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Ein „Tatsachenbericht” über Lourdes
von Wilhelm Stählin

LeerMeine kleine Notiz über Lourdes im „Brief” (Johannisheft 1958) hat einige Wellen geschlagen. Es scheint etwas Ungewöhnliches zu sein, wenn ein evangelischer Theologe überhaupt etwas über den Ort der Bernadette Soubirous und ihrer Erscheinungen sagt und, wenn er das Wort dazu ergreift, das nicht nur In einer rein polemisch-negativen Weise tut. Unter anderem bin ich dadurch aufmerksam geworden auf das Buch, das eine amerikanische Protestantin, Ruth Cranston, über Lourdes geschrieben hat: „Das Wunder von Lourdes” (Deutsche Ausgabe im Verlag von Pfeiffer, München 1957, 263 Seiten, Ganzleinen DM 14.80). Die Verfasserin sagt über die Entstehung ihres Buches, daß durch Zeitungsnachrichten über wunderbare Heilungen in Lourdes der Wunsch in ihr geweckt worden sei, Lourdes mit eigenen Augen zu sehen und dort ihre eigenen Beobachtungen zu machen. „Ich hatte keine Rücksichten zu nehmen, ich gehörte keiner Organisation an, weder einer religiösen noch einer medizinischen. Ich war nur ein durchschnittlicher Bürger mit Forscherdrang. wohlwollend, wenn auch kritisch, der sich auf seine persönliche Entdeckungs- und Pilgerfahrt begab.” Dieser Intention entspringt der Untertitel des Buches: Ein Tatsachenbericht.

LeerDie Verfasserin gibt keine exakten Daten über die Dauer ihres Aufenthalts in Lourdes, aber sie berichtet, daß sie die Akten des medizinischen Büros eingehend studiert und eine ganze Anzahl der wunderbar Geheilten in verschiedenen Teilen Frankreichs persönlich aufgesucht und sich von ihnen die Geschichte ihrer Krankheiten und ihrer Heilung ausführlich hat erzählen lassen. Man wird sich dem Eindruck nicht entziehen können, daß die Darstellung nüchtern und glaubwürdig ist, wenngleich ein Tatsachenbericht in vielen Fällen exaktere Angaben über die Daten (Jahreszahlen) und die Quellen enthalten und insbesondere deutlicher unterscheiden sollte, was aus den Akten und was aus mündlichen Erzählungen stammt. Wer so erstaunliche Dinge zu berichten hat, müßte dem Leser eine bessere Möglichkeit kritischer Nachprüfung geben, als es Ruth Cranston für nötig gehalten hat.

LeerDas Buch enthält zunächst eine sympathische Schilderung der ganzen Landschaft, des Ortes und seiner eigentümlichen Atmosphäre; auch erfahren wir manche interessanten Einzelheiten über die Organisation der Pilgerzüge (jährlich kommen etwa zwei Millionen Reisende und 30 000 Kranke in das kleine Städtchen), über die ordensmäßig organisierten Brancardiers, die zur Zeit etwa zweitausend freiwilligen Helfer und Helferinnen, die zum Teil aus den vornehmsten Familien verschiedener Länder kommen, und vor allem über das seit 1885 bestehende medizinische Büro, das alle Fälle von Heilung in sorgfältiger Weise untersucht. Der medizinischen Kommission gehören nicht nur Katholiken, sondern auch „Juden, Mohammedaner, Buddhisten, Hindus und Protestanten” (so!), aber auch Atheisten und Ungläubige an, und sie scheint eher geneigt zu sein, der Wundersucht mit kritisch-wissenschaftlichen Untersuchungen entgegenzuwirken als Wunder zu „machen”.

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LeerDas medizinische Büro beschränkt sich darauf, wenn ein Anlaß dazu besteht, festzustellen, daß bei einer Heilung eine natürliche Erklärung nach dem Maßstab der medizinischen Wissenschaft nicht möglich ist, während es dann besonderen kirchlichen Instanzen überlassen bleibt, festzustellen, ob der Tatbestand eines „Wunders” vorliegt. Unter den (nach Angabe der Verfasserin) etwa 10 000 Heilungen, die in den hundert Jahren seit den Ereignissen des Jahres 1853 registriert worden sind, sind nur 55 von der Kirche offiziell als Wunder anerkannt worden. (Daß die Verfasserin weder über die Geschmacklosigkeit der Bauten in Lourdes noch über den massenhaften Kitsch der Devotionalienindustrie ein Wort verliert, kann ihr kaum zum Vorwurf gemacht werden; dafür hat sie sich offenbar nicht interessiert, obwohl beides natürlich auch zu der Atmosphäre dieses Ortes gehört.)

LeerDen breitesten Raum in dem Buch nehmen die Berichte über Heilungen aus früherer und aus neuester Zeit ein. Es sind in der Tat höchst erstaunliche Dinge, die man da zu lesen bekommt, und die Angaben, die sich auf die Aufzeichnungen des medizinischen Büros in Lourdes und auf die Aussagen der Betroffenen und der Augenzeugen berufen, erlauben kaum einen Zweifel daran, daß sich diese Heilungen wirklich in dieser Weise ereignet haben. Es handelt sich in den meisten Fällen um Erkrankungen, die von zahlreichen Ärzten als unheilbar bezeichnet worden waren; die Heilung erfolgte zumeist ganz plötzlich während des Bades in den „Piscinen” (keinen Bädern) der heiligen Quelle, während der Prozessionen oder unmittelbar danach; zum Teil auch auswärts, auf Grund irgendeiner Verbindung mit Lourdes, sei es mit dem Wasser der dortigen Quelle, sei es mit der Verehrung „unserer lieben Frau von Lourdes”.

LeerZu den erstaunlichsten Berichten gehören diejenigen Fälle, wo bei der Heilung die Funktionen zerstörter Organe (zertrennter Nervenstränge oder verkümmerter Sehnerven) wieder einsetzten und darnach die Organe regeneriert wurden. Vielfach empfanden die Kranken im Augenblick der Heilung, die sie überraschend sozusagen überfiel, einen unerträglichen Schmerz, der dann rasch von einem Wohlgefühl im ganzen Körper abgelöst wurde. Ebenso wird es zu den Wundern von Lourdes gerechnet, daß in diesen hundert Jahren niemals in Lourdes eine Epidemie ausgebrochen und auch keine Fälle von Infektion bekannt geworden seien, obwohl bei dem Zusammenströmen so vieler Schwerkranker die an sich selbstverständlichsten hygienischen Vorsichtsmaßnahmen in einer geradezu grotesken Weise außer acht gelassen worden sind, und obwohl also zum Beispiel das Wasser, in dem viele Kranke nacheinander gebadet wurden, medizinisch als hochgradig verseucht gelten mußte.

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LeerEs sind aber neben diesen erstaunlichen Heilungsgeschichten einige andere Umstände, die den Leser ebenso stark berühren können: Man gewinnt den Eindruck, daß die ärztliche Kommission wirklich bemüht war, die Tatbestände sehr genau zu erforschen; über dem Schreibtisch des leitenden Arztes hängt ein Relief mit einem Wort von Emil Zola, dem leidenschaftlichen Bekämpf er von Lourdes: „Es gibt keine heroischere Aufgabe als die Wahrheit zu ergründen und sei es die kleinste”. Es werden nur Fälle registriert, bei denen ärztliche Gutachten über den Zustand der Krankheit vor der Heilung vorliegen, und bei denen strenge Nachprüfungen nach ein oder zwei Jahren die Dauerhaftigkeit der Heilung verbürgen. Neurotische Erkrankungen sind von der Registrierung ausgeschlossen.

LeerVielleicht noch wichtiger ist das, was Ruth Cranston über die menschlichen Voraussetzungen der Heilungen sagt: Die Heilungen erfolgen völlig unberechenbar; weder Frömmigkeit noch Würdigkeit oder Treue zum katholischen Glauben scheinen dabei irgendeine Rolle zu spielen, wohl aber die Kraft des Gebetes, und zwar ebenso die Fürbitte der anderen wie das eigene Gebet der Kranken. Die Verfasserin beschreibt Lourdes als eine Stätte, wo „das Leben ein Gebet ist”, wo die meisten bewegt sind von Nächstenliebe und Fürsorge für die elenden und hilfsbedürftigen Menschen neben ihnen, und wo auch manche Kranke inbrünstiger für die Heilung der anderen als für die eigene Heilung beten und darüber ihr eigenes Leiden fast vergessen können.

LeerDie Verfasserin verbirgt nicht, daß ihr als amerikanischer Protestantin die Selbstverständlichkeit, mit der in Lourdes alle Heilungen auf die Fürsprache der heiligen Jungfrau zurückgeführt werden und mit der mehr zu Maria als zu Christus gebetet wird, fremd ist, wenngleich sie auch kein polemisches Wort über diese marianische Frömmigkeitsform sagt. Aber sie kommt in ihrem Schlußkapitel darauf hinaus, das Größte an Lourdes seien nicht seine Heilungen, sondern „die Einbeziehung Gottes In das Alltagsleben”, die Wirklichkeit dessen, wovon die Heilige Schrift redet; und daraus allein erkläre es sich, daß auch die Nicht-Geheilten, und das ist die weitaus größere Mehrzahl der Pilger, nicht enttäuscht oder verbittert, sondern eher getröstet und gelassen von Lourdes nach Hause zurückkehren.

LeerIch meine, man solle das alles zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, auf sich wirken lassen und versuchen, es mit den Vorstellungen und Formen der eigenen Frömmigkeit in Beziehung zu setzen, statt es gleich mit Irgendwelchen Etiketten zu versehen und sich dadurch vom Leib zu halten. Es wäre ein bedenkliches Zeichen eigener Unsicherheit, wenn wir meinten, wir müßten an all diesen Dingen vorübergehen, ohne sie anzusehen und ohne sie ernstzunehmen.

Quatember 1959, S. 34-36

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-05
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