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Ein evangelischer Namenkalender
Nach einem Menschenalter XXVII
von Karl Bernhard Ritter

LeerDer Protest der Reformatoren gegen eine Verzerrung der Verehrung der Heiligen durch den Verdienstgedanken - die Kirche verwaltet einen Schatz überflüssiger guter Werke der Heiligen, die Heiligen können „kraft ihrer Verdienste” unsere Fürsprecher sein - hat zur Folge gehabt, daß nicht nur das Gedächtnis der Blutzeugen und Bekenner, sondern all der großen, einprägsamen Gestalten, die in der zweitausendjährigen Geschichte der Christenheit die wirkende Macht des Geistes Christi sichtbar werden ließen, so gut wie ganz verschwunden ist, obwohl die Bekenntnisschriften unserer Kirche sehr wohl von einer rechten und heilsamen Verehrung der Heiligen wissen. Es ist zweifellos das Verdienst von Walter Nigg, daß er durch seine Bücher eine weitere gebildete Öffentlichkeit im Protestantismus darauf gestoßen hat, welches Schatzes wir damit verlustig gegangen sind.

LeerInzwischen hat in aller Stille Jörg Erb, der weithin bekannte Pädagoge, einen Plan verwirklicht und in staunenswerter Geduld und Unermüdlichkeit zum glücklichen Abschluß gebracht, der in unserem Kreise schon vor einem Menschenalter oft besprochen und zunächst von Wilhelm Stählin als dem Herausgeber der Jahrbücher „Das Gottesjahr” aufgegriffen wurde, den Plan nämlich, einen Namenskalender für die evangelische Christenheit in Deutschland aufzustellen, der, so wurde uns langsam deutlich, wohl an den Heiligenkalender der katholischen Kirche anknüpfen und ihm vielfach folgen könnte, sich aber doch in bewußter Freiheit darum zu mühen hätte, alle die Gestalten aufzunehmen, in denen für uns die Verleiblichung des Evangeliums anschaulich zu werden vermag.

LeerDer im Gottesjahr 1924 erscheinende Namenskalender war freilich noch nicht von diesem Zielbild bestimmt. Er greift noch sehr weit aus und bringt neben den Namen der Heiligen die Namen ihrer Gegenspieler, nennt neben den aufbauenden auch die zerstörenden Geister und nimmt die politischen Ereignisse so wichtig wie die geistlichen Erfahrungen der Christenheit. Man muß bedenken, was der Herausgeber des „Gottesjahrs” vorfand. Die katholischen Tagesnamen sind dem Missale Romanum und dem Martyrologium Romanum entnommen. Eine feste kirchliche Ordnung und Sitte bestimmten diese Namenreihen. Für den römischen Katholiken spielt im allgemeinen der Namenstag, also das Fest seines Patrons und zumeist, oder doch sehr häufig, seines Tauftags, eine größere Rolle und wird mit größerer Feierlichkeit begangen als der Geburtstag.

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LeerWie steht es auf unserer Seite? Gibt es überhaupt viele Protestanten, die einen Namenskalender lesen und beachten? Das ist auch nicht zu verwundern, sind uns doch diese Namen zumeist arg fremd und fern. Wilhelm Löhe, der große Vorläufer derer, die sich heute um die „evangelische Katholizität” bemühen, hat ein Martyrologium herausgegeben, in der er mit den Mitteln seiner Zeit die überlieferten Nachrichten über die Heiligen des Kalenders zusammengestellt hat. Damit hat er immerhin darauf aufmerksam gemacht, wie viele dieser Namen zu Unrecht der Vergessenheit anheimgefallen sind, deren Gedächtnis zu bewahren auch uns Spätgeborenen eine heilsame Hilfe zu sein vermöchte.

LeerAber es drängt sich zugleich die Empfindung auf, daß die „Wolke der Zeugen”, die uns umgibt, durch diese alten Namen nicht wirklich herbeigerufen wird. Das geschieht freilich noch viel weniger durch die Reihe von Namen, die im amtlichen Grundkalender, für alle Kalender-Verleger vom astronomischen Recheninstitut in Heidelberg herausgegeben, als die „in protestantischen und religiös neutralen Kalendern üblichen Namen” bezeichnet werden. Diese Namenreihe ist eine einzige große Verlegenheit.

LeerEs galt also, etwas zu schaffen, für das ein brauchbares Vorbild schlechterdings fehlte, und es ist kein Wunder, daß es uns erst nach und nach ganz deutlich geworden ist, welche Aufgabe uns hier gestellt war. Willy Kramp hat es in einem Geleitwort zum ersten Band von Jörg Erbs „Wolke der Zeugen” formuliert: „Das geistliche Abendland hat die Urbilder seines Lebens verloren. Alle Gestalten, in denen sich der menschliche Gehalt unseres Lebens aussprach, sind abgelöst worden von ihrem metaphysischen, ja von ihrem moralischen Hintergrund. Sie sind dadurch im Bewußtsein unseres Volkes zu leeren Attrappen geworden. Sie haben ihre Wurzel nicht mehr. Und es zeigt sich auf einmal, daß alle echten Bilder unseres Lebens ihre Wurzel im christlichen Evangelium hatten. Weil aber kein Mensch, kein Stand, kein Volk auf die Dauer ohne das väterliche und brüderliche Urbild leben kann, das Sinn und Wert und Ziel unseres Lebens leibhaft verkörpert, deshalb sind wir heute in so großer Not und Gefahr.”

LeerSo wurde also die mit der Herausgabe des „Gottesjahr-Kalenders” im Jahre 1924 begonnene Arbeit unter Wilhelm Stählins Führung in immer neuem Bemühen weiter entwickelt und gestaltet. Über die Grundsätze einer solchen Namenreihe konnte er abschließend sagen: „Es wurde uns deutlich, daß darin nur solche Gestalten Recht und Raum haben, die in einer für die Nachwelt erkennbaren Weise von Christus ergriffen waren. Nicht die kirchliche Bedeutung, sondern das von dem Geist Gottes durchwaltete und geheiligte Leben wurde entscheidender Maßstab. Es durfte auf der anderen Seite der Blick nicht haften bleiben an dem, was für unser gegenwärtiges Geschlecht eine unmittelbare Bedeutung zu haben scheint: einer tieferen Betrachtung wurden die Namen der großen Lehrer und Märtyrer der alten Kirche wichtiger als die Wortführer moderne Geistigkeit, die ökumenische Weite wurde dessen von neuem froh, daß Männer und Frauen aus allen Völkern und allen Zeiten, auf die Gott seine Hand gelegt hat, unsere Brüder und Schwestern sind.”

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LeerDie Arbeit an der Namenreihe, die so von uns aus eigener Initiative und ohne kirchliche Mittel begonnen und mit großer Gewissenhaftigkeit unter voller Berücksichtigung der Überlieferung vorangetrieben wurde, ist gewiß noch nicht abgeschlossen, aber das Ziel, das nun in erreichbare Nähe gerückt ist, kann nur sein, zu einem für die ganze evangelische Christenheit maßgebenden Namenkalender zu kommen, wobei selbstverständlich nicht an eine evangelischer Auffassung fremde Kanonisierung gedacht werden darf.

LeerNun ist es freilich mit einem Namenkalender nicht getan. Will man der Gefahr begegnen, daß der Mensch unserer Tage suggestiv von verderblichen Leitbildern überwältigt wird, dann müssen diese Namen ihren Inhalt bekommen. Eine Chronik der Zeugen christlichen Glaubens und Lebens ist nötig als Hilfe für alle, die um die erneuernde und zeugende Kraft solcher Bilder wissen. Sicherlich hätte als Chronist kein besserer gefunden werden können als Jörg Erb, dem die Gabe verliehen ist, in einer ehrfürchtigen, frommen Sprache diese „Legenden” zu formen, in einer Sprache, die ohne unechte Erbaulichkeit doch auch bestehen wird, wenn sie, wie wir meinen, auch in einem Gedächtnisgottesdienst laut werden sollte. Welche Hilfe könnte es bedeuten, welche erneuernde und stärkende Wirkung davon ausgehen, wenn unseren Gemeinden und zumal der Jugend an diesen Gestalten aufginge, daß die „Gemeinschaft der Heiligen”, zu der wir uns im Credo bekennen, eine solche wunderbare, Leben zeugende, die Herrlichkeit Christi preisende Wirklichkeit ist.

LeerMit dem nun vorliegenden dritten Band des Werkes „Die Wolke der Zeugen” (Johannes Stauda-Verlag, Kassel) ist die Arbeit zu ihrem vorläufigen Abschluß gekommen. Möchte sie durch die Aufnahme, die sie schon gefunden hat und sicherlich noch finden wird, dazu beitragen, daß das Gedächtnis der Heiligen in einer neuen Weise in der Kirche der Reformation begangen wird, damit wir zu unserem eigenen Nutzen tun, was die Väter wollten, wenn sie im Augsburger Bekenntnis sagen: „daß wir der Heiligen gedenken sollen, auf daß wir unseren Glauben stärken, so wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren, auch ihnen durch Glauben geholfen ist, daß wir ihren Glauben und ihre guten Werke gemäß der Berufung nachahmen.”

Quatember 1959, S. 156-157

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-05
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