die Eugen Rosenstock für unsere Zeit aus der vollzogenen „Ausrottung des Diot durch den Staat” zieht. Er meint, daß es heute entscheidend um die Liquidierung des karolingischen Erbes gehe, das er in den Reichsträumen Napoleons und der Hohenzollern (und zuletzt noch Hitlers) wiedergekehrt sieht. Es hat, wie er sagt, eines Jahrhunderts bedurft, um das karolingische Jahrtausend zu Grabe zu tragen.

LeerEr wertet es in diesem Zusammenhang ausgesprochen positiv, daß die Deutschen seit 1945 aufgehört haben, den Reichsnamen zu gebrauchen, indem sie - mit seinen Worten zu sprechen - „die Reichskonkursmasse zur westdeutschen Bundesrepublik” entwickelten. Denn die neuen Aufgaben, die heute zu bewältigen sind, gehen seiner Meinung nach die ganze Erde an: „Die Ökumene, der Haushalt der Erde, tritt die Erbschaft der sakralen Einzelreiche an.”

LeerEs war gleichsam ein großes Aufräumen, wenn in den nicht einmal hundert Jahren seit 1870 nicht weniger als zehn Kaiserreiche von der Erde verschwunden sind, darunter so große und alte wie Österreich und Rußland, China und die Türkei. Aber „der neue Oikos der Erde” ist nach Rosenstock „um nichts weniger sakramental und heilvoll als die alten Dutzende von Reichen”, denn das Heil der Welt ist und bleibt dem Menschen aufgetragen. Indem uns Rosenstocks Arbeit dies ganz neu und deutlich vor Augen stellt, hat sie uns trotz ihres schmalen Umfangs erstaunlich viel zu sagen.

Quatember 1958, S. 161-162

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-30
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