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Wilhelm Stählin - Erfolg und Segen
Nach einem Menschenalter XXIV
von Otto Heinrich von der Gablentz

LeerEs gibt zwei Maßstäbe für das Wirken eines Menschen: Erfolg und Segen. Der Erfolg ist festzustellen an Ergebnissen, der Segen zeigt sich in Kräften. Der Erfolg sind Werke, Objektivierungen, die sich von der Person gelöst haben, „objektiver Geist” sagt Hegel. Der Segen ist eine Subjektivierung, er zeigt sich darin, was von einem Menschen für Kräfte ausgegangen und in andere Menschen eingegangen sind, was er sich von sich hat weitergeben können. Echte Tradition ist Segen. (Wir können dasselbe vom Mißerfolg und vom Fluch sagen: Ergebnisse, die das Gegenteil des Gewollten sind, negative Kräfte, Haß und Auflösung, die aus dem bösen Kern eines Menschen kommen.) Den Erfolg oder Mißerfolg können wir menschlichen Leistungen zurechnen. Hier ist der Historiker zuständig. Der Segen und der Fluch sind Geheimnisse. Manchmal zeigen sie sich spät in Erfolgen und Mißerfolgen. Manchmal spürt sie ein Warner, und wird nicht ernstgenommen von den Nutznießern des Erfolges oder den über den Mißerfolg Enttäuschten. Oft bleibt die Entscheidung für die Menschen unvollziehbar. Niemals aber sind Segen und Fluch dem wissenschaftlichen Urteil zugänglich; man kann nur im Bekenntnis davon sprechen.

LeerWilhelm Stählin, der Professor und Bischof, der Gründer des Berneuchener Kreises und der Älteste der Michaelsbruderschaft, ist eine Gestalt der Geistesgeschichte und der Kirchengeschichte. Sie weiß von Leistungen und von Fehlschlägen zu berichten. Was er bedeutet hat, das versuchten seine Freunde zu seinem 70. Geburtstag vor fünf Jahren in der Festschrift „Kosmos und Ekklesia” zu sagen und Bischof Dibelius in der damaligen Nummer dieser Zeitschrift. Was er Freunden und Brüdern gewesen ist, davon möchte ich Zeugnis geben in der Schilderung einiger Begegnungen.

Leer1921. Ich sehe ihn vor mir in der blauen Leinenjacke mit offenem Kragen und kurzen Hosen, im lichten Buchenwald oberhalb von Hofgeismar. Die Jungen und Mädel des Jungdeutschen Bundes lagerten sich um ihn, und er sprach über den „Wandervogel und was weiter?”. Die Vorträge wurden dann gedruckt unter dem Titel: „Fieber und Heil in der Jugendbewegung”. Es war ein Kampf gegen mehrere Fronten, wie er selber sagte, gegen bürgerliche und pietistische Muffigkeit und gegen Zuchtlosigkeit im Umgang der Geschlechter, gegen die Alten, die Angst hatten vor der formlosen Jugend, und gegen die Jugend, die nicht reifen und nicht Formen bilden wollte. Zwei Stellen sind mir in besonderer Erinnerung geblieben. Wie er von den „gesammelten Kräften” sprach, die „der Mann seinem Weib, dem reinen Gefühl, das das Weib seinem Mann entgegenbringen soll”, wie er die Ehe pries als ein „Bekenntnis zur Sinnlichkeit” und die „schlichte Gesundheit des gläubigen Wortes” wiederholte: „Wer in der rechten Ehe lebt, ist für den Teufel verloren”. Unbefangen und geduldig rückte er die Probleme zurecht und zeigte die verantwortliche Freiheit des Menschen für die Ordnung Gottes auf. Damit machte er sogar die Kirche glaubhaft für uns ungläubig Erstaunende, die Gemeinde, in der alle Linien nach oben zusammenströmen und alle Bindungen der Menschen zueinander über Gott gehen statt des Ineinander und Durcheinanders der Beziehungen in der bloßen, damals so viel gepriesenen Gemeinschaft.

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LeerSo zwang er uns 1923 auf Burg Hoheneck dazu, das unverbindliche Singen von „schönen” und „kraftvollen” Chorälen aufzugeben und verlangte klares Bekenntnis oder redlich prüfende Zurückhaltung. So verlangte er Nüchternheit von den politischen Schwärmern, die damals mit Hitler nach Berlin marschieren wollten, während wir Berliner Jungdeutsche schon mit den Jungsozialisten im Bunde auf die Schießstände gingen, um bereit zu werden, mit der Reichswehr zusammen einen Putsch niederzuschlagen.

LeerAuf seiner Kanzel in Nürnberg in St. Lorenz habe ich ihn nur einmal erlebt, 1925 beim Erntefest, als seine Kinder das Privileg hatten, dem Adam Kraft unter dem Sakramentshaus einen Kranz aus Herbstastern aufzusetzen. Unvergeßlich ist mir sein Ausspruch zwei Jahre später auf einer Tagung des Bundes deutscher Jugendvereine in Hannoversch Münden: „Es war schon schwer genug für mich als Gemeindepfarrer, den Leuten von der Kanzel herunter zu sagen, wie sie sich benehmen sollten in einem Leben, das ich nicht kannte. Jetzt soll ich als Professor den Jungens sagen, wie sie den Leuten raten sollen sich zu benehmen in einem Leben, das ich nicht kenne und das sie nicht kennen.” Das war der Stählin, den seine Gegner später zu einem weltfremden Spezialisten für Liturgie stempeln wollten.

LeerInzwischen hatten die Konferenzen in Berneuchen stattgefunden, war das Berneuchener Buch erschienen und das „Gebet der Tageszeiten”, begannen die Freizeiten und - auf Anregung von Carl Happich - die Meditationen. Der Kreis um Stählin erkannte den innigen Zusammenhang der drei Aufgaben: Erneuerung des Weltverständnisses, Erneuerung des Gottesdienstes, Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens. Kurz ehe die große Bewährungsprobe für die evangelische Kirche in Deutschland begann, wurde die Evangelische Michaelsbruderschaft gegründet. Damals vertieften sich auch Stählins Beziehungen zur Ökumene durch einen Besuch in England. 1933 besuchte ich mit einer Empfehlung von Eugen Rosenstock den Bischof von Chichester. Er empfing mich mit der Frage nach Neuigkeiten von der deutschen Kirche: „Aus welchem Kreis der evangelischen Kirche kommen Sie?” Ich versuchte ihm die Bruderschaft deutlich zu machen an einem Hinweis auf Stählin. „Ach bringen Sie doch das Bild von Stählin”, bat er seinen Sekretär. Ich hatte von dieser Beziehung noch gar nichts gewußt. Aber bei der Rückkehr nach London fand ich einen Brief von Stählin vor, ich müßte unbedingt den Bischof von Chichester besuchen, „er ist einer der edelsten und frömmsten Menschen, die mir je begegnet sind”.

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LeerAuf der Rückkehr aus England besuchte ich ihn in Münster. Er hielt an diesem Abend die erste - und wohl auch letzte - Wahlrede seines Lebens gegen die deutschen Christen. Er hat wie wenige von Anfang an die antichristlichen Mächte erkannt, die uns im Nationalsozialismus entgegentraten. Er wußte um die furchtbare Schwere des Kampfes. Darum konnte er sich nicht bedingungslos dem Kampf der Bekennenden Kirche anschließen. Es hat ihn sehr geschmerzt, daß Spannungen aufkamen zwischen denen, die diesen Kampf im unmittelbaren Widerstand führten, und denen, die sich berufen wußten, die Menschen in der Kirche und am Rande der Kirche für die spätere Erneuerung vorzubereiten. Ich besinne mich darauf, wie glücklich er war, als er im Kriege einmal einen Vortrag in Berlin hielt und dabei endlich Verständnis bei den Brüdern auf der anderen Seite fand. Dieses Verständnis war es denn auch, was ihn bewog, 1944 das Amt in Oldenburg anzunehmen, das sich 1945 ganz von selbst zum offiziellen Bischofsamt ausweitete.

LeerBis dahin spielte sich seine Arbeit vor allem in den Freizeiten und Vorträgen, in Schriften und Aufsätzen und in der Leitung der Bruderschaft ab. Es war ihm gegeben, Menschen ganz verschiedener Herkunft und Artung zugleich anzureden. Auf dem Klitzingschen Gut Charlottenhof in der Neumark hielt er am Ende einer mehrtägigen Freizeit eine Predigt in der Dorfkirche. Die Gutsbesitzer waren von weither mit ihren Wagen gekommen, die Bauern und Arbeiter erwarteten ihren normalen Sonntagsgottesdienst und die Teilnehmer der Freizeit ein Wort zur Krönung ihrer Tagung. Er wurde allen zugleich gerecht, denn er sprach zur Sache.

LeerIn einem seiner Jahrbücher „Das Gottesjahr” wollte er die „Einheit der Bibel” behandeln. Ich schickte ihm eine sehr temperamentvolle Absage, ich wüßte nicht, weswegen wir uns an dieser Stelle und in diesem Augenblick mit dem Buch statt mit der Sache, von der darin die Rede sei, beschäftigen sollten. Prompt kam die Antwort, er wolle meinen Brief mit ein paar Änderungen als Einleitung bringen und habe schon eine Antwort dazu geschrieben. Ich schrieb zurück, es täte mir leid, daß die schönen Formulierungen, mit denen er meinen Brief gestrafft hatte, nicht auf meinem Mist gewachsen seien, aber ich fände seine Antwort viel zu schwach. Darum hätte ich sie neu geschrieben. So stehen denn nun „Absage und Antwort” ohne die beiden Namen in dem betreffenden Jahrgang, ohne Hinweis darauf, daß sie mit vertauschten Fronten geschrieben sind. (Im übrigen hatte dieser Briefwechsel die pädagogische Wirkung, daß ich mich den Argumenten nicht verschließen konnte, die ich zuerst nur spielerisch-advokatorisch gebraucht hatte, und Hebräisch lernte, um der Einheit der beiden Testamente gewiß zu werden).

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LeerWer von Stählin in die strenge liturgische Erziehung genommen wurde, der wird von ähnlichen Wandlungen berichten können. Die strenge Übung im Sprechen führte gerade nicht zu der von ihm so verpönten „Berneuchener Feierlichkeit”, sondern mit der Zeit zu einer zwar durchaus würdigen, aber wieder unbefangen gewordenen Sprache im Gottesdienst und schließlich zu einer neuen Freiheit im öffentlichen Auftreten überhaupt. Für jene künstliche Würde aber hatte er den schönen Spruch: „Mancher red't so gesalbt, daß man Fettflecke kriegt vom Zuhören!”

LeerMan wird Stählin nicht gerecht, wenn man nicht betont, daß es ihm bei „Kirche” immer um die Gesamtheit der Kirche Jesu Christi ging. Daher seine Bemühungen um die ökumenische Arbeit. Aber er ging weiter. Jahrelang hat er sich bemüht, nach dem Kriege, gegen den Widerstand auch vieler Freunde, eine Verbindung mit der Christengemeinschaft herzustellen, denn die „Fragen der Anthroposophie an die Kirche” schienen ihm ebenso berechtigt, wie ihre Antworten „fragwürdig”. Auch als die Gespräche scheiterten, hat er in seiner Schrift „Evangelium und Christengemeinschaft” eine streng sachliche, auch von der Christengemeinschaft ernsthaft gewürdigte Darstellung gegeben.

LeerAus der Predigt in Hofgeismar 1921 ist mir ein Satz in Erinnerung, daß wir keinen Absolutheitsanspruch irgend einer menschlichen Instanz, auch nicht einer Teilkirche, anerkennen könnten. Diese Einsicht hat auch seine Beziehungen zur römischen Kirche bestimmt. Sein erster Satz war immer: „Es ist noch nicht ausgemacht, ob Luthers Satz, der Antichrist sitze in der Kirche in Rom, nicht zu Recht besteht.”

LeerEr hat seine Gespräche immer unter der Beschränkung geführt, daß sie dem gegenseitigen Verstehen dienen sollten, Mißverständnisse auszuräumen, Vorurteile zu beseitigen hätten, daß sie aber nicht Verhandlungen über eine Annäherung sein könnten. Sie wurden in Verbindung mit dem Rat der EKiD geführt. Sie haben viele Hilfe in theologischen Einsichten für beide Seiten gebracht, zu herzlichen persönlichen Freundschaften geführt. Sie haben uns die Kirchenspaltung immer wieder als Schuld und Unheil erkennen lassen, aber auch deutlich gemacht, wie jede der Konfessionen bestimmte Bruchstücke der gemeinsamen Überlieferung trotz aller späteren Sonderentwicklung so bewahrt hat, daß darin ein Dienst auch für die andere liegt und eine Hilfe für den gemeinsamen Dienst der ganzen Christenheit an der Welt.

LeerDenn um die Welt geht es, um die Herrschaft Christi über die Natur, die seine Schöpfung ist, über die Geschichte, deren Kern die Heilsgeschichte ist, niemals um das Verhältnis einer isolierten Seele zu einem weltlosen Gott. Daß Wilhelm Stählin es verstanden hat, in dem Ringen um diese Einsicht, um diesen Dienst, immer welthaft zu bleiben, aber nie weltförmig zu werden - um seine eignen Ausdrücke zu gebrauchen - darin können wir schon jetzt einen Segen sehen, für den wir Gott danken.

Quatember 1958, S. 224-226

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-30
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