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Unbewußtes Christentum?
von Hermann Wagner

Verzeihen Sie bitte, ich gehöre hier gar nicht her, ich bin Industriearbeiter. Seit siebzig Jahren haben wir uns nichts mehr zu sagen. Wir brauchen den Menschen, der uns vorlebt. Haben Sie den? Das Buch, die Bibel, sagt uns nichts, ihre Sprache ist uns unverständlich. Die blutleere Tradition des Kirchengehens ist uns zu blöde, uns Schichtarbeitern gar nicht möglich. Kirche ist Museum, nicht nur wegen des Geruchs, die Pfarrer Komödianten, nicht nur wegen des ernsten, feierlichen Gesichts. Wir leben in der modernen Welt, wir haben die Technik und sie hat uns. Lebensfreude und Erholung brauchen wir. Könnt Ihr das geben? Es hat Kriege gegeben, jetzt sind wir von der atomaren Himmelfahrt bedroht! Die Kirche ist geblieben, was sie war: erstarrte, weltfremde, lieblose, waffensegnende, Gefühle provozierende und lenkende Hilfsmacht des Staates. Nun ist sie entlarvt und bockt wie ein Kind. Jetzt will sie ein Eigenes sein! Aushängeschild soll Inhalt werden. Das überzeugt nicht mehr! Jetzt braucht man sie nicht mehr ernst zu nehmen, diese Karikatur einer versinkenden Welt. Wir brauchen den Arzt, den Helfer, der die Gesundheit des Körpers, Geistes und des Herzens gewährleistet, wir brauchen herzliches Verständnis, Freude. Gibt Eure Predigt das? Wer seid Ihr eigentlich, daß Ihr uns fordert? Wir wollen rufen, wir wollen fordern, aber nur den, dem wir glauben können. Wir brauchen den Weg zur rechten Menschlichkeit. Wo ist die Predigt der Menschlichkeit? Habt Ihr die?
LeerDiese Sätze, die ein Industriearbeiter bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt sagte, wurden im November vorigen Jahres in der Zeitschrift „Zeichen der Zeit” veröffentlicht.

LeerSo wie dieser Industriearbeiter denken und empfinden sicher nicht nur einzelne, sondern Tausende und Abertausende, auch wenn sie es nicht so klar zum Ausdruck bringen können. Nicht nach Geld und Vergnügen steht in erster Linie ihr Sinn, sondern nach Freude und Menschlichkeit. Wer beides so hoch schätzt, wird auch bereit sein, es nicht nur zu fordern, sondern es auch zu geben. Wo das aber geschieht, da dürfte etwas vorhanden sein von dem, was man mit dem freilich sehr umstrittenen Begriff „Unbewußtes Christentum” bezeichnen könnte. Sollte es dies aber geben - und dem wollen wir in folgendem nachsinnen -, dann würde das nicht nur für unsere Verkündigung, sondern auch für das kirchliche Handeln von tiefgreifender Bedeutung sein.

LeerVom „unbewußten Christen” und vom „unbewußten Christentum” hat schon vor hundert Jahren der Heidelberger Theologe Richard Rothe gesprochen. Bei ihm dürfte das Wort zuerst begegnen. Ihm war die Kirche und Kirchlichkeit seiner Zeit zu eng. Seinem freien Geiste widerstrebte vor allem die theologische Starrheit, mit der die herrschende orthodoxe Richtung seiner Zeit an den überlieferten Dogmen und Lehrgebäuden festhielt. Darin sah er einen der Hauptgründe für die zunehmende Entkirchlichung seiner Zeit. Er schreibt: „Der geistige Horizont des 16. und 17. Jahrhunderts ist ein für alle mal untergegangen, auch für die christliche Frömmigkeit als spezifisch evangelische. Ihn wieder heraufzubeschwören, dazu reicht keine menschliche Macht hin. Was das Loskommen unserer Bevölkerung von der Kirche seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts herbeiführte, war, daß die Kirche, weil sie es verschmähte, von dem durch den Fortgang der Geschichte erweiterten geistigen Horizont ernstlich Notiz zu nehmen und die damals in der Geburt befindliche eigentliche moderne Kultur auch sich anzueignen, für die Leute von dieser neuen Bildung ungenießbar geworden war. Die Kirche hielt diese moderne Bildung für eine unchristliche, weil das Christliche in ihr nicht das bisherige altherkömmliche Gewand des Christlichen trug.” Es wäre nach seiner Meinung die Pflicht der kirchlichen Behörden, dafür Sorge zu tragen, daß die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung bekanntgegeben würden und daß denen, die es tun, kirchlicher Schutz gewährt würde. Aber, so fragt er: „Wie viel haben nun wir Diener der Kirche über diese Dinge - ich rede lediglich von den als fest gesichert anzusehenden Ergebnissen der Forschung - bisher unserer Gemeinde wissen lassen?”

LeerDen anderen Grund für die Entwicklung fand er in der pharisäischen Selbstgerechtigkeit, mit der gewisse, in der Kirche sehr einflußreiche pietistische Kreise auf die sogenannten Ungläubigen herabsahen. Das war die Meinung eines Mannes, der seine eigene Herkunft aus dem Pietismus nie verleugnet hat. Es klingt vielleicht paradox, aber man kann zusammenfassend sagen: Die Ursache der „Unkirchlichkeit” der weiten Massen fand er in der „Kirchlichkeit” der in der Kirche herrschenden Gruppe.

LeerDie Hauptschuld suchte Rothe bei den Theologen selbst. Deswegen erhoffte er sich eine Besserung dieses Zustandes durch einen vermehrten Einfluß der Laien auf die kirchlichen Verhältnisse und kann daher in gewisser Weise als ein erster Vertreter einer Laienbewegung angesehen werden. Er setzte seine Hoffnung auf eine Verfassungsänderung, die den Laien einen stärkeren Einfluß auf das kirchliche Leben bringen würde, wurde aber in dieser Hoffnung sehr enttäuscht. Auch war es gewiß eine Utopie, wenn er glaubte, daß die Welt und die Kultur verchristlicht werden könnten und daß die Kirche einst in den Staat aufgehen könne und solle. Die schauerlichen Weltereignisse der letzten Jahrzehnte haben uns gezeigt, wie wenig darauf zu rechnen ist. Die Erwartungen eines liberalen Kulturprotestantismus der Vergangenheit, zu dessen Vertretern Richard Rothe gehörte, haben sich durchaus nicht erfüllt. Die freie Theologie hat daraus gelernt, und es ist beachtlich, daß da, wo heute, besonders in der Schweiz, an die liberale Tradition angeknüpft wird, etwa bei Ulrich Neuenschwandner, die „Abgründigkeit” der Welt, des Menschen und Gottes gesehen und mit eindrucksvollen Worten gelehrt wird.

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LeerWas aber diesen Vertreter eines unbewußten Christentums trotz seiner utopischen Vorstellungen über die Zukunft der Kirche und den Gang der Weltgeschichte auszeichnet, ist seine tiefe Bescheidenheit und brüderliche Gesinnung. Jeder christlichen Selbstsicherheit und moralischen Gesetzlichkeit, wie sie das Pharisäertum aller Zeiten charakterisiert, ist er abhold. Er weiß, „daß ein Christ werden und ein Christ sein nicht aus Menschen Macht allein kommt, sondern aus Gottes Macht ist”.

LeerDieser Anwalt der „unbewußten Christen” fühlt sich mit seiner liebevollen Hinneigung zu den Ungläubigen und mit seinem Wunsch, die Volkskirche zu halten als ein Nachfolger dessen, der einst seinen prominenten Gegnern, die ihn versuchen wollten, die Antwort gab: „Die Zöllner und Huren mögen wohl eher ins Himmelreich kommen, denn ihr” (Matth. 21, 31). Dieses Wort Jesu richtet sich gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer und steht in dem Kapitel mit dem achtfachen Wehe über sie. Dort heißt es von ihnen: „Sie binden aber schwere und unerträgliche Bürde und legen sie den Menschen auf den Hals, aber sie wollen dieselben nicht mit einem Finger regen.” Rothe glaubt im Geist Jesu zu handeln, wenn er die kirchlichen Menschen ermahnt, „die Entfremdeten nicht als Unverbesserliche zu behandeln, sondern auf ihre Gemütsstellung und auf ihre Bedürfnisse ausdrücklich Rücksicht zu nehmen; wenn die Kirche ihnen gegenüber nur einmal den richtigen Ton, den Ton der wirklichen christlichen Liebe in ihrer heiligen Demut und Weisheit anschlagen wird: laßt sehen, ob sie sich dann nicht verpflichtet und gedrungen fühlen werden, auch ihrerseits ihr näherzutreten. Wie diese Erwartung sich aber auch bewähren möge, bei dem Satze muß ich beharren: das ist heutzutage nicht am sichersten wirkliches Christentum, das sich als solches weiß und gebart, und die sind nicht schon ohne weiteres Unchristen, die sich nicht ausdrücklich dafür ausgeben, Christen zu sein.”

LeerDie Frage des unbewußten Christentums hat auch Bonhoeffer beschäftigt. Sie taucht, soweit ich sehen kann, sehr spät in seinen Schriften auf. Am 27. Juli 1944 schreibt er an seinen Freund Eberhard Bethge aus dem Gefängnis: „Deine Formulierung unseres theologischen Themas ist sehr klar und einfach. Die Frage, wie es eine natürliche Frömmigkeit geben kann, ist zugleich die Frage nach dem unbewußten Christentum, die mich mehr und mehr beschäftigt. Die lutherischen Dogmatiker unterschieden eine fides directa von einer fides reflexa. Sie bezogen das auf den sogenannten Kinderglauben bei der Taufe. Ich frage mich, ob hier nicht ein sehr weitreichendes Problem angeschnitten ist.”

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LeerMir ist nicht bekannt, ob er später noch einmal zu diesem Problem Stellung genommen hat. Aber daß es ihn innerlich beschäftigt hat, ist auch ohne das Wort vom unbewußten Christentum offenkundig. Es ist wohl nicht zu verkennen, daß besonders der Aufenthalt im Gefängnis, der Umgang mit Menschen aus der rein weltlichen Sphäre, einen nachhaltigen Einfluß auf die Entwicklung seiner Gedanken gehabt hat. Er ist offenbar noch „weltlicher”, noch weltoffener geworden, als er schon war. Gerade als Christ fühlt er sich den Menschen dieser Welt, den Weltmenschen, mit denen er nun in engste Berührung kam, verbunden und verpflichtet. Dafür zeugt besonders das nie zum Abschluß gekommene Ringen um die weltliche, nicht-religiöse Interpretation der biblischen und theologischen Begriffe, das Ringen um eine weltliche Sprache für die Menschen, die „wirklich radikal religionslos werden”.

LeerNach seiner Meinung gehen wir einer „völlig religionslosen Zeit entgegen”. Ihm selbst wird „das Religiöse” immer problematischer. Er schreibt seinem Freunde, daß er sicher nicht, falls er noch einmal frei würde, als homo religiosus aus dem Gefängnis herauskommen würde. Er sieht, daß die „mündig gewordene” Welt weithin, sogar in den sogenannten letzten Fragen, ohne den „Vormund” Gott fertig werden kann, und wagt dann zu sagen: „Die mündige Welt ist gottloser und darum vielleicht gerade Gott näher als die unmündige Welt.” In demselben Brief vom 21. Juli 1944, in dem es heißt: „Man kehrt zu den schönen Paul-Gerhard-Liedern zurück und ist froh über diesen schönen Besitz”, fährt er fort: „Ich habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt. Nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus - in Unterschied wohl zu Johannes dem Täufer - Mensch war. Nicht die glatte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder Lasziven, sondern die tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist, meine ich. Ich glaube, daß Luther in dieser Diesseitigkeit gelebt hat. Später erfuhr ich, und ich erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen, dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube.”

LeerVielleicht könnte hier eingewandt werden, daß Bonhoeffer selbst kein sehr passendes Beispiel für „unbewußtes Christentum” ist, da er ja mit vollem Einsatz danach strebte, ein rechter Christ zu sein und sein Christentum zu bewähren bis in den Tod. Und doch muß er in diesem Zusammenhang genannt werden, weil für ihn als Merkmal des Christseins das existentielle Verhalten entscheidender ist als religiöse Bewußtseinsinhalte, Gedanken und Bekenntnisse. Daß es zur Entscheidung über die Frage, was oder wer ein Christ ist, auf das Sein ankommt, hat mit besonderer Dringlichkeit Paul Tillich auf die mannigfachste Weise ausgesprochen, schon in mehr populärer Form in seinen religiösen Reden: „Das neue Sein” und zuletzt in den bisher erschienenen zwei Bänden seiner „Systematischen Theologie”. Christus ist nach seiner Darstellung die Erscheinung essentiellen Seins in der Sphäre der Existenz.

LeerIm Bereich der Christenheit gibt es wohl kaum eine andere Gemeinschaft, die sich mit gleicher Entschlossenheit und Hingabe die Verwirklichung des Liebesgebotes zur Aufgabe gemacht hat wie die religiöse Gesellschaft der Freunde, die Quäker. Mit ihrer, aus verschiedenen Ländern stammenden Hilfe ist in der Nähe von Bückeburg ein Freundschaftsheim entstanden, das auch in ihrem Geiste geleitet wird. In dem Vortragssaal dieses Hauses hängen die Bilder von drei Männern, die mir selbst schon lange als besonders verehrungswürdige Repräsentanten des Christentums - und da zwei von ihnen keine Christen sind, muß man sagen, des unbewußten Christentums - gegolten haben: in der Mitte das Bild von Albert Schweitzer, dessen Christentum freilich auch in manchen christlichen Kreisen in Frage gestellt wird oder jedenfalls früher in Frage gestellt wurde. Rechts und links neben ihm die Bilder von Fridtjof Nansen und Mahatma Gandhi.

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LeerFridtjof Nansen gehörte meines Wissens keiner christlichen Kirche an, aber er hat im Geist des Christentums gehandelt, indem er in einer Zeit, da Millionen und Abermillionen heimatlos waren, für diese ein Wegbereiter in eine neue Heimat geworden ist. Er hatte ein warmes Herz für die Not der Menschen, hat aber bei den „christlichen” Völkern und ihren Politikern oft wenig Verständnis gefunden. In einer von ihm herausgegebenen Heftreihe berichtet der Leiter des genannten Freundschaftsheimes, Wilhelm Mensching über Fritjof Nansens vergebliches Bemühen beim Völkerbund, in dem die „christlichen” Völker den stärksten Einfluß hatten, Abhilfe für die Hungersnot in Rußland zu erwirken. Es lohnt sich, die Worte Nansens der Vergessenheit zu entreißen:

Leer„In Ostrußland hungern Millionen von Menschen und machen die undenkbarsten Leiden durch. In einem Staat, der an Rußland grenzt, gibt es einen so großen Überfluß, daß diese Millionen Menschen von ihm leben könnten. In Amerika war ein derartiger Reichtum an Lebensmitteln, daß die Farmer die Früchte vom vergangenen Jahr noch nicht einmal unterbringen konnten. Inzwischen liegen die Schiffe und Züge, die wir zum Transport dieser Lebensmittel nötig haben, leer im Hafen oder auf den Geleisen. Nur Geld, eine im Vergleich zu den Staatsfinanzen kleine Summe Geld, ist nötig, um die Nahrungsmittel dorthin zu bringen, wo sie gebraucht werden. Ist die Welt nicht irrsinnig? Man denke sich, jemand von einem anderen Planeten sähe auf den unseren herab und sähe, wie das Volk an der Wolga am Verhungern ist, wie es sich zu Hunderten und Tausenden seinen Weg über die gefrorenen Straßen Rußlands sucht, schlecht gekleidet und einige barfuß, und sähe ganz in der Nähe die vielen Nahrungsmittel, mit denen die Bevölkerung nichts anzufangen weiß! Was würde er von uns auf der Erde denken? Würde er diese Erde nicht, wie jemand es ausdrückte, für ein Irrenhaus oder für eine Hölle halten?

LeerDie Welt ist erfüllt von Haß, Leid, Mißtrauen zwischen den einzelnen, zwischen den Klassen, zwischen den Staaten. Das ist die unglücklichste Folge des Krieges. Und ich sehe keine andere Rettung für die Menschheit als die Wiedergeburt der Nächstenliebe. Das hört sich kindlich an, beinahe sentimental vielleicht. Mir scheint, ich sehe die Politiker ihre Achseln zucken: Was wir brauchen, ist Realpolitik! Ich bin auch Realpolitiker - mit meinem ganzen Sinn und Wesen. Ich interessiere mich lebendig und ausschließlich für die Wirklichkeit. Aber keine Realpolitik in einer zivilisierten Gesellschaft ist denkbar ohne den Grund der Nächstenliebe, der Gegenseitigkeit, der Hilfsbereitschaft, des Vertrauens. Das ist der Fels, auf den alles menschliche Zusammenleben bauen muß, das materielle und das geistige.”

LeerEs ist vielleicht sehr kühn, wenn zuletzt das Handeln eines Mannes als Beispiel für unbewußtes Christentum angeführt wird, der in der Regel nur als Vater des Atheismus und Gegner der Christenheit bekannt ist. Ich meine Karl Marx, dessen Lehre wie eine neue religiöse Botschaft in der ganzen Welt Widerhall findet. Walter Dirks hat schon 1947 ein Bild von ihm gezeichnet, das vielleicht nicht ganz der Wirklichkeit entspricht - ich lasse das dahingestellt -, das aber auf jeden Fall sehr zum Nachdenken anregt. In seinem Aufsatz: „Marxismus in christlicher Sicht” heißt es: „Daß einer, der die Fülle und Reife des bürgerlichen Denkens beherrschte, von der neuen frühen Proletarität aus zu denken unternahm: darin lag die Fruchtbarkeit jener Stunde. Es hat sich nicht um ein Denkexperiment gehandelt, sondern um ein Lebenswagnis. Gleich zu Beginn unserer Erörterung stoßen wir auf eine geheimnisvolle Nähe eines maßgeblichen Marxisten zum Christentum. Denn Karl Marx gewann seinen Lebensinhalt durch einen Akt, der eine tiefe Verwandtschaft mit einem wesentlich christlichen Akt hat: durch einen Akt der Gleichsetzung mit dem anderen, mit dem Nächsten, durch einen Akt der Entäußerung, durch ein Opfer. Das war ein beispielhaftes Verhalten, leider hat es ihm kein Christ vorgemacht.”

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LeerUnd wir fügen hinzu: auch kein Christ damals nachgemacht. Und eben dies hat der Glaubwürdigkeit des Christentums schweren Schaden gebracht. Dazu noch einmal Walter Dirks: „Als das Proletariat vor hundert Jahren seine Augen aufschlug und zum Bewußtsein seiner selbst erwachte, war es nicht so, daß Christus hochmütig verworfen wurde, es war vielmehr so, daß Christus sozusagen gar nicht da war. Christus war unsichtbar und unhörbar. Der Glaube an ihn verbreitet sich ja weder durch Magie noch durch das formulierte und verkündete Wort als solches, sonst wäre China längst christlich, sondern im Annehmen des glaubwürdigen Zeugnisses. Als die alte bäuerliche und kleinstädtische christliche Volksordnung für den Proletarier nicht mehr wirksam war, da hätte ihm Christus neu sichtbar werden sollen, durch die Vermittlung von Christen, die sich in der Kraft des christlichen Opfers in sein Dasein hineingestellt hätten. Das ist nicht geschehen. Kein Christ von Rang hat damals den bürgerlich-bäuerlich-feudalen Ring gesprengt. Also blieb Christus unsichtbar. Wäre ein solcher Christ erschienen, so wäre zwar keineswegs sofort eine Lösung entstanden, aber der Proletarier wäre nicht allein gewesen, Christus hätte in jenem Christen bei ihm gestanden, und so hätte sich die proletarische Existenz in den absoluten Horizont der christlichen Weltantwort deuten lassen. So aber war sie auf sich selber angewiesen, fiel den Häresien der linken aufgeklärten und in Wahrheit materialistischen Bürger anheim, oder aber - und darin liegt das echtere und tiefere Verhängnis - es setzte aus dem unstillbaren Bedürfnis nach absoluter Sicherung sich selbst absolut, wie das in und durch Karl Marx geschehen ist.”

LeerWenn wir nach einer biblischen Rechtfertigung für unser Reden vom unbewußten Christentum fragen, so bietet sich dafür zunächst die Erzählung Jesu vom barmherzigen Samariter an. Sie ist wohl eines der bekanntesten und beliebtesten Stücke aus der ganzen Heiligen Schrift und findet auch dort noch Anklang und Widerhall, wo man sich sonst von der kirchlichen Verkündigung fern hält. Ich könnte mir denken, daß diese Geschichte selbst auf jenen Mann ihren Eindruck nicht verfehlt, von dessen Anklagen gegen die Kirche und deren Verkündigung wir zu Anfang berichtet haben. Jedenfalls ist sie auch in sozialistischen Kreisen beliebt, sonst hätte man sicher die in der Arbeiter-Wohlfahrt stehenden Menschen nicht „Rote Samariter” genannt.

LeerDie Deutung der Geschichte ist heute umstritten, ich glaube aber doch, daß das einfachste Verständnis eben das ist, daß Jesus hier einen Samariter um seiner Liebestat willen als Beispiel dafür hinstellt, was es bedeutet, das Gebot der Nächstenliebe zu erfüllen. Für seinen Partner, der ihn befragte, ist das ein schwerer Schlag und eine bittere Pille. Wenn einem Schriftgelehrten ein Samariter als Vorbild hingestellt wurde, dann bedeutete das damals ungefähr so viel, als wenn heute etwa einem Professor der Theologie oder einem Bischof gesagt würde, er könne bei einem Kommunisten - freilich einem von besonderer Qualität, aber doch eben einem Kommunisten - in die Schule gehen, um zu erfahren, was ein Gott wohlgefälliges Verhalten ist. Für Jesus gibt es also nach dieser Erzählung das, was wir heute unbewußtes Christentum nennen.

LeerMan könnte zum Beweis für die Richtigkeit unserer Darstellung auch auf die Erzählung von den beiden Söhnen verweisen, die Matth. 21, 28 ff. berichtet wird. Dort wird in einer Aussprache mit den Hohenpriestern und Ältesten das schroffe Wort gesagt: „Die Zöllner und Huren mögen wohl eher ins Himmelreich kommen, denn ihr.”

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LeerDie wichtigste Stelle zur Begründung unserer These vom unbewußten Christentum ist nun aber sicher der Bericht über das Weltgericht bei Matth. 25, 31 ff. Es gibt also nach dem Neuen Testament sozusagen ein Christentum ohne Christus, das Gnade vor den Augen des höchsten Richters findet. Man wird allerdings mit dieser These sehr vorsichtig sein müssen, denn echte Liebe, echte Erfüllung des höchsten und einzigen Gebotes ist immer nur eine Wirkung des Geistes, sagen wir der Gnade des neuen Seins, von dem oben gesprochen wurde. Da der Herr der Geist ist (2. Kor. 2, 17), gibt es also in Wirklichkeit ohne Christus keine Liebe. Es besteht demnach überall da, wo Liebe ist, eine wesenhafte, ontische Verbindung mit dem Herrn, der der Geist ist, aber sie braucht nicht ins Bewußtsein zu dringen. Da der Geist (Pneuma) bläset, wo er will (Joh. 3, 8) und seine Wirkungen hervorbringen kann, ohne daß es dem Menschen ins Bewußtsein tritt, darf man jedenfalls von einem unbewußten Christentum sprechen.

Leer Wenn, wie oben erwähnt, Bonhoeffer schreibt, daß die Frage, wie es eine natürliche Frömmigkeit geben kann, zugleich die Frage nach dem unbewußten Christentum sei, so trifft das nur mit Vorbehalt zu. Alles, was von uns mit unbewußtem Christentum bezeichnet wurde, ist eben nicht einfach Menschenwerk, also natürlich, sondern eine Wirkung des göttlichen Geistes. Wenn man trinitarisch denkt, könnte man auch sagen, eine Wirkung Christi. Adolf Schlatter schreibt in seinem Werk „Der Glaube im Neuen Testament”:

Leer„Durch den ursprünglichen Verband Gottes mit dem Menschen reicht auch Jesu Beziehung zu den Seinigen über seine irdische Arbeit und ihre eigene persönliche Bekanntschaft mit ihm hinaus, da das ganze Werk Gottes durch den Sohn geschieht. Darum sind die Schafe schon des Hirten, ehe er in die Hürde tritt; weil sie sein sind, darum kennen sie seine Stimme und folgen ihm (Joh. 10, 3 ff.). Weder Matthäus noch Johannes haben die Gemeinde der Endzeit einzig auf die beschränkt, welche durch Jesu irdische Arbeit oder durch den Dienst der Jünger gewonnen werden. Bei Matthäus entsteht die über die Glaubenden hinaus sich erstreckende Gemeinde durch die Ausdehnung der Verheißung auf alle, welche lieben, zu der die eschatologische Offenbarung Christi die Erfüllung bringt; bei Johannes entsteht sie durch die unsichtbare übergeschichtliche Gemeinschaft des Christus mit allen, welche aus der Wahrheit sind” (Vgl. Matth. 25, 31 ff. und Joh. 3, 19).

LeerAbschließend sei die Frage erlaubt, ob diese Darstellung der der Kirche aufgetragenen Verkündigung wohl eine Antwort sein könnte auf die Fragen jenes Arbeiters aus der DDR, die am Anfang mitgeteilt wurden. Manche werden seine Anklagen als Übertreibungen abtun mögen. Aber, so kann man fragen: Ist er nicht auch so etwas wie ein unbewußter Christ, der eben gerade das hochschätzt und an einem Christen sucht, was die Menschen hatten, die vor dem Richterstuhl des Weltenrichters bestanden und in das Reich der Freude eingelassen wurden?

LeerWas sucht er denn? „Wir brauchen den Arzt, den Helfer, der die Gesundheit des Körpers, Geistes und Herzens gewährleistet, wir brauchen herzliches Verständnis, Freude.” Dazu könnte nach seiner Meinung wohl auch die Predigt helfen, wenn sie eine „Predigt der Menschlichkeit, praktisch für uns” wäre. Christ sein heißt Mensch sein, so hörten wir von Bonhoeffer. Je menschlicher geredet wird, je mehr vorgelebt wird, wie es jener Arbeiter fordert, um so eher ist zu hoffen, daß die Entfremdeten von der Art unseres Kritikers auch wieder den Zugang zu unseren Gottesdiensten finden, die wir nicht missen wollen und können.

Quatember 1959, S, 129-136

Entgegnungen siehe Jürgen Boeckh - Christentum ohne Christus mit weiteren Stimmen

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-12-02
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