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Gruß an Karl Bernhard Ritter
Eine nicht gehaltene Tischrede
von Wilhelm Stählin

LeerLieber Freund! Es wäre wohl Deiner eigenen künstlerischen Begabung angemessen, wenn ich die spannungsreiche Fülle der Erinnerungen, Gedanken und Gefühle, die mich in der Vorschau auf Deinen 70. Geburtstag bestürmen, in einem wohlgesetzten Poem zur Einheit zusammenbände. Aber weil ich keine dichterische Ader besitze, muß unsere in mehr als 40 Jahren bewährte Freundschaft als das zusammenhaltende Band Versmaß und Reim ersetzen. Weil wir beide, bei allen sonstigen Fehlern, die wir haben, von der Epidemie der Treulosigkeit nicht angesteckt sind, darum hat diese unsere Freundschaft nicht nur die Stürme dieser Jahrzehnte, sondern auch alle Verschiedenheiten des Temperaments und oft der Meinungen, ja selbst manche Schmerzen, die wir uns hin und wieder bereitet haben, ungemindert überstanden.

LeerZu der Leibhaftigkeit, die wir immer als die unentbehrliche Form echter menschlicher Gemeinschaft empfunden haben, gehört auch dies, daß die Vielgestalt unserer Beziehungen auch in einer Mannigfaltigkeit, ja Gegensätzlichkeit der Örter sich spiegelt, an denen wir uns begegnet sind. Unvergeßlich bleibt mir jene Wiese auf der Höhe des Thüringer Waldes, wo ich Dich zum erstenmal gesehen habe: dunkles Gewölk war aufgestiegen, und in jedem Augenblick drohte der Gewitterregen loszuprasseln; aber niemand von den paar hundert jungen Menschen, die Du mit einer Rede über Sünde und Gnade in den Bann einer ihnen völlig fremden Gedankenwelt gezogen hattest, dachte daran aufzubrechen. Fast alle anderen, die damals gemeinsam mit uns im August 1919 den „Jungdeutschen Bund” begründet haben - eine der vielen unerfüllten Hoffnungen unseres Lebens - sind unserem Blick entschwunden; aber diese unsere erste Begegnung hat in ihren Auswirkungen die Jahre und das Ende des damals gestifteten Bundes überdauert. Von jener verzweiflungsvollen Tagung in Schloß Angern bei Magdeburg im Januar 1923, wo wir vergeblich versuchten, die von uns zusammengerufenen Führer von Jugendbünden in unsere Sorge um die evangelische Kirche hineinzuziehen, und von jenen Konferenzen auf dem Rittergut Berneuchen haben wir zu oft erzählt, als daß ich die Einzelheiten dieser Erinnerungen hier noch einmal beschwören müßte. Aber dann waren Pätzig, das Gut unseres Freundes Hans von Wedemeyer, der Klosterhof in Schulpforta, der Rittersaal der Westerburg, in dem uns Freund Happich zum erstenmal gelehrt hatte zu meditieren, die Bergklippe dort, auf der wir zuerst den Plan einer Bruderschaft erwogen haben, Kloster Urspring, dessen Kirche wir aus dem Schutt zu neuem Leben erwecken durften, das Barockschloß Assenheim mit seinem etwas verblichenen Prunk, und mehr als alles andere Dein Haus und Deine Kirche in Marburg, die Du zu so großer Schönheit erneuert hast, ihre Sakristei und ihre verschwiegene Kreuzkapelle, die Stätten, wo wir immer wieder zu Hause waren, und zugleich die Situationen unseres gemeinsamen Weges.

LeerIn all diesen Jahren hat sich unsere innere Entwicklung in einem merkwürdigen Parallelismus vollzogen; wir sprachen und schrieben in einem verschiedenen Stil, aber wir dachten so verwandte Gedanken, daß wir bisweilen selbst nicht mehr wußten, wer etwas zuerst gedacht, gesagt, geschrieben hatte; nicht nur am Berneuchener Buch, sondern auch an manchen anderen Veröffentlichungen könnte sich die fleißigste Quellenscheidung die Zähne ausbeißen. Wenn sich später einmal jemand die Mühe machen wollte, unseren Briefwechsel zu studieren, so würde er mit einiger Verwunderung wahrnehmen, wie unausgesetzt wir einander in den schwierigsten theologischen und praktisch kirchlichen Fragen angeregt, kritisiert und gefördert haben.

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LeerWir hätten den Ansatz und eine wesentliche Voraussetzung unserer Arbeitsgemeinschaft verleugnet, wenn wir nicht ganz intensiv auch an dem persönlichen Leben des anderen teilgenommen hätten.

LeerIch habe nicht gezählt, wie oft ich in Deinem Marburger Pfarrhaus zu Gaste gewesen bin; aber wenn wir uns besucht haben, dann waren die gewichtigsten theologischen Fragen unzertrennlich verflochten mit den Ereignissen des ganz persönlichen Lebens, mit allem, was Reichtum, Glück und Sorge der Familie betraf, und die ernsten Krankheiten, von denen Du und die Deinen im Lauf der letzten Jahre immer wieder geplagt wäret, gehören ebenso zu dem Bilde Deines Lebens, wie ich es in mir trage, wie die Tage der Niedergeschlagenheit und die Ausbrüche der Verzweiflung über gewisse kirchliche Kümmernisse, auch wenn dann vielleicht nur das harmlose Bäffchen zum stellvertretenden Gegenstand Deines Zornes geworden war.

LeerMehr als die Hälfte, fast Dreiviertel der 40 Jahre sind bestimmt durch unsere Zugehörigkeit zur Evangelischen Michaelsbruderschaft. Du bist ja nicht nur einer unter den zweiundzwanzig Brüdern, die unsere Bruderschaft im Jahre 1931 gestiftet haben, sondern sie verdankt in gewissem Sinn doch Deiner Initiative ihre Existenz, und zumal in den ersten Jahren ist sie durch Deine Leitung entscheidend geprägt worden. Das weiß niemand so sehr wie ich, der ich diesen ganzen Aufbruch an Deiner Seite erlebt habe. Vieles, was Deine kühnen Pläne als zukünftige Gestalt erhofft haben, ist in der ermüdenden Wirklichkeit der täglichen Arbeit unerfüllt geblieben, und es konnte nicht ausbleiben, daß Du Deinen Optimismus, der bisweilen der Wirklichkeit auch unserer Bruderschaft voraneilte, mit manchen Enttäuschungen bezahlen mußtest. Daß dann eine zweite und eine dritte Generation nicht aus den gleichen Kräften heraus leben konnte wie die Generation der Gründer, gehört wohl zu den unvermeidlichen Erfahrungen des Alternden. - Aber es ist ja nicht nur das. Wir haben es manchmal als ein Symptom für die Echtheit unsers Aufbruchs angesehen, wenn sich der Teufel sehr offenkundig um uns gekümmert und durch Widerstände von außen und durch menschliches Versagen in unserer eigenen Mitte unser Werk zu stören und zu verderben suchte. Wir haben schwer daran getragen, wenn Brüder, mit denen wir eng verbunden waren, sich mißtrauisch und feindselig von uns lösten und wenn wir selbst es einander schwer machten und einander enttäuschten. Das hat uns vor jeder Romantik und vor jeder Vermessenheit bewahrt, und ich glaube, daß sich gerade in solchen kritischen Zeiten nicht nur unser beider Freundschaft, sondern auch die geistliche Zuverlässigkeit unserer Bruderschaft und die bindende Kraft ihrer Regel bewährt haben.

LeerAber Du hast es ja selbst immer wieder ausgesprochen und Deinen Brüdern ans Herz gelegt, daß unsere Bruderschaft nicht um ihrer selbst willen besteht, sondern daß sie „zum Dienst an der Kirche” gestiftet worden ist. Dieser Dienst wird nicht leicht, sondern schwer und entsagungsvoll, wenn man von Fragen bewegt und von Erkenntnissen bedrängt wird, mit denen man in der kirchlichen Öffentlichkeit mehr oder weniger einsam ist. Wenn ich den umfangreichen Akt unseres Briefwechsels durchblättere, dann begegne ich schon in frühen Jahren fast all den Fragen, die heute auch in weiterem Kreis als unabweisbare Fragen unserer Kirche empfunden werden: der Frage nach dem wahren Sinn und der rechten Gestalt des kirchlichen Gottesdienstes als einer Feier des Mysteriums, nach dem Opfercharakter des Sakramentes, nach der Bedeutung der apostolischen Sukzession für das Selbstverständnis des geistlichen Amtes, vor allem anderen der Frage nach der Wiedergewinnung der Katholizität als einer unerläßlichen Voraussetzung für das sinnvolle Gespräch mit dem römischen Katholizismus.

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LeerWie sehr haben wir es beklagt, daß in so vielen gewichtigen Fragen ein verheißungsvoller Aufbruch dann in der Anpassung an das landeskirchlich Verordnete steckengeblieben ist! Wer mit Dir teilgenommen hat an den gesamtkirchlichen Arbeiten zur Erneuerung des Gottesdienstes, schuldet Dir Dank für die getreue Opposition, mit der Du immer wieder, zumeist vergeblich, versucht hast, bestimmten formalen Prinzipien zu widersprechen und die echte Erfahrung von dem principium alles gottesdienstlichen Geschehens zur Geltung zu bringen. Vielleicht hast Du die tatsächliche Wirkung Deiner Appelle doch manchmal unterschätzt.

LeerZu den seltsamsten Episoden unseres gemeinsamen Lebens gehört gewiß jenes durch D. Heckel vermittelte Gespräch mit Herrn Oberheid, dem damaligen Adjutanten des Reichsbischofs, am 1. Mai 1934, der uns beiden den Plan einer kirchlichen Schulungsstätte entwickelte, wo, wie er sich ausdrückte, „Bischöfe beten lernen sollten”; aber in seinen theologisch verworrenen Ideen empfanden wir mit einiger Verwunderung doch mehr Ahnung von den tieferen Schäden und tieferen Lebensnotwendigkeiten der Kirche, als wir sie in der starren und oft sturen Selbstverteidigung offizieller kirchlicher Traditionen und Positionen haben erkennen können. Aber ich will an Deinem Geburtstag nicht diese trüben Erinnerungen wachrufen und will sie noch weniger abschwächen durch die Frage, ob es immer wirklich die Wahrheit ist, zu der die Vorauslaufenden eilen. Lieber will ich Dich daran erinnern, daß Du selbst den Brüdern gegenüber das Wort von der „gottlosen Resignation” geprägt hast, und daß doch die Marburger Fakultät Dir durch die Ehrenpromotion und ihre Begründung auch nach außen hin eine sehr sichtbare Anerkennung hat zuteil werden lassen.

LeerEs wäre ein wichtiger Beitrag zu Deiner Biographie, wenn man die Bücherbesprechungen und -empfehlungen zusammenstellen wollte, die Du im Laufe der Jahre in unseren Evangelischen Jahresbriefen und an anderen Stellen veröffentlicht hast. Ich hatte oft Anlaß, Deinen Spürsinn zu bewundern, mit dem Du bisweilen sehr entlegene Dinge in Deinen Gesichtskreis bekommen hast, wenn sie Dir für unseren Auftrag - im weitesten Sinn verstanden - bedeutsam erschienen, und die rasche Intensität, mit der Du Fragestellungen und Erkenntnisse, die Dir dort begegneten, bis hin zu manchen Formulierungen - vielleicht waren es bisweilen auch nur mehr oder weniger geniale Einfalle -, in Deine eigenen Gedanken aufnehmen konntest. Vielleicht war es ein nie verleugnetes Erbe der Jugendbewegung, wenn Du Dich dabei so intensiv für die unter uns wieder lebendig gewordenen „Götter” interessiert und darunter gelitten hast, wie viele Menschen von unserer kirchlichen Problematik nicht mehr berührt werden.

LeerBei der Durchsicht unseres Briefwechsels aus all diesen Jahren ist mir als ein Merkmal Deines ganzen Denkens immer wieder hervorgetreten, wie sehr Du Dich gegen jede selbstzufriedene Enge eines konfessionellen Kirchentums gewehrt und nach einer weiteren und umfassenderen Schau unserer religiösen Lage getrachtet hast. In diesem Zusammenhang sehe ich auch Deine Bemühungen um ein besseres Verständnis zwischen den christlichen Konfessionen. Unvergessen sind jene intensiven Begegnungen mit katholischen Theologen während Deiner Wiener Zeit; wer da nicht (wie ich im Herbst 1943) daran teilnehmen konnte, hatte nicht leicht eine richtige Vorstellung von dem Ernst auch der Gegensätze, die dabei (z. B. in Deinem Briefwechsel mit Dr. Casper) aufbrachen, und war dann wohl geneigt, auch Dein Gespräch mit dem Papst in einer falschen Weise zu deuten. Du weißt, daß ich nicht allen Deinen Versuchen, die Dogmen der römischen Kirche im Sinn unserer heutigen Erkenntnisse zu verstehen und zu deuten, zustimmen konnte; aber ich habe Deine Grundthese immer für richtig gehalten, daß es notwendig sei, zu den tieferen Schichten vorzudringen, in denen die dogmatischen Verschiedenheiten wurzeln, und daß man gegen das, was an Rom verkehrt ist, nur durch die Wiedergewinnung der „Katholischen” Weite und Fülle in einer sinnvollen Weise kämpfen kann.

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LeerIst es ganz abwegig, wenn ich auch Deine Ausflüge in den Bereich der Politik in diesem Zusammenhang sehe? Deine Tätigkeit als Abgeordneter im Preußischen Landtag kenne ich nur aus Deinen eigenen amüsanten Erzählungen; aber die Gründung des Jungdeutschen Bundes, die kulturelle Arbeit der Fichte-Hochschule und die Beziehung zu dem Kreis der „Jungkonservativen” waren ja vergebliche Versuche, das Verderben aufzuhalten, das dann 1933 hereinbrach, und wir haben immer wieder mit gleichem Entsetzen die „grauenhaft heidnisch-magische Beschwörung der Landschaft” empfunden, als am Bismarckturm bei Marburg das riesige Hakenkreuz aufgerichtet war. Wir haben es beide als das Symptom für einen an die Wurzel gehenden theologischen Gegensatz angesehen, daß zwar wir von der ersten Stunde an von diesem Aufbruch der heidnischen Götter nichts anderes als Unheil erwarten konnten, daß aber eine pietistische Frömmigkeit um uns her, der jedes kosmische Verständnis der Erlösung fremd war, in ihrer Instinktlosigkeit nur bewies, daß sie von Dämonen keine Ahnung hatte.

LeerDer Befreiung aus der Enge eines überkommenen Protestantismus hat ja unsere ganze Berneuchener Arbeit ein Menschenalter hindurch gegolten, das Berneuchener Buch „Vom Anspruch des Evangeliums auf die Kirchen der Reformation” ebenso wie die Stiftung unserer Bruderschaft, deren Urkunde wir in jener unvergeßlichen Nacht an Michaelis 1931 gemeinsam mit Ludwig Heitmann und Wilhelm Thomas verfaßt haben. Aber ich meine, daß auch Deine künstlerischen Anlagen und Deine eigenen dichterischen Versuche im Grunde eine Form dieses Ausbruchs aus der Enge des Protestantismus gewesen sind. Wenn ich Dein „Brandenburger Domspiel” wieder einmal zur Hand nehme, wenn ich mich an die entzückenden kleinen Farbskizzen erinnere, mit denen Deine „Fahrt zum Bosporus” leider nicht geschmückt werden konnte, wenn ich die Gedichte wieder lese, mit denen Du uns während des Krieges überrascht und zum Teil aufgeregt hast, dann weiß ich, wie sehr das alles zu Deinem Eigensten gehört, vielleicht noch mehr als manche rein gedanklichen Erörterungen. Aber wahrscheinlich bist Du selbst der Meinung, daß es dabei nicht so sehr auf einzelne dichterische Äußerungen ankomme, als auf jene künstlerische Empfänglichkeit und das Verlangen nach Verleiblichung der tiefsten Erkenntnisse in dem Medium der Sprache und der Gebärde, was in Deine Gesamtarbeit als ein nicht wegzudenkendes Element eingegangen ist. Wir wissen freilich, daß jenes heitere Miteinander von Natur und Gnade, wie Du es in den Basiliken von Ravenna so beglückend empfunden hast, und die Einbeziehung der ganzen Welt des Eros in den christlichen Erfahrungsbereich zwar eine herrliche Sache, aber von besonderen Gefahren umwittert ist. Wer wirklich protestantisch ist, kennt die Faszination durch die schöne Form als eine wirkliche Versuchung. Wer aber dieses Schicksal weder kennt noch bejaht, wird manches auch in Deinem Wesen und in Deinem Werk falsch sehen; aber es kommt ja - und das ist das letzte, was ich in dieser nicht gehaltenen Tischrede zu Deinem Geburtstag sagen wollte, zuletzt nicht darauf an, wie uns die anderen sehen, sondern wie Gottes Gnade uns sieht, und wer von uns hätte sich nicht dessen zu getrösten, was Henry von Heiseler in einem seiner Gesänge der Engel gesagt hat, und was an seinem Grabe zu lesen ist:


Gott wird Dich vollenden, wie er Dich wollte.

In treuer Freundschaft

Dein Wilhelm Stählin

Quatember 1960, S. 50-54

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
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