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Über die Natur III
Schöpfung als Bild und Bühne
von Wilhelm Stählin

LeerVor mehr als 50 Jahren brachte ich mir aus England das Buch von Henry Drummond mit „Natural Law in the Spiritual World” (Naturgesetz in der geistigen Welt) und habe aus diesem Buch die ersten entscheidenden Anstöße für die spätere Beschäftigung mit dem biblischen Gleichnisdenken empfangen. Das Buch war zu seiner Zeit ebenso erstaunlich wie sein Verfasser; zum erstenmal erschienen 1883, erlebte es in wenigen Jahren viele Auflagen, und es machte seinen Verfasser (damals kaum 30 Jahre alt) in der ganzen Welt berühmt. Drummond selbst war Professor für Naturwissenschaften zuerst in einem kirchlichen Seminar der schottischen presbyterianischen Freikirche, später in gleicher Eigenschaft in der Theologischen Fakultät der Universität Glasgow (so etwas gab es damals) und war Verfasser einer ganzen Anzahl von populären theologischen Traktaten („Das Beste in der Welt”, „Das Programm des Christentums” u. a.).

LeerHenry Drummond war wohl einer der ersten, die sich daran machten (wie er selbst es ausgedrückt hat), die Mauer abzutragen, die die Welt der Naturwissenschaft von der Welt der Religion trennte; es war nicht seine Absicht, apologetisch den Lebensraum des Glaubens gegenüber dem Absolutheitsanspruch naturwissenschaftlichen Denkens sicherzustellen, sondern er ging umgekehrt von den „Gesetzen” aus, die der Naturforscher in der Struktur der Welt zu erkennen glaubt, und spürte den analogen Gesetzen nach, in denen sich die geistige Welt als nicht minder geordnet erweist. Wenn man wenigstens einige der Kapitelüberschriften jenes Buches bedenkt: Biogenesis, Degeneration, Wachstum, Parasiten, Umwelt, so gewinnt man eine ungefähre Vorstellung von dem Inhalt dieses geistreichen Buches. Das überaus lebhafte Echo, welches dieses Buch damals fand, und das durch mehrere Jahrzehnte andauerte, ist nur daraus zu begreifen, daß dieses Wort dieses Naturforschers dem starken Verlangen nach einer Zusammenschau der äußeren Natur und des geistigen (und geistlichen) Lebens begegnete, bei der doch niemals die Verschiedenheit der beiden Bereiche der Wirklichkeit und der Methoden, sie zu erkennen, verwischt werden sollte.

LeerDie theologische Entwicklung des letzten halben Jahrhunderts ist diesen Bemühungen nicht nur förderlich gewesen. Aber sie werden immer von neuem hervorgerufen durch die Beschäftigung mit der Bibel selbst, die jene schroffe Trennung einer äußeren „Natur” von allem geistigen und persönlichen Leben nicht kennt, sondern immer den Menschen inmitten aller anderen Kreaturen, im Zusammenhang alles geschöpflichen Seins, und zugleich immer den ganzen Kosmos in seiner Beziehung auf den Menschen und seine Geschichte im Auge hat.

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Leer1. Nur von diesem Blickpunkt aus ist die biblische Gleichnisrede, oder richtiger gesagt, das biblische Gleichnisdenken, zu verstehen. Jene Redestücke in den Evangelien, die wir herkömmlich als „Gleichnisse” bezeichnen, sind einerseits ein zu enger Raum, um jenes Gleichnisdenken als Ganzes daraus abzuleiten, andererseits umfassen sie manches, was es überhaupt nicht mit der Beziehung der Schöpfungswelt zu den Geheimnissen des Reiches Gottes (und also auch zu dem menschlich-personalen Leben überhaupt) zu tun hat. Beispielerzählungen wie die Geschichte vom Pharisäer und dem Zöllner, vom reichen Mann und dem armen Lazarus, vom barmherzigen Samariter und einige andere mehr werden überhaupt zu Unrecht als Gleichnisse bezeichnet, da jene geheimnisvolle Beziehung zweier verschiedener Wirklichkeitsbereiche in ihnen keine Rolle spielt. Hier wird vielmehr der Vorhang hinweggezogen, der uns normalerweise die volle Wirklichkeit des menschlichen Lebens verbirgt, und es wird ein Stück dieser menschlichen Wirklichkeit in seiner ganzen perspektivischen Tiefe enthüllt.

LeerAuf der anderen Seite genügt es gewiß nicht zum Verständnis der Gleichnisse, wenn man auf die Fähigkeit des Morgenländers zu phantasievoller Darstellung oder auf den Stil jüdischer Lehrgespräche (übrigens auch der hellenistischen Popularphilosophie) verweist. Vielmehr ist zum mindesten in etlichen der Gleichnisse Jesu und in der ganzen Bilderrede der Heiligen Schrift etwas enthalten, was über einen solchen Stil religiöser Lehrgespräche und über den Charakter anschaulicher Beispielerzählungen weit hinausgeht.

LeerDas erste und auffälligste Merkmal dieses Gleichnisdenkens ist es, daß hier die Geheimnisse der unsichtbaren Welt und der Beziehung des Menschen zu Gott angeschaut werden in dem Bilde irdischer Erscheinungen und kreatürlicher Vorgänge. Wir werden aufgefordert, uns nicht über dieses und jenes fromme Gedanken zu machen, sondern diese kreatürliche Wirklichkeit selbst anzuschauen, freilich so anzuschauen, daß der Blick durch die äußere Wirklichkeit hindurch einen darin verborgenen tieferen Sinn, eine den Menschen in seiner Existenz treffende Bedeutsamkeit erkennt. Wir sollen die Lilien auf dem Feld ansehen und die Vögel unter dem Himmel beobachten, um an ihnen etwas von der sorglosen Freiheit der Kinder Gottes abzulesen; wir sollen an dem Schicksal des Samens, den der Bauer auf seinen Acker streut, erkennen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, wenn die göttliche Anrede in den Herzen der Menschen die von dem göttlichen Sämann erhoffte Frucht hervorbringen soll; wir sollen an der Bedeutung des äußeren Lichtes für unsere leibliche Orientierung im Raum und für die Sicherheit unseres Ganges uns vergegenwärtigen, wie sehr wir eines inneren Lichtes bedürfen, um auf unserem Wege nicht zu Fall zu kommen. Immer macht solche Gleichnisrede eine geheimnisvolle Verbindung sichtbar, die zwischen einer äußeren, den Sinnen zugänglichen Wirklichkeit und den verborgenen und unsichtbaren Gesetzen des personalen Lebens in seiner Gottesbeziehung besteht.

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LeerBewußt sagen wir: Im Gleichnis werde eine solche Verbindung sichtbar. Denn die von manchen Theologen vorgetragene Meinung, daß eine solche Verbindung erst durch die Gleichnisrede mit einer gewissen Willkür hergestellt werde und daß diese Verbindung also eigentlich nur in der Gleichnisrede bestehe, wird diesem biblischen Denken in keiner Weise gerecht. Es ist keinerlei Willkür in diesem Gleichnisdenken, so daß also, wenn es dem Herrn so gefallen hätte, auch ganz andere Dinge in eine solche gleichnishafte Betrachtung hätten einbezogen werden können. Darum sind es auch nur bestimmte Kreaturen, die in solcher Weise zum Sinn-Bild eines in ihnen schlummernden Sinnes werden können, Kreaturen, die ihrer schöpfungsmäßigen Anlage nach dazu vorbestimmt, dazu prädisponiert sind, Bild und Gleichnis der göttlichen Geheimnisse zu werden.

LeerGewiß leben Wespen ebenso sorglos wie die Vögel, und gewiß sind giftige Sumpfpflanzen von Gott ebenso verschwenderisch oder noch reicher geschmückt als die Lilien; dennoch könnten wir uns nicht vorstellen, daß der Herr uns aufgefordert hätte, statt der Vögel die Wespen oder anderes Ungeziefer und statt der Lilien jene Prachtexemplare exotischer Üppigkeit anzuschauen; und es ist ebensowenig Zufall oder Willkür, daß der Herr das Salz und nicht etwa den Pfeffer zum Gleichnisbild des Dienstes gemacht hat, den seine Jünger in der Welt und an der Welt ausüben sollten. Diese Kreaturen, die zum Gleichnis werden, haben in ihrem seinsmäßigen Bestand, in ihrem So-Sein, etwas zu tun mit jener hintergründigen Wirklichkeit, die an ihnen angeschaut werden soll.

LeerFür diesen eigentümlichen Sachverhalt gebraucht das Johannes-Evangelium das Wort alethinos, was nicht die subjektive Wahrhaftigkeit, sondern die objektive Wesenserfüllung bezeichnet. Christus ist das wahre Licht, das wahre Brot, der wahre Weinstock; das heißt: was das Licht in der physischen Welt, was der Weinstock als Pflanzenwesen, was das Brot für die leibliche Erhaltung des menschlichen Lebens ist, das zielt auf einen höheren Zusammenhang, und die Intention dieser Kreaturen, das, was mit ihnen „gemeint” ist, hat in Christus seine Erfüllung gefunden. In diesem Sinn hatte Meister Eckehart in einem kühnen Bogen alles Seiende zusammengeschlossen und als Wegbereitung auf Christus bedeutet: alles Kornes Natur meinet Weizen, alle Geburt meinet den Menschen, alle Menschengeburt meinet Christus.

LeerSo erweist sich auch die Gleichnisrede als ein notwendiger Ausdruck jenes zielgerichteten Denkens, ohne das die ganze Schöpfungsgeschichte und die ganze Fülle der Welt als Kreatur nicht zu begreifen ist.

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Leer2. Von dieser Gleichnishaftigkeit strahlt eine eigentümliche Würde zurück auf die Kreaturen, die in solcher Weise zum Bild des göttlichen Reiches werden können. Gott hat das Licht, nicht die Finsternis „gut” genannt, weil das Licht das Kleid seines eigenen Wesens ist, und die tiefe Liebe zum Licht, die allem Lebendigem innewohnt, ist eben darin begründet, daß es das Gleichnis Gottes, und damit zugleich alles Guten, Hellen, der Wahrheit ebenso wie der Liebe ist. Wenn in früheren Zeiten - in manchen Dörfern vielleicht noch heute - der Bauer den Brotlaib, ehe er ihn anschneidet, mit dem Kreuzeszeichen segnete, dann ist es mit Händen zu greifen, daß das Brot eben dadurch, daß Christus es zum Zeichen und Unterpfand seines eigenen Leibes und Lebens gemacht hat, eine besondere Würde empfangen hat, die keinem anderen unter anderen Nahrungsmitteln zukommt. Wenn kürzlich eine unserer Evangelischen Akademien von einem Verband von Weinbauern und Weinhändlern gebeten worden ist, einmal eine Tagung über den Wein zu halten, weil es doch offenbar mit dem Wein um seiner Bedeutung im Heiligen Mahl willen eine besondere Bewandtnis habe, so ist das in gleicher Weise ein Zeichen für jene eigentümliche „Rückstrahlung”, die von der gemeinten Sache her einen besonderen Glanz auf die gleichnishaften Kreaturen fallen läßt. Wir alle haben im Ohr den Sonnengesang des heiligen Franz, in dem alle seine Liebe zu den Kreaturen als seinen Brüdern und Schwestern darin ihren tiefsten Grund hat: Ein Gleichnis Deiner sind sie, o Höchster!

LeerNoch deutlicher wird das, wenn wir neben den außermenschlichen Kreaturen auch die menschlichen Beziehungen ins Auge fassen. Die Autorität des Vaters ist nicht nur in seiner Würde als Mann oder in der leiblichen Fürsorge für seine Kinder begründet, sondern darin, daß er ein Amt zu verwalten hat, in dem sich Gottes Vaterschaft im irdischen Bereich abbilden will. In diesem Sinn schreibt der Apostel (Eph. 3, 15), daß von Gottes Vater-Sein her jedes Vaterverhältnis „im Himmel und auf Erden” seinen Namen (und damit sein Wesen) empfangen hat.

LeerDas gleiche gilt vom König oder dem Richter. Die Königskrone ist ja nichts anderes als die in Gold und Edelstein gefaßte Gestalt des „Nimbus” als der sichtbaren Erscheinung einer göttlichen Würde. Und es ist etwas in der Tiefe Verschiedenes, ob der Richter nur im Namen des Volkes und seiner Rechtssatzungen Recht spricht, oder ob er Anwalt einer von Gott selbst gestifteten und darum verbindlichen Ordnung ist.

LeerDas stärkste und zugleich umfassendste Beispiel für das, was wir die Rückstrahlung genannt haben, ist Leib und Leben des Menschen. Aus der Leibhaftigkeit der Erscheinung und des Opfers Christi folgert der Apostel (1. Kor. 6) die Würde des menschlichen Leibes und die besondere Verantwortung für alles leibliche Leben, bis hin zu seiner klassischen Formulierung: „Der Leib (gehört) dem Herrn, und der Herr dem Leibe.” Weil das Ziel der Vollendung nicht als Befreiung aus dem Gefängnis des Leibes, sondern als eine neue und verklärte Leiblichkeit erscheint, darum liegt auf unserem Leben trotz aller seiner Schmerzen und aller seiner Verkehrtheiten der Glanz einer überschwänglichen Hoffnung und Würde.

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Leer3. Das entscheidende Merkmal dieser gleichnishaften Würde aber besteht darin, daß das Gleichnis eben nicht „nur Gleichnis” ist, sondern daß das, was zum Gleichnis werden kann, auch in der wirklichen Welt, in der wirklichen Geschichte beteiligt ist. Hier wurzelt der tiefe Unterschied zwischen Gleichnis und Allegorie. Das Merkmal der Allegorie besteht darin, daß hier ein äußeres Geschehen nur als durchsichtige Hülle für einen geistigen Sinn angesehen wird, daß aber dieses äußere Bild als solches ganz belanglos, ohne eigene Bedeutung ist, eben „nur ein Gleichnis”, dem keine eigene Seinsmächtigkeit innewohnt. Das aber würde jener radikalen Gegensätzlichkeit des Äußeren und des Inwendigen entsprechen, der vollkommenen Trennung der Kreaturen von allem geistigen Sinngehalt; aller Spiritualismus schwelgt entweder in Abstraktionen (die von der Wirklichkeit „abgezogen” sind), oder in Allegorien, in denen das äußere Geschehen seiner Seinsfülle entkleidet ist. An einer Eigentümlichkeit der biblischen Geschichte (nicht nur einer einzelnen Geschichte, sondern des ganzen Ereigniszusammenhangs) wird ein für allemal deutlich, wie weit das biblische Gleichnisdenken von solcher spiritualistischen Allegorie entfernt ist.

LeerFast von allen Kreaturen und menschlichen Gestalten, die in der Gleichnisrede zum Bild der Offenbarung werden, gilt, daß sie auch in der wirklichen Geschichte Gottes mit den Menschen eine nicht zu übersehende Rolle spielen. Berge und Flüsse, Quellen und Meere sind nicht nur Bilder für geistliche Vorgänge, sondern da steigen Menschen wirklich auf Berge, und auf diesen Bergen ereignen sich Dinge, für die nur diese furchterregende Einsamkeit des Berges den angemessenen Rahmen bildet; hier werden wirklich Flüsse überschritten und am Brunnenrand sitzen leibhafte Menschen; hier wird wirklich gegessen und getrunken (von der verbotenen Frucht im Paradies bis zum Essen des Passahlamms und den Mahlfeiern der urchristlichen Gemeinde); Zeugung, Empfängnis und Geburt sind nicht nur Sinnbilder für das, was sich im geistlichen Leben ereignet (Verkündigung und Weitergabe der apostolischen Botschaft erscheint immer wieder als ein Vorgang geistlicher Zeugung und Übertragung lebendiger Kräfte), sondern die heilige Geschichte selbst ereignet sich in einer Kette von Zeugungen und Geburten, in einer Generationen-Folge, die ihre nicht wegzudenkende Bedeutung für den Plan Gottes mit der Menschheit hat.

LeerMan Ist versucht zu sagen: auch die Landschaft spielt mit in diesen Geschichten, Es glbt Schilderungen des Gebirges auf der Halbinsel Sinai, Schilderungen des Toten Meeres oder des Sees Genezareth, die unmittelbar spüren lassen, wie tief diese Landschaften zusammenhängen mit dem, was sich in ihnen ereignet hat. Die geschaffene Welt ist nicht nur Bild einer unsichtbaren Wirklichkeit, sondern sie ist zugleich Bühne für die wirkliche Geschichte, in der Gott mit Menschen handelt. Darum sind zum Beispiel die Ortsangaben im Johannes-Evangelium so geheimnisvoll hintergründig, weil sie die Bühne beleuchten, auf der sich die heilige Geschichte „abspielt”.

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LeerDas gilt nicht nur vom menschlichen Bereich, auch nicht nur von den Kreaturen, von denen diese Erde bevölkert ist, sondern es gilt von dem ganzen geschaffenen Kosmos. Das Erscheinen eines Sterns bei der Geburt Jesu, die Sonnenfinsternis in der Stunde seines Sterbens, auch die auf Josuas Gebet stehenbleibende Sonne sind im Sinn der biblischen Erzähler zu verstehen als Anzeichen dafür, daß der ganze Kosmos mitspielt in der Geschichte Gottes mit den Menschen. Und auch das Ende dieser irdischen Geschichte vermag die Bibel nicht zu denken ohne kosmische Katastrophen; und zwar nicht so, daß jenes Ende die Folge solcher kosmischen Zusammenbrüche wäre, sondern umgekehrt: Diese Erschütterungen, in denen die kosmischen Ordnungen ins Wanken geraten, sind Bühne oder Kulisse für die Parusie des Herrn, in der Gott die irdische Geschichte zu ihrem Ziel und Ende führt.

LeerHier erhebt sich nun freilich die Frage, von der manche von uns nicht ohne Grund beunruhigt sind, ob denn jene in der Schöpfungsgeschichte und dem Schöpfungsglauben vorausgesetzte Beziehung der ganzen Schöpfung auf den Menschen und Gottes Geschichte mit den Menschen nicht notwendigerweise mit dem geozentrischen Weltbild der Alten zusammenhängt, und ob also diese Beziehung nicht mit der kopernikanischen Wendung hinfällig geworden ist. Diese Meinung scheint mir indes der Restbestand eines materialistischen Weltverständnisses zu sein. Die „Bühne” ist größer und hat sehr viel mehr Kulissen, als die alten Zuschauer gemeint haben; aber das Spiel, um deswillen die Bühne gebaut ist, bleibt das gleiche. Es sind zwei verschiedene Betrachtungsweisen, die einander nur scheinbar widersprechen. Alle Erkenntnisse des naturwissenschaftlichen Weltbilds und der Raumforschung bleiben in ihrem Rahmen unangetastet; aber es gibt daneben - aber eben nicht als Nebensache - das teleologische Weltverständnis, das nach Sinn und Ziel fragt.

LeerVielleicht kann der Vergleich mit einem zwiefachen Verständnis der Zeit deutlich machen, was gemeint ist. Die griechische Sprache kennt die beiden verschiedenen Ausdrücke für die Zeit: chronos und kairos-, chronos ist der Zeitenablauf, meßbar nach Tagen, Jahren und Jahrhunderten; kairos aber ist die erfüllte Zeit, der Augenblick, in dem sich das Zeitgeschehen gleichsam zusammenballt, um sich in seinem Sinn zu erfüllen. Wer von uns hätte nicht einen gewissen Eindruck davon empfangen, daß vielleicht ein langes Leben nur in einigen wenigen Stunden wahrhaft erfüllt war, und daß darum auch ein kurzes, nach unserem Empfinden allzu früh abgebrochenes Leben seinen entscheidenen Sinngehalt nicht entbehrt hat! So wie chronos und kairos mögen sich das physikalische Wissen um die Struktur des Weltalls und das theologische Wissen um die auf dieser Erde sich abspielende Geschichte Gottes mit den Menschen verhalten.

LeerDarf man es einmal kühn formulieren: Es ist theologisch einwandfrei richtig, die Erde für die Mitte des Weltalls zu halten. Es ist nicht menschliche Hybris, nicht die Überheblichkeit des kleinen Menschen, sondern es heißt nur die Geschichte Gottes mit den Menschen und die Erscheinung Jesu Christi wirklich ernst nehmen, wenn wir kühnlich glauben, daß alle Sonnensysteme und alle Milchstraßen um dieser kleinen Erde willen geschaffen sind, als die grandiose Bühne für das Spiel, in dem Gott auf dieser Erde mit uns Menschen handelt. (C. S. Lewis hat in seinen drei Romanen, auf die ich im Weihnachtsheft dieses Jahrganges hingewiesen habe, diesem Glauben einen phantastisch-kühnen Ausdruck gegeben.)

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Leer 4. Doch trägt diese Gleichnisrede noch einen Wesenszug in sich, der zumeist (oder doch vielfach) übersehen wird und ohne den doch das ganze Bild dieses Gleichnisdenkens verfehlt und verzeichnet würde. Die beliebte Redeweise, daß Jesus mit seinen Gleichnissen „ins volle Menschenleben hineingegriffen” und die normalen und alltäglichen Vorgänge des menschlichen Lebens durchsichtig gemacht habe für die Geheimnisse des himmlischen Reiches, ist ein grober Irrtum. Vielmehr erzählt Jesus in seinen Gleichnissen mit Vorliebe Geschichten so, wie sie sich in irdischen Verhältnissen niemals zutragen könnten. Kein Arbeitgeber dürfte es mit dem Lohn so halten, wie es im Gleichnis mit den „Arbeitern im Weinberg” geschieht, und ein Kaufmann, der seinen ganzen Besitz daran gäbe, um die eine so kostbare Perle zu erwerben, würde unvernünftig und leichtfertig handeln. Aber gerade in dem Ungereimten, Unwahrscheinlichen, ja Unmöglichen macht die Gleichnisrede des Evangeliums deutlich, wie abgründig verschieden die „Gesetze” des himmlischen Reiches von allen Gesetzen und Ordnungen sowohl der äußeren Natur wie des menschlichen Gemeinschaftslebens sind. Die „Sache” selbst steht nicht nur in Analogie, sondern zugleich in einem unaufhebbaren Gegensatz zu ihrem kreatürlichen „Bild”. Ja die Erscheinung des „Eigentlichen” und Vollkommenen macht „diesem allen”, was jetzt als Bild erkannt und durchschaut werden soll, ein Ende.

LeerDas im Evangelium so oft gebrauchte Bild vom „Lohn” ist dafür sehr bezeichnend: Gewiß, es empfängt ein jeder das, „was recht ist”, aber der „Lohn” ist kein Lohn, weil er sein Maß nicht in der vollbrachten Leistung, sondern allein in der souveränen Güte des himmlischen Herrn hat. Wo die Liebe als der Abglanz des Wesens Gottes unter uns Menschen erscheint, da hört alles Rechnen und aller Lohn auf. So gewiß der Apostel (Eph. 5) in der Ehe das große irdische Gleichnis für das Verhältnis Christi zu seiner Gemeinde erkennt und verherrlicht, so gewiß hat in dem Leben der „Auferstehung”, in jenem Leben der zukünftigen Welt, dieses irdische Gleichnisbild seine Bedeutung, ja seine Möglichkeit verloren: In der Auferstehung werden sie nicht freien noch sich freien lassen. Könige und ihre Reiche sind ein Gleichnis der kommenden Herrschaft Gottes. Aber wenn das Reich der Himmel kommt, dann hören alle Könige auf zu herrschen, und alle Kronen liegen im Staube. Ja auch die Sonne, in unzähligen Bildern als das kosmische Gleichnisbild Christi gepriesen, wird in dem himmlischen Jerusalem nicht mehr scheinen, weil der Herr selbst als Licht die neue Welt erfüllen wird.

LeerEs gehört zum Wesen der Gleichnisrede, daß sie in diesem Sinn „gesprengt” wird; nicht nur, weil omne simile claudat, weil jede Analogie in irgend einem entscheidenden Punkt nicht stimmt, sondern darum, weil zwar noch zwischen dem Gesetz der äußeren Natur und den Gesetzen des geistigen menschlichen Lebens eine Analogie, ja mehr noch, ein wesensmäßiger Zusammenhang besteht, aber zwischen allem kreatürlichen Sein und der Welt der Gnade, Erlösung und Vollendung bei allen tiefen Entsprechungen zugleich ein unüberbrückbarer Unterschied besteht, der jede durchgängige „Analogie” in Frage stellt.

LeerHier, in der Unangemessenheit jedes Gleichnisses, in der Sprengung jeder Gleichnisrede, liegt die eigentliche Grenze gegenüber jeder „natürlichen Theologie”, welche die Gleichnishaftigkeit zu einer wesensmäßigen Gleichheit und Verwandtschaft übersteigert.

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LeerDer Mensch hat noch nicht seine endgültige Gestalt. Das irdische Leben wird nicht entwertet, wenn wir auf eine vita venturi saeculi warten. „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden” (l. Joh. 3,2).

LeerAn dieser Vorläufigkeit hat aber auch die äußere Natur Anteil. Die Bühne selbst wird hineingezogen in das Spiel, das auf dieser Erde aufgeführt wird, und nicht nur der Mensch, sondern auch jene Bühne und der Schauplatz der Geschichte geht einer Verwandlung entgegen. Dieses ist es, worauf die kühnen Worte des Apostels im 8. Kapitel des Römerbriefes hinzielen. Die Natur liegt in Wehen, und sie wartet auf die Neugeburt, die an dem Menschen anheben soll. Daß wir uns das alles nicht vorstellen können, hebt die Richtigkeit und das Gewicht dieses Gedankens nicht auf.

LeerWas sollte denn das Wort Jesu bedeuten „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen”, wenn diese Worte Jesu nicht gelten werden in einem neuen Himmel und auf einer neuen Erde? Es ist nicht so, daß die Bühne stehenbleibt, wenn das Gottesspiel mit dem Menschen zu Ende geht. Im Bilde gesprochen: Wenn im Menschenspiel der Mensch einen tödlichen Schuß abgibt, so setzt sein Schuß auch die Bühne selbst in Brand. Oder sagen wir es lieber umgekehrt: Das Spiel, das Gottes-Spiel, ist nicht zu Ende, wenn die Bühne abgebaut wird. Gott wird „diesem allen”, aber eben diesem allen, ein Ende machen, aber das regnum Christi wird sein „ohn' Ende”.

LeerNicht nur die Erde, sondern der ganze Kosmos ist für den Blick der Heiligen Schrift „Bild und Bühne” einer Geschichte, die sich zwischen Gott und Menschen ereignet und die doch keineswegs nur eine Gestalt oder Auswirkung dieser kreatürlichen Welt ist. Zwischen einer natürlichen Theologie, die die geschaffene Welt mit der Welt Gottes verwechselt und aus den Kreaturen selbst die Fülle der Offenbarung ablesen will, und einem Spiritualismus, der die ganze äußere Welt nur als Gleichnis und Bild wertet und also nicht in Wahrheit ernst nimmt, zwischen diesen beiden Extremen bewegt sich der christliche Glaube, der nicht an die Kreaturen und ihre Mächtigkeit glaubt, darum sich auch nicht vor ihnen fürchtet, aber die Kreaturen in den Glauben an Gott als Schöpfer und Erlöser einbezieht. Wir sehen alles jetzt nur „im Bild”; das Bild ist nicht die Sache selbst, aber so wenig mit dem Menschen alles aus ist, wenn sein materieller Leib zerfällt, so wenig ist das große Gottesspiel zu Ende, wenn diese großartige Bühne des Kosmos einmal abgebrochen wird.

Quatember 1959, S. 148-155

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-05
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