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Über die Natur II
„Geschaffen samt allen Kreaturen”
von Wilhelm Stählin

LeerAls wir - manche von uns vor sehr langer Zeit - Luthers Auslegung des 1. Glaubensartikels in seinem Kleinen Katechismus auswendig lernten, haben wir diese Worte in uns aufgenommen: „Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen.” Es ist die einzige Stelle, in der im Rahmen des Kleinen Katechismus von der außermenschlichen Natur ausdrücklich geredet wird, und es ist im höchsten Grade bemerkenswert, mit welchen Worten und in welcher Weise das geschieht. Nicht als ob Luther das Wort „Natur” nicht gekannt und nicht auch gebraucht hätte, freilich gerade nicht in dem Sinn, in dem uns dieses Wort geläufig ist, als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und technischer Beherrschung; aber indem hier, in dem „Artikel” von der Schöpfung, nicht von „Natur”, sondern von den „Kreaturen” geredet wird, erscheint diese ganze außermenschliche Weltwirklichkeit als geschaffene Wirklichkeit in einem unaufhebbaren Zusammenhang mit Gott als dem Schöpfer alles dessen, „was sichtbar ist und unsichtbar” (wie es im nicänischen Bekenntnis des christlichen Glaubens heißt); und indem die ganze Aussage („geschaffen”) zentral auf den Menschen (Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat) und damit zugleich („samt”) auf die Kreaturen bezogen ist, erscheint der Mensch selbst in einem unaufhebbaren Zusammenhang mit der ganzen geschaffenen Welt und zugleich doch in einer unübersehbaren Sonderstellung aus der Gesamtheit aller Kreaturen herausgehoben.

LeerDamit ist zwar gewiß nicht alles, aber doch in der knappsten Form das Wesentliche ausgesprochen, was mit dem Glauben an Christus zugleich über die Welt als die Fülle der geschaffenen Wirklichkeit ausgesagt ist, und es ist damit die auf dem ersten Blatt der Bibel enthaltene Schöpfungsgeschichte in ihrem wesentlichen Gehalt erfaßt und vor Mißverständnissen geschützt.

Leer„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.” Das klingt so einfach und selbstverständlich und ist doch ein Satz voller Rätsel und Geheimnisse. Man muß, wie so oft, auch hier zunächst einmal Mißverständnisse aus dem Weg räumen, um nicht mit falschen Vorstellungen und Erwartungen an diesen ersten Satz der Heiligen Schrift heranzutreten. In der Ausgabe der „Biblischen Geschichte”, nach der ich in meinen ersten Amtsjahren als bayerischer Pfarrer noch unterrichtet habe, befand sich am Schluß des Buches eine „Zeittafel”, an deren Spitze die Angabe stand „4000 v. Chr.: Erschaffung der Welt”. Das ist nun zweifellos eine falsche Deutung jenes „Anfangs”. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß die Träger jener heiligen Überlieferungen auf Grund astrologischer Berechnungen der Meinung waren, daß die ganze Welt nicht älter sei als diese paar tausend Jahre.

LeerAber das war nun nicht nur ein Irrtum, der schon den Schulkindern in meinem Dorf aufgefallen ist, sondern keine solche Berechnung, auch wenn sie sehr viel freigebiger wäre mit Jahrtausenden oder Jahrmillionen, würde jenen „Anfang” erreichen, auf den hier die ganze bestehende Welt bezogen ist. Der „Anfang” ist nicht das erste Glied einer langen Reihe nachfolgender Ereignisse. Das hebräische Wort für „Anfang” enthält in sich den Wortstamm, mit dem der Kopf, das Haupt bezeichnet wird, und in dem entsprechenden griechischen Wort (Joh. 1, 1) ist eigentlich ein Rang- oder Herrschaftsverhältnis gemeint.

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LeerMag die biblische Schöpfungsgeschichte in vielen Einzelheiten die Spuren einer frühen Auffassung von der Struktur der Welt in sich tragen, so zielt doch die ganze Schöpfungsgeschichte keineswegs auf solche vorwissenschaftlichen Auffassungen von dem Alter und der Entstehungsgeschichte der Welt. Der „Anfang”, in dem Gott Himmel und Erde geschaffen hat, ist vielmehr das, was allem Geschehen heute wie in jeder fernsten Vergangenheit zugrunde liegt, die Ur-sache oder Ur-geschichte, hinter die man nicht weiter zurückfragen kann, und die doch die Welt durch alle Phasen ihrer Geschichte begleitet. Einer unserer Freunde hat den sehr bezeichnenden Ausdruck geprägt, es sei der „mitlaufende Anfang”, der uns immer gleich ferne und gleich nahe ist.

LeerAn diesem Anfang steht Gott als der Schöpfer des Alls, oder vielmehr: Gott selber ist dieser Anfang. Der strenge Monotheismus des biblischen Denkens läßt keinen Raum für andere göttliche Wesen, für einen Urstoff, aus dem Gott nach der Art eines Handwerkers die gegenwärtige Welt geformt hätte, erst recht nicht für ein mythisches Ungeheuer, dem der Weltenschöpfer, so wie im babylonischen Schöpfungsmythos, den Kosmos hätte abringen müssen. Es ist der eine souveräne Wille, der sich in allem geschaffenen Sein äußert und darstellt. Die biblische Schöpfungsgeschichte macht keinen Versuch, das schöpferische Handeln Gottes selbst zu beschreiben, sondern indem sie einfach sagt: „Gott sprach”, ist damit dieser Anfang ebenso verhüllt wie gekennzeichnet. Gottes „Wort” ist das mythische Bild für sein schöpferisches Handeln selbst. Als ich in meiner Schulzeit den Spruch lernte „So er spricht, so geschiehts”, hatte ich nur die Vorstellung eines ungesäumten und flinken Gehorsams (der sich eben daran von unserem eigenen, manchmal etwas zögernden Gehorsam unterschied); aber so ist es ja nicht gemeint, sondern die Kundgebung seines Willens, sein „Wort”, ist selbst schon schöpferische Tat; Wort und Tat sind eins.

LeerDer Glaube an Gott als den Schöpfer verzichtet also auf jeden Versuch, sich Gottes Sein und Wesen vor der Schöpfung der Welt auszudenken und über ein höchstes Wesen abgesehen von der geschaffenen Welt zu spekulieren; sondern indem der Glaube von Gott redet, redet er von dem Schöpfer Himmels und der Erde, alles dessen, das sichtbar ist und unsichtbar; er hat keinen Ehrgeiz, Gott außerhalb und abseits der wirklichen Welt zu begegnen. Aber ebensowenig taucht das, was wir „Natur” nennen, im Gesichtskreis dieses Glaubens auf, nämlich die Welt abgesehen davon, daß sie von Gott geschaffen ist; die sinnliche Wirklichkeit abgesehen von dem Sinngehalt, der ihr eben durch das göttliche Schöpfungswort verliehen ist.

LeerDie Entwicklung der letzten sechs oder sieben Jahrhunderte, in denen die Menschheit gelernt hat, diese Natur als solche, abgesehen von ihrer Beziehung auf Gott, zu erforschen und zu beherrschen, läßt sich weder rückgängig machen, noch kann sie in ihrer Gesamtheit als eine Fehlentwicklung verurteilt werden. Nur muß man sich klarmachen, daß die Natur als Gegenstand der Naturwissenschaft nur ein Teilaspekt der komplexen Wirklichkeit „Welt” ist, so wie der Botaniker der Wirklichkeit „Wiese”, der Mineraloge dem Phänomen „Kristall”, der Anatom der Wirklichkeit des Menschen niemals völlig gerecht werden kann, noch auch gerecht werden will. „Im Anfang” ist nicht die Natur - als ein Kunstprodukt oder, wenn man so will, eine Abstraktion des forschenden Menschengeistes -, sondern die Kreatur als die Fülle der geschaffenen Wirklichkeit.

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LeerDarum geht jede Denkweise, die in dem ersten Kapitel der Bibel eine Art primitiver Naturwissenschaft sieht und davon beunruhigt wird, daß diese Geschichte von den sechs Schöpfungstagen sich mit den Ergebnissen naturwissenschaftlicher Forschung schlecht zusammenreimen läßt, an dem eigentlichen Sinn dieser Schöpfungsgeschichte vorbei. Vielleicht wäre es richtiger und würde manches von vornherein ins rechte Licht rücken, wenn man nicht von der Schöpfungsgeschichte, sondern von einem Schöpfungshymnus reden wollte. Zwischen den mythischen Kosmogonien (Geschichten von der Entstehung der Welt) und den Anfängen wissenschaftlicher Forschung (die freilich in den alten Kulturzentren des Vorderen Orients sehr früh eingesetzt haben) steht das erste Kapitel der Bibel in der Nachbarschaft jener Dichtungen, in denen Gott um seiner Kreaturen und durch diese seine Kreaturen gepriesen wird; man lese - oder noch besser: singe - den 104. oder den 148. Psalm, den „Gesang der drei Männer im Feuerofen”, der nach seinem Anfangswort das Benedicite heißt und als solches in die Liturgie der Kirche eingegangen ist; oder auch die gewaltigen Schilderungen der Schöpfung in den letzten Kapiteln des Hiob-Buches, um unmittelbar zu empfinden, wie sehr Gott als der Schöpfer der Welt geehrt und die Welt eben als Gottes Geschöpf betrachtet wird.

LeerWenn der Glaube an Gott den Schöpfer nicht von der Natur, sondern von den Kreaturen redet, so ist das alles andere eher als ein müßiger Streit um verschiedenen Sprachgebrauch. Der ganze Siegeszug der Entdeckung und Erforschung der äußeren Natur bis in die feinsten Strukturen hinein war nur möglich auf dem Boden eines kausalen Denkens, das heißt eines Denkens, das nach dem Woher fragt, das das Geschehen als Wirkung bestimmter Ursachen begreift und in Experiment und Technik aus der Konstruktion bestimmter Voraussetzungen berechenbare Wirkungen hervorruft. Dieses Denken ist dem Glauben ebenso wie der Bibel wesensfremd, da der Glaube vielmehr danach fragt, was mit bestimmten Erscheinungen gemeint und gewollt ist. Das kausal nach den Ursachen forschende Denken wird durchkreuzt von dem teleologischen Denken, das nach dem Zweck und Ziel fragt, um des willen alles besteht oder sich ereignet. In dem Glauben, daß wir Menschen geschaffen sind samt allen Kreaturen, spricht sich die Gewißheit aus, daß diese Welt nicht das Produkt mechanisch wirkender Kräfte ist, sondern vielmehr einem zielgerichteten Willen entstammt, wenngleich sich uns die Ziele dieses Wissens immer nur bruchstückweise enthüllen.

LeerDas Sechstagewerk, in dessen Schema jener Schöpfungshymnus priesterlicher Weisheit die Schöpfung verherrlicht, ist nicht eine Aufeinanderfolge verschiedener Stadien der Weltentstehung, bestimmter kosmischer Perioden, sondern es ist in diesem ganzen Bericht ein Gefälle zu spüren, das von Anfang an auf das drängt, ja von dem gleichsam schon gezogen wird, was dann als das Letzte erscheint. Dieses Letzte, das von Anfang an die eigentliche Intention des Schöpfers ist, ist der Mensch.

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LeerFür eine rein naturwissenschaftliche Betrachtung steht die „Abstammung” des Menschen aus früheren und niedrigeren Gestalten des vielfältigen Lebens im Vordergrund, und sie muß immer wieder den Versuch machen, den Menschen selbst aus diesen seinen „Vorformen” zu verstehen. Das materialistische oder auch das biologische Verständnis des Menschen wird zwar heute auf dem eigensten Boden der Naturwissenschaft energisch bestritten und erscheint von hier aus, was man nicht deutlich genug sagen kann, als wissenschaftlich rückständig; aber das Entscheidende, was dagegen zu sagen ist, kann auf dem Boden dieses kausalen Denkens gar nicht gesagt werden. Es ist nämlich dieses, daß mit der Schöpfung des Menschen etwas anderes gemeint ist als mit der Erschaffung aller anderen Kreaturen; Gott hat sich, als er den Menschen schuf, sozusagen etwas andres gedacht als bei Licht und Meer, bei den Gestirnen, bei Fischen, Vögeln und anderem Getier.

LeerLuthers Satz, daß „mich (den Menschen) Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen”, deutet die eigentümliche und zwiespältige Stellung des Menschen innerhalb der geschaffenen Welt an; und zwar zunächst und vor allem die Solidarität des Menschen mit allen anderen Kreaturen. Gott macht den Menschen aus „Ackererde”; in seinem physischen Bestand steht der Mensch im Zusammenhang alles Geschaffenen. Immer meint die Bibel den Menschen in dem Ganzen der ihn umgebenden Welt; sie kennt kein Verhältnis zu Gott abgesehen davon, daß er der Schöpfer dieser Welt ist. Wenn der Mensch sein Herz und seine Stimme dazu erhebt, Gott zu loben, so steht er dabei (wie es in den vorhin schon erwähnten Psalmen geschieht) in einer Reihe mit allen Kreaturen; sich selbst nicht mehr als Kreatur zu verstehen und sich um seiner Freiheit willen gott-gleich von allen Kreaturen zu distanzieren, ist die eigentliche Versuchung des Menschen und die treibende Kraft seines „Falles”. Darum kennt der christliche Glaube ebensowenig wie die Bibel jenes tiefe und feindselige Mißtrauen gegen die Welt, das die Schöpfung dieser Welt dem bösen „Demiurgen” zuschreibt und den metaphysischen Fall des Menschen darin begründet sieht, daß das reine Geistwesen sich mit der materialistischen Wirklichkeit dieser Welt eingelassen hat; und eben darum hat die Kirche zu allen Zeiten die Gnosis als eine verhängnisvolle Verfälschung der Wahrheit und einen Abfall von der Wirklichkeit der Welt bekämpft und auszuscheiden versucht (leider nicht immer mit durchschlagendem Erfolg), weil diese Gnosis in jeder ihrer schillernden Erscheinungsformen immer darauf bedacht ist, den Menschen von der Welt zu lösen und zu befreien.

LeerAuf der anderen Seite steht der Mensch doch allen anderen Kreaturen in einer nicht aufzuhebenden Sonderstellung gegenüber. Er allein wird von Gott angeredet und ihm allein die Fähigkeit verliehen, solche Anrede, das „Wort” Gottes, zu vernehmen und ihm zu antworten. Er allein ist nicht nur den Existenzbedingungen alles geschaffenen Lebens unterworfen - denen er nicht entnommen ist -, aber ihm allein ist neben dem „Muß” solchen Zwanges ein Gebot, ein „Du sollst” und damit die Möglichkeit des Ungehorsams gegeben; er allein wird verantwortlich gemacht für sein Tun, und wo Verantwortung ist, da ist immer auch Schuld. Verantwortung und Schuld sind von dem menschlichen Sein unabtrennbar, und es gibt bei allen außermenschlichen Kreaturen nichts, was der Verantwortung und der Schuld des Menschen entspräche.

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LeerIndem Gott den Menschen anredet, erwacht der Mensch zum Bewußtsein seines Ichs. Dieses Ich-Du-Verhältnis zwischen Gott und Mensch hat aber sein Spiegelbild in dem Verhältnis von Mensch zu Mensch; keine Symbiose zwischen Tieren oder Pflanzen schließt ein solches Ich-Du-Verhältnis in sich. Allein der Mensch kann seinem menschlichen Partner als seinem Du begegnen und daran dann erst recht als Ich erwachen. Nur in der Begegnung eines Ich mit seinem Du kann es Liebe geben, und in dieser Anlage und Bestimmung zur Liebe erfüllt sich der Wille Gottes, unter allen Kreaturen ein Wesen zu schaffen, das Gottes Bild auf Erden sei. In dem Buch eines katholischen Ordensmannes haben es mir schon vor Jahren die beiden ersten Sätze angetan, in denen diese Entelechie der ganzen Schöpfung (ihr geheimes Ziel, das von Anfang an wirksam gewesen ist) auf die kürzeste Formel gebracht ist: „Wenn man fragt, was Gott mit seiner Schöpfung vorhat, was er eigentlich will, so gibt es neben vielen Teilantworten nur eine, die das Letzte besagt: Gott will, daß geliebt wird. Alles andere interessiert Gott nur halb.”

LeerNur darum, nicht um seiner größeren Intelligenz willen, ist dem Menschen ein bevorzugter Rang unter allen Geschöpfen eingeräumt. Er gibt den Tieren ihren Namen; was sie sind, sind sie durch ihre Beziehung zum Menschen. Ihm, dem Menschen, ist die ganze Schöpfung anvertraut: „Machet euch die Erde untertan!” Doch kommt das Wesen dieser seiner Herrschaft am deutlichsten zum Ausdruck in dem mythischen Bild eines Gartens, in den Gott, der Herr, den Menschen gesetzt hat. Der Garten ist ein begrenztes Stück Welt, ein Stück Natur, das durch den Menschen aus seinem bloßen Natursein zu einem neuen Sein erhoben wird; der Garten ist die Welt, die auf den Menschen, auf seine Arbeit, auf seine Fürsorge, seine Pflege angewiesen ist, und der Mensch kann diese seine „Welt” nur beherrschen, indem er die Gesetze des Lebens und Wachstums erforscht und beobachtet und ihnen in Bescheidenheit und Treue dient. Der Gärtner und der Bauer sind die Urformen für die Herrscherstellung und die Verantwortung des Menschen in dieser seiner Welt, und an ihnen wird offenbar, wie wenig es also dem Menschen erlaubt ist, seine Herrscherstellung zur Tyrannis entarten zu lassen, die an die Stelle des bewahrenden und pflegenden Dienstes die brutale Vergewaltigung und Zerstörung setzt.

LeerDas „Sechs-Tage-Werk” der Schöpfung zielt auf die Erschaffung des Menschen; nur wenn der Mensch seine eigene und eigentliche Bestimmung zur Antwort an Gott, zur Liebe zu seinem menschlichen Du und zur dienenden Verantwortung für die Welt verkennt und verleugnet, kann er in die Versuchung geraten, sich selbst, den Menschen, von der „Natur” her verstehen zu wollen, statt umgekehrt die Welt als Schauplatz und Werkzeug der menschlichen Geschichte zu begreifen. Heinz Beckmann, dessen kritische Essays im „Rheinischen Merkur” zu lesen, jedesmal ein Vergnügen und eine Bereicherung ist, hat kürzlich eben dort (in der Weihnachtsnummer 1958) unter dem Titel „Flucht aus dem sechsten Schöpfungstag” diese sehr beunruhigenden Zeiterscheinungen beschrieben, in denen der Mensch „sich selber abhanden gekommen ist” und unter der Firma der „Gleichgültigkeit der Welt” in ein naturhaftes Dasein ohne Liebe, ohne Verantwortung und ohne Schuld fliehen möchte.

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LeerDer Mensch allein - dieses liegt auf der Linie seines „Sündenfalls” - kann sich an das Unternehmen wagen, die Schöpfung rückgängig zu machen; und allein unter diesem Gesichtspunkt ist einigermaßen zu verstehen, was heute mit dem Ehrgeiz, ganz modern zu sein, allenthalben um uns her geschieht. Von diesem allen muß auch geredet werden, wenn man versucht auszusprechen, was mit der biblischen Schöpfungsgeschichte und was mit dem Glauben an die Schöpfung der Welt, ja was also mit dem Wort „Geschaffen samt allen Kreaturen” eigentlich gemeint ist.

LeerDas gleiche Grundverständnis des Schöpfungsglaubens mag zuletzt noch in einem anderen Aspekt sichtbar gemacht werden. Der ganze Schöpfungshymnus im ersten Kapitel der Bibel ist von einer dreifachen Zweiung durchzogen. Was ist damit gemeint, daß Gott im Anfang Himmel und Erde geschaffen hat? Vielleicht haben die Menschen, die das zuerst so ausgedrückt haben, dabei in der Tat ganz „naiv” an diese unsere Erde und das Himmelsgewölbe darüber mit Sonne, Mond und Sternen gedacht. Aber sie haben eben nicht nur daran gedacht, weil für sie alles sichtbare Sein immer zugleich Träger eines unsichtbaren Sinngehalts gewesen ist. (Erst wenn der Schöpfungsglaube zu einer etwas nebelhaften Theorie über den Ursprung der Erde verblaßt, kann beides so völlig auseinandergerissen werden, wie es in den letzten Jahrhunderten der Fall gewesen ist.)

LeerDarum war für die Menschen der Bibel der „Himmel”, zu dem sie emporschauten, immer zugleich das anschaubare Bild für geheimnisvoll wirkende Kräfte, durch die alles auf dieser Erde bewegt und gestaltet wird; die „Engel” waren für spätere Geschlechter das Erscheinungsbild jener bewegenden Mächte, jener Strahlen aus einem unsichtbaren Licht, oder wie man das sonst noch auszudrücken vermag, und sie, jene Menschen, waren tief davon durchdrungen, daß die visibilia omnia nicht aus sich selbst, sondern allein aus dem Zusammenhang mit den invisibilia omnia heraus verstanden werden könnten. Die Erde als Kreatur kann ohne diesen „Himmel” nicht bestehen, und ohne das ahnende Wissen um diesen Himmel nicht in Wahrheit erkannt werden. Erst wenn diese Zweiung „Himmel und Erde” zur Entzweiung wird, wenn die Erde von den bewegenden Kräften der himmlischen Welt losgelöst aus sich selbst heraus verstanden werden soll, wird im Grunde alles unverständlich, auch wenn der Verstand meint, in die geheimen Strukturen dieser irdischen Welt eingedrungen zu sein.

LeerMit der Erschaffung des Lichtes am ersten Schöpfungsmorgen tritt die Dämmerung in Licht und Finsternis auseinander; in gleicher Weise wird sodann ein Unten und ein Oben, das feste Land und das Meer voneinander geschieden. Um es kindlich zu sagen: Gott ist kein Freund der unklaren Vermischungen, und der geordnete Kosmos unterscheidet sich vom Chaos durch die klare dis-positio, durch das Auseinandertreten des Gegensätzlichen. Diese uranfängliche Scheidung spiegelt sich in der Entscheidung zwischen Gut und Böse, die dem Menschen auferlegt ist, und sie vollendet sich in jener letzten Scheidung, die wir das Jüngste Gericht nennen, und in der endgültig alle laue Halbheit in ein unbedingtes Ja oder Nein, Rechts oder Links, Leben oder Tod auseinandertritt. Hier ist der Welt eine Gegensetzlichkeit eingestiftet, die den Menschen zur Entscheidung aufruft, und die als eine wirkliche Scheidung vollzogen wird.

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LeerDie entscheidende Zweiung, die mit der Erschaffung des Lebens in die Welt einzieht, ist aber die Entfaltung des Lebens in die beiden Geschlechter, die (mit seltenen und seltsamen Ausnahmen) zur Erhaltung des Lebens aufeinander angewiesen sind. Aber nur in dem Menschen, der von Anfang in den beiden Seinsformen des Männlichen und des Weiblichen existiert, dient diese Zweiung über alles naturhafte Leben hinaus einer höheren Bestimmung, als ein ständiger Appell nämlich, das Verschiedene in der Liebe zu einer höheren Einheit zusammenzubinden.

LeerErst in der Liebe zum Du, die den anderen, der wirklich anders ist, wie das eigene Leben, ja als das eigene Leben bejaht, vollendet sich der Sinn dieser Zweiung. In einem Abfall des Menschen von Gott und in der Auflehnung gegen seine Bestimmung („Flucht aus dem sechsten Schöpfungstag”) wird die Zweiung zur Entzweiung, und die Liebe, in der Gottes Wesen widerstrahlt, verwandelt sich in den Haß, der den Bruder, den er nicht mehr hüten will, erschlägt.

LeerSo verstanden ist der Glaube an die Schöpfung die notwendige Voraussetzung (nicht nur das Vorspiel) alles dessen, was der Glaube von der Geschichte zwischen Gott und Mensch zu sagen weiß. Die Bibel erzählt von der Schöpfung nicht, um die „Natur” zu erklären, sondern, um die Heilsgeschichte verständlich zu machen.

LeerOder um es mit einem in der Schöpfungsgeschichte selbst enthaltenen Bild auszusprechen: „Gott sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut.” Das ist nicht nur das Wohlgefallen, das der Schöpfer an seinen Werken hat; sondern man könnte das Wort auch umkehren: Alles ist darum gut, weil Gott es ansieht; weil der Blick und damit die Liebesabsicht Gottes darauf ruht. Denn der Blick Gottes geht immer über alles, was da ist und lebt, hinaus auf das, was damit gemeint ist, worin diese geschaffene Wirklichkeit in ihrer Bestimmung erfüllt wird. So wie am Morgen der zweiten Schöpfung Maria den Herrn darum preist, daß er sie, seine geringe Magd, angesehen hat, so klingt in allem Lobpreis der Schöpfung der Dank dafür wider, daß Gott alles, was er geschaffen hat, den Menschen samt allen Kreaturen, angesehen hat und ansieht, und dieses vor allem anderen ist der Grund, warum der Schöpfungsglaube nicht von der Natur, sondern von den Kreaturen redet, auf denen Gottes Blick ruht.

Quatember 1959, S. 93-100

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-05
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