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Schöpfung als Grenze und Maß von Wilhelm Stählin |
Max Picard hat mit Bezug auf die Sprache den Ausdruck geprägt, daß sie dem Menschen vorgegeben sei. Der Sprechende kann die Sprache zwar gut oder schlecht gebrauchen, vielleicht auch einzelne Ausdrücke oder Wortverbindungen neu erfinden, aber er kann nicht die Sprache selbst als sein eigenes Werk neu schaffen, sondern sie ist ihm als ein Gebilde eigener Struktur und eigener Gesetzmäßigkeit „vorgegeben”. Wir wenden diesen Ausdruck im weitesten Sinn auf die ganze Fülle der Kreaturen an. Das Geschaffene als solches ist dem Menschen vorgegeben. Der Unterschied zwischen dem Geschaffenen oder Gewordenen als dem Vorgegebenen und allem, was der Mensch nach eigenen Gedanken und mit eigenen Mitteln dazugemacht hat, ist eine wesentliche Urtatsache. Daß der Mensch etwas machen kann, was ihm nicht in der „Natur” gegeben ist, ist ein Zeichen der Überlegenheit, die ihn von allen anderen Kreaturen unterscheidet. Denn die kunstvollsten Vogelnester oder Termitenbauten sind offenbar in einer anderen Weise „gemacht” als Häuser, Maschinen oder große Organisationen; dort ist ein naturhafter Instinkt der Baumeister, hier baut der Mensch mit Verstand, mit bewußter Überlegung und Absicht. Das griechische Wort techne bezeichnet dieses spezifische menschliche Vermögen; die Grenzen dieses Vermögens sind in der Welt der Maschinen weit über das Maß des Vorgegebenen hinausgerückt. Quadrupedante putrem sonitu quatit ungula campum. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es einen Vers geben könnte, der in ähnlicher Weise den gleichmäßigen Takt des Traktors einfangen könnte, weil eben nur der lebendige Rhythmus, aber nicht der (nirgends vorgegebene, sondern künstlich gemachte) Takt Gegenstand künstlerischer Nachahmung sein kann. Die Gefahr aller heidnischen Religionen, das Vorgegebene in seiner unbegreiflichen Mächtigkeit zu überschätzen und ihm göttliche Verehrung zu zollen, ist uns sehr ferne gerückt; wir sind in der genau umgekehrten Gefahr, das Geschaffene und Vorgegebene nur als eine unvollkommene Vorstufe oder als Rohmaterial unserer viel vollkommeneren Maschinen anzusehen und Respekt zu empfinden allein vor dem, was wir selber gemacht haben. Das heißt aber, auf die kürzeste Formel gebracht: Der von der Technik besessene Mensch kennt keine Ehrfurcht vor Gott, sondern er bewundert sich selbst. Die Welt des Geschaffenen hat unheimliche Tiefen. Das unermeßlich Kleine ist nicht weniger unheimlich als das unermeßlich Große. Aber der Mensch möchte das Unerforschliche seinem Verstand und seinem Willen unterwerfen. Die Dressur von Raubtieren, wie wir sie im Zirkus bewundern können, ist mir immer als ein sehr fragwürdiger Ausdruck dieses unersättlichen Drangs erschienen, die ungebändigte Natur ihrer Unheimlichkeit zu entkleiden und sie zu domestizieren und damit die menschliche Herrschaft über die Natur zu proklamieren. Die Begegnung mit den unheimlichen und bedrohlichen Mächten der vorgegebenen Welt ist an den Rand des Daseins gerückt; aber nun wird das Werk der menschlichen Hände selbst unheimlich, und die dämonische Wildheit, die in den Kreaturen lauert, schlägt durch ihre gebändigten Formen durch und erwacht neu in dem eigensten Bereich der von dem Menschen gemachten Maschine. Überall treffen wir auf die Tendenz, das Vorgegebene durch das Erdachte und Gemachte zu ersetzen. Die Grenze, die dem Menschen in allem Vorgegebenen gesetzt ist, wird kaum mehr wahrgenommen, noch weniger geachtet. Es herrscht eine Art von Rebellion gegen das Vorgegebene, ein Protest gegen das So-Sein der Welt. Der Mensch fängt an, sich selbst als eine unzulängliche Maschine zu betrachten, die den heutigen Anforderungen nicht gewachsen ist (Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen), und er ist durchaus bereit, den Roboter zu bewundern, der schneller denken und präziser rechnen kann als der geschaffene Mensch. a) Das innere Maß der Kreatur ist zunächst ihr unerhörter Reichtum und die unübersehbare Mannigfaltigkeit der Formen und Gestalten. Mit einer unbegrenztenPhantasie bringt die Schöpfung in verschwenderischer Fülle immer neue Formen und Farben hervor, auch da, wo diese Spielformen weder irgend einem Zweck dienen noch auch je von dem Auge eines Menschen gesehen und bewundert werden können. Die Zweckmäßigkeit, die mit dem geringstmöglichen Aufwand den größtmöglichen Nutzeffekt erzielt, ist nicht das Maß des Geschaffenen; sondern hier ist eher von einem schöpferischen Spieltrieb zu reden, der jeder rationalen Zweckhaftigkeit spottet. Willy Kramp hat sein schönes Buch von Garten und Landschaft betitelt: „Spiele der Erde”. Solange der Mensch noch ein echtes Verhältnis zu dem Vorgegebenen, zu der geschaffenen Wirklichkeit hat, kann er sich darum niemals damit abfinden, sein Leben restlos unter die Herrschaft der ratio und der rationellen Zwecke zu beugen, sondern er wird selbst darauf bedacht sein, seinem Leben den nötigen „Spiel-Raum” zu wahren, und er wird auch nicht ängstlich das in ihm steckende Kind, das gerne spielen möchte, vor den anderen und vor sich selbst verbergen. In einem eigentümlichen Gegensatz zu der in dem Geschaffenen wirksamen spielerischen Phantasie gehört zum Maß des Geschaffenen auch die Leidensgestalt, der Schrei der unerlösten Kreatur. Wohl verstanden: Es handelt sich nicht nur um die unerforschten Geheimnisse und die ungezähmte Wildheit in den Kreaturen, sondern um eine unvorstellbare Grausamkeit und ein maßloses Leiden. Es ist nicht wahr, daß die Welt überall vollkommen ist, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual. Die Qual ist immer auch schon da, als ein Vorgegebenes, das man zwar leichtfertig übersehen oder unredlich leugnen, aber keinesfalls aus der Welt schaffen kann. Die „Natur” ist ein Ungeheuer, das die eigenen Kinder frißt. Zu dem „Maß” der geschaffenen Welt gehört auch dieses, daß ihre Einrichtungen keineswegs den von uns Menschen erdachten Maßstäben der zweckmäßigen Harmonie, der humanen Organisation entsprechen. Ich glaube nicht, daß das Wort „Opfer” hier am Platze ist; man sollte nicht von Opfer sprechen, wo von freiwilligem Verzicht und von liebender Selbsthingabe nicht die Rede sein kann. Wohl aber ist zu sagen, daß das Leben nicht aufrecht erhalten werden kann ohne Zerstörung von Leben, und daß die grausame Härte eher das Maß dieser geschaffenen Welt bezeichnet als alles Streben nach dem größtmöglichen Glück einer größtmöglichen Zahl von lebendigen Wesen. Man neigt heute zu der Überzeugung, daß die Erbauer mittelalterlicher Dome nicht aus einem instinkthaften Gefühl für solche Maße gebaut, sondern daß sie ein exaktes Wissen von den in der Schöpfung vorgegebenen Proportionen wie zum Beispiel dem „goldenen Schnitt” besessen haben. Mit einiger Freude stellen wir fest, daß heute wenigstens manche Baumeister darauf bedacht sind, bei den Räumen, die sie umbauen und in denen Menschen wohnen („hausen”) sollen, bestimmte Maßverhältnisse zu wahren, die sich als wohltuend, ja als heilsam für den Bewohner erweisen, und solche Grundrisse zu meiden, deren Maße (eben darum, weil sie Un-Maße sind) den Menschen in seinem unmittelbaren Lebensgefühl stören und verletzen. Ein befreundeter Architekt machte mich darauf aufmerksam (und ich habe seinen Gedanken gern als eine Berichtigung der Meinung angenommen, die ich selbst früher vertreten habe), daß der Beton nicht deswegen als Baustoff bedenklich ist, weil er nicht zu den vorgegebenen, natürlichen Materialien gehört (das würde auf den Ziegelstein ebenso zutreffen), sondern deswegen, weil er durch seine technischen Möglichkeiten den Baumeister dazu verführen kann, das dem Menschen gesetzte Maß und die geordneten Proportionen zu verletzen. Doch gibt es nicht nur ein Maß des Raumes, sondern auch ein Maß der Zeit. Auf den Unterschied von Rhythmus und Takt haben wir schon hingewiesen. Seien wir uns doch bei unseren Gesangbuchliedern darüber klar, daß der lebendige Rhythmus, in dem die alten Choräle ebenso wie die Psalmodie oder andere liturgische Stücke gesungen werden sollen, durch mensurierte Noten und durch Taktstriche nur in einer sehr unvollkommenen Weise angedeutet werden kann; so wenig wie der Mangel eines lebendigen Zeitgefühls durch präzise Uhren ausgeglichen werden kann! Geduld entspringt ebenso wie die anmutige Bewegung einem tief innerlichen Gefühl für das vorgegebene Maß. Und sind nicht schließlich die Statistik, auch die Zahlen kirchlicher statistischer Tabellen, ein sehr fragwürdiger Ersatz für jenes lebendige Gefühl des Maßes, so wie dem König David die gegen den Rat seiner Generäle angeordnete Volkszählung als Verlust des Maßes angerechnet und er um dieser Vermessenheit willen verworfen wurde (2. Sam. 24)? An diesen Beispielen aus Musik, Architektur und Zeit kann man wenigstens ahnen, warum in dem Ritterideal des Mittelalters zwischen Kühnheit und Barmherzigkeit die mâße als Tugend gefeiert wurde, die dem vollkommenen Ritter nicht fehlen durfte, und warum also Parzifal in Wolframs Dichtung wohl zuerst bei König Artus die ritterliche Tapferkeit und Kühnheit und hernach bei dem Einsiedler Trevrizent die misericordie, aber dazwischen von der schönen Tochter Liasse des Ritters Gurnemanz die Tugend der mâße lernen mußte. Die mâße - welcher Verlust, daß wir Wort und Sache kaum mehr kennen! - ist mehr als höfische Zucht, sondern sie ist die Anerkennung der Grenze, die dem Menschen ebenso durch das Gesetz der Welt wie durch den Anspruch seines menschlichen Bruders gesetzt ist. In Shakespeares Hamlet findet sich der Ausdruck „the modesty of nature” -, aber modesty heißt nicht einfach „Bescheidenheit”, sondern es liegt darin der Begriff des schönen Maßes, das der Mensch nur aus der Begegnung mit der Schöpfung und ihren Maßen lernen kann; aber ist schließlich „Bescheidenheit” etwas anderes als die Bereitschaft, sich mit dem gegebenen Maß zu bescheiden? Aber es scheint mir, daß eine sehr genaue Analogie besteht zwischen der Grenze, die dem Menschen durch die Struktur der Welt und das Maß seines eigenen Wesens gesetzt ist, und jener nur scheinbar ganz anderen Grenze, die dem Menschen durch ein göttliches Gebot gesetzt ist. Denn das, was die listige Schlange dem Menschen nahelegt, ist ja nicht Übertretung irgend eines einzelnen Gebotes, sondern es ist die verführerische Möglichkeit, den eigenen Lebensraum über die ihm gezogene Grenze hinaus auszuweiten, einzudringen in neue Dimensionen und neue Erfahrungen zu gewinnen, die ihm bisher verschlossen gewesen sind. Wie viele Märchen haben dieses Urgeheimnis der Grenze und des Maßes dargestellt in dem Bild der verbotenen Tür, welche zu öffnen den Menschen in tiefstes Leid und ausweglose Not stürzen muß! Immer wieder müssen wir daran erinnern, daß nach Luthers tiefer Einsicht nicht die concupiscentia, die Begehrlichkeit, sondern die superbia, die Überheblichkeit, die Grenzüberschreitung, die Vermessenheit, die eigentliche Versuchung, die Ursünde des Menschen ist. Und ebenso enthält auch die Bibel die Spuren uralter Sagen, in denen Gott selber dem Menschen an seiner Grenze wie ein Feind entgegentritt; ja man möchte sagen, Gott selber sei die dem Menschen gesetzte Grenze, und darum sei der streitbare Atheismus eine unheimliche Haßliebe des Menschen gegen das vorgegebene Maß, das ihn in seine Grenze weist. Es ist freilich etwas in der Tiefe anderes, ob der Christ sich „um Gottes willen” „fein in solche Schranken fügt”, oder ob er in heidnischer Weltgläubigkeit und Weltängstlichkeit in diesen kosmischen Maßen seine letzte Wesenserfüllung sucht. Denn auch diese Grenze und dieses Maß gehören zu dem, was vergeht. Das, was die Bibel „Wunder” nennt und was der christliche Glaube unter diesem Wort versteht, ist ja der Einbruch einer neuen, höheren und künftigen Ordnung aller Dinge; und die „Auferstehung”, deren wir warten, ist die Verwandlung unseres ganzen Seins, des leiblichen ebenso wie des seelischen und geistlichen, in eine neue Seinsform, für die jene Grenze und jene Maße nicht mehr gelten. Aber es ist immer die große Versuchung des „geistlichen” Menschen gewesen, diese Grenze schon jetzt zu mißachten und zu überspringen und also das Leben der zukünftigen Welt vorwegzunehmen. Dann aber wird alles verkehrt, und aus dem Werk, das Gottes Gnade in uns tun will, wird der Krampf einer gemachten und überheblichen Geistlichkeit. Von Blumhardt stammt das Wort, der Mensch müßte zweimal bekehrt werden, einmal von der Natur zur Gnade und dann von der Gnade zur Natur. Genau das ist es, was Luther gemeint hat, wenn er von dem „genatureten” Leben der Kinder Gottes spricht. Die Grenze zwischen dem Gewachsenen und dem Gemachten läuft mitten durch unsere sogenannten guten Werke hindurch, und nur das, was wir nicht mit verkrampftem Willen gemacht haben, sondern was durch Gottes Gnade, als sein Werk in uns gewachsen ist, gehört zu den „Früchten”, die Gott an uns sucht. Aber auch die Wandlung, auf die wir hoffen, ist nicht auf den Menschen beschränkt. So wie wir in der Feier des Heiligen Mahles nach der Weisung des Herrn die natürlichen Gaben einbeziehen in das geistliche Geschehen - eben das meinen wir ja mit dem Wort „Konsekration”, das heißt: Einbeziehung in den Raum des Heiligen -, so greift unsere Hoffnung hinaus über Grenze und Maß des „Vorgegebenen” und wartet auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. So oft wir in dem Lied „O Durchbrecher aller Bande” an jene vierte Strophe kommen, wo es heißt, daß „wir mit der Kreatur seufzen, ringen, schreien, beten um Erlösung von Natur”, wird uns die Fragwürdigkeit dieser Redeweise bewußt: Nicht um Erlösung von Natur, sondern um Erlösung der Natur dürfen wir beten, daß wir, die wir geschaffen sind samt allen Kreaturen, auch mit allen Kreaturen frei werden „von dem Dienst der Eitelkeiten”. Weil aber diese Erlösung nirgends anders anheben kann als im Menschen, darum, nicht wegen seiner überlegenen Intelligenz, ist der Mensch die Schlüsselfigur des ganzen Kosmos; und nur indem er sich gehorsam und liebend der geschaffenen Welt zugehörig fühlt, und damit seine eigene Grenze achtet und sein Maß findet, kann er an seinem Teil das Werkzeug Gottes werden, die neue Schöpfung im Anbruch, in der Gestalt der Hoffnung, zu verwirklichen. Quatember 1959, S. 212-218 |
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