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von Heinz Dietrich Wendland |
Daß wir in der Kirche und mit der Kirche leben, daß wir als Christen in jenem Weltalter existieren, das man mit Recht die „Zeit der Kirche” genannt hat, macht immer wieder Gespräch und Auseinandersetzung mit Menschen und Haltungen in und außerhalb der Kirche notwendig, die über die Kirche hinaus wollen. Es hängt dies ohne Zweifel damit zusammen, daß vielen der Ort, an dem die Kirche steht und an dem sie aushalten muß, unerträglich dünkt.
In diesem Gespräch ist Vorsicht geboten, weil die Gefahr einer Verteidigung der Kirche mit Hilfe von allerlei frommen Kurzschlüssen sehr nahe liegt. Es gibt sowohl die Gefahr, sich in eine unerschütterliche Orthodoxie wie in eine Burg zurückzuziehen, von deren hohen Zinnen man der Angreifer spottet, als auch die Gefahr einer christlichen Überempfindlichkeit, die auf die leiseste Kritik an der Kirche mit heftigen Ausschlägen reagiert. In den letzten Auseinandersetzungen über Recht und Unrecht der Kritik an der Kirche sind diese beiden Erscheinungen deutlich zutage getreten, sowohl an der römisch-katholischen wie an der evangelischen Kirche. Beides, die Kritik an der Kirche, die ja sowohl von außen wie von innen kommt, als auch die Gegenwirkungen und Verteidigungen von Seiten vieler Christen, weist darauf hin, daß in der Tat die Situation und die Stellung der Kirche höchst zwiespältig und unbefriedigend zu sein scheint. Lebt sie denn nicht im ständigen Widerspruch mit sich selber? Für die einen ist sie viel zu wenig heilig und göttlich. Ein ganz anderer Glanz müßte von ihr ausgehen! Sie sollte doch ganz und gar, innen und außen, durch und durch Reich Gottes sein, der Raum seiner Herrschaft, der Ort seiner Gegenwart, voll von seiner Herrlichkeit! Aber sie ist es offenkundig nicht. Darum muß man sie reinigen, man muß alle Halb- und Namenschristen hinaustun, die Schar der wirklich Gläubigen und Heiligen aber sammeln. Nur so kann ihre Sendung erfüllt werden. Das Reich Gottes muß auf diese Weise endlich in der Welt gegenwärtig, greifbar und wirklich werden. Zerbrechen wir die geschichtlichen Kirchentümer, die institutionellen Fassaden, die äußeren Formen des Kirchenrechts, die dem heiligen Geiste widerstreiten, sammeln wir endlich die „Gemeinde der Heiligen”! Sie allein ist wirklich der Anfang des Reiches Gottes. Durch die ganze Kirchengeschichte gehen die kleinen und großen Versuche hindurch, die Kirche zugunsten des Reiches Gottes selber und seiner Erscheinung in der ihm zugehörigen Gestalt der Gemeinde der Heiligen aufzuheben, oder ihr doch wenigstens, von diesem Ideal her gesehen, ihre Kümmerlichkeit und Unreinheit, ihren ständigen und unaufhörlichen Verfall zu bescheinigen. Die Anderen aber gehen der Kirche von dem entgegengesetzten Ausgangspunkte her zu Leibe, von der „Welt” her, von der Gesellschaft, der Kultur, dem Staate, kurz von dem Gesamtzusammenhang des „profanen” Lebens her. Nicht auf die rechte Heiligkeit, sondern auf die rechte Profanität kommt es für die Kirche an. Menschlich, weltlich und profan muß sie werden. Ihr eigentliches Ziel ist, sich zu entäußern, sich hinzugeben, sich aufzulösen - in die Welt hinein. Man ist dabei theologisch gar nicht schlecht beraten; man kann das sogar christologisch begründen. Hat denn Christus sich etwa nicht selbst dahingegeben, hat er nicht auf alle göttliche Herrlichkeit verzichtet, um Mensch zu werden und den Opfertod am Kreuz zu sterben - für die Welt, für alle Menschen, und nicht dazu, um eine Kirche zu begründen, die sich ständig von der Welt absetzt, sich auf ihre angeblichen Heiligtümer zurückzieht, in Liturgie und Dogmatik ihre weltfernen Tempelbauten errichtet? Weltliches, profanes Christentum, so lautet die „neue” Losung -, freilich, ganz neu ist sie nicht; schon vor hundert Jahren hat man sie, damals in der Form eines liberalen, „weltoffenen”, für die fortschrittliche Kultur der Moderne sich begeisternden Christentums vertreten und an eine Zukunft geglaubt, in der ein Staat von vollendeter Humanität die Kirche ganz und gar in sich auflösen würde. Wir tun gut, dieser Kritik stillezuhalten. Denn die Sendung und das Wesen der Kirche müssen in der Tat sowohl vom Reiche Gottes als auch von der Welt her bestimmt werden. Die Kirche muß offen sein zur Welt. Sie ist keine Burg mit Wall und Graben, aus der dann und wann einmal Ausfälle in die Welt unternommen werden. Die Geheimnisse und Kräfte der Gnade, die der Kirche von Christus zufließen, gehören nicht ihr selbst, sondern aller Welt, allen Menschen, unter denen sie lebt; ihre Liebe gehört den Elenden, Schwachen und Hungernden; sie reicht die lebenspendenden Sakramente den Sündern, die dem Tode verfallen sind. Sie verwaltet die Mysterien der göttlichen Liebe, aber verwalten heißt nicht besitzen, sondern austeilen, hinschenken, weggeben an die Bedürftigen der Welt. Wahr ist auch, daß die Kirche nicht ewig in ein- und derselben historischen Gestalt beharren kann. Sie muß immer sich selber voraus sein, sich selber gleichsam überholen, aus den fixierten, geschichtlichen Gestalten heraustreten, neue Wege der Verkündigung, der Seelsorge, der Liebestat suchen. Die Formen unserer Landes-, National-, Staats- oder Freiwilligkeitskirchen, ja sogar die heute vorhandenen konfessionellen Bindungen und Begrenzungen sind gewiß nicht für die Ewigkeit bestimmt. Die Geschichte der Kirche ist ein großes Gräberfeld. Große Kirchenkörper sind fast spurlos vom Erdboden verschwunden. Ohne zum Sterben willig zu sein, kann die Kirche nicht leben. Sind nicht die Lasten eines greisenhaft gewordenen Christentums, die wir alle zu tragen haben, drückend? Solchen Erfahrungen sollen wir nicht aus dem Wege gehen. Es sind die Anfechtungen, die zum Leben in und mit der Kirche notwendig dazugehören. Eine fertige oder absolute Kirche jenseits des geschichtlichen Sterbens gibt es nicht. Man muß freilich über den engen Horizont des eignen Lebens und die engen Grenzen der eignen Kirche hinausblicken, um dies sehen zu können. Wie schwer ist die Umbildungs-krise der Kirche im Osten unseres Vaterlandes, durch welche Tiefen der Zerstörung und des Todes hat die orthodoxe Kirche in Rußland hindurchgehen müssen! Von hier aus gesehen, wird deutlich, daß Kirche und Reich Gottes nicht gleichgesetzt werden können. Nicht nur durch die Vielzahl sich gegenseitig bedrängender Kirchen (z. B. ihre scheußliche Konkurrenz auf den Missionsfeldern) ist diese Gleichsetzung ausgeschlossen, sondern auch durch ihre geschichtliche Gestalt in dieser dahingehenden von Sünden, Dämonen und Tod durchherrschten Weltzeit. Darum ist auch das Reich Gottes immer Bewegung gegen die Kirchen, sofern sie aus sündigen Menschen bestehen, von Streit erfüllt sind, menschlicher Machtwille und alle anderen bösen Geister in ihr genauso kräftig am Werke sind wie irgend sonst in der Welt. Von allen Kirchen und von den Kirchen zu jeder Zeit gilt darum die Feststellung des Apostels Paulus gegenüber den Korinthern: „Euer Ruhm ist nicht fein!” (1. Kor. 5, 6), was denn auch zeigt, daß man sich nicht in die Zeit einer „idealen Urgemeinde” zurückziehen kann, die angeblich aller Sünden ledig gewesen sein soll. Die Bewegungen, die auf die Herstellung der vollkommen reinen und heiligen Gemeinde ausgegangen sind, haben die Kirche niemals der Welt entreißen können, und irgendwann sind die großen Reform- und Heiligungsbewegungen Kirchen neben anderen, älteren Kirchen geworden. Das Reich Gottes brachten und realisierten sie nicht. Diese Kirche - in und unter den vielen Kirchen verborgen - ist unzerstörbar und unauflöslich. Von dieser kann man ganz gewiß nicht sagen, daß sie in ihrem Wesen mit der Gesellschaft oder der Kultur oder der Religion identisch wäre. Verstehen wir Israel als die erste Geschichtsgestalt des Volkes Gottes auf Erden, so ist die Kirche deren Ende und Erfüllung durch Christus und die in seinem Blute gestiftete, neue „Diatheke” oder Heilsordnung. Eine dritte Gestalt des Gottesvolkes auf Erden aber wird es nicht geben, so gewiß es keines neuen Erlösers über Christus hinaus bedarf. Bis ans Ende der Welt wird immer „Kirche” sein, Kirche mit Verkündung, Sakrament und Gottesdienst, Kirche mit Ämtern aus der Vollmacht Christi und aus der Kraft des Heiligen Geistes, Kirche als der nie endende Dienst der Anbetung und der Lobpreisung durch alle Zeiten, Kirche als Diakonie der Liebe an den Elenden und Bedrängten. Kommt denn aber nicht doch endlich die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißung und Erwartung: „Ein Volk, heilig dem Herrn”? Es sind doch wahrhaftig nicht die Schlechtesten unter den Frommen, die in Israel und in der Gemeinde Christi sich leidenschaftlich nach dieser Umgestaltung und Neugeburt des irdischen Gottesvolkes ausgestreckt haben, die tief die Wahrheit und das Recht der immer wiederkehrenden Anklagen gegen die Kirche, der immer neuen, furchtbaren Enttäuschung der Welt an der Kirche erfahren haben, so daß sie forderten, die Kirche müsse endlich Kirche werden, das reine Gefäß und die heilige Dienerin der göttlichen Wahrheit! Aber dies wäre die ecclesia triumphans, die Gemeinschaft der vollendeten Erlösten, das himmlische Jerusalem (Offenbarung Joh., Kap. 21 und 22), die Kirche, die keiner irdischen Gotteshäuser mehr bedarf, weil sie unmittelbar vom Lichte Christi erfüllt ist; die Kirche, die darum keiner Prophetie oder anderer aufhelfender und in die Zukunft weisender Geistesgaben mehr bedarf, die Kirche, in welcher die zukünftige Vollendung Gegenwart geworden und darum auch alles Stückwerk des geschichtlichen Wandels geschwunden ist (vgl. 1. Kor. 13,8 ff.). Das endgültige Gericht über die Welt und die geschichtlichen Kirchen, die Aufhebung dieser Weltzeit, der endgültige Sieg über die dämonischen und antichristlichen Gewalten -, das sind die Voraussetzungen dafür, daß die wahre Gemeinde der Heiligen ans Licht treten kann, an die wir glauben, zu der wir uns im Credo bekennen, die wir aber noch nicht sehen. Das bedeutet aber auch, daß die Kirche gerade dann, wenn sie sich aus ihrem eschatologischen Charakter heraus als unzerstörbar und unauflöslich versteht, in der Buße bleibt, in der Hoffnung, in der Erwartung, in der Selbstbescheidung und der Demut, und sich nicht einbilden kann, „absolut” zu sein. Sie steht während ihres geschichtlichen Weges und Wandelns immer in der Gefahr, sich in die falsche Selbstsicherheit der Orthodoxie zu flüchten und diejenigen einfach abzuschütteln, die von der Kirche fordern, sie müßte mehr und anders sein, als sie jetzt ist. Aber solche unbequemen Mahner und Kritiker, Störer des Kirchenschlafes sind der Kirche von Gott selbst gegeben, um sie voranzutreiben, unter die Leute zu bringen, unter die Welt zu mischen -, was sogar von denjenigen Kritikern gilt, die von dem Heil Gottes gar nichts wissen wollen und wie der „tolle Mensch” bei Nietzsche auf den Gassen herumlaufen und schreien „Gott ist tot”, ein heilig-unheiliges Geschrei, das die Kirchen der ganzen Welt erwecken sollte, aufzustehen vom Schlafe. Diese Kirchen können nicht auf ihre Unvergänglichkeit verweisen, um sich zu verteidigen und zu rechtfertigen. Denn die Güter und Gnadengeheimnisse, mit denen sie so unerschöpflich reich beschenkt sind, richten sie zugleich, nämlich ihren Zustand in der Geschichte, ihre Uneinigkeit und faktische Unheiligkeit, ihren zerstörerischen Streit, wer und wo denn nun die wahre Kirche wäre. Das gilt von der römischen, der orthodoxen und der lutherischen Kirche und vielen anderen: Wir alle ermangeln als sündigende Kirchen - nicht bloß als sündigende einzelne Christen oder kirchliche Amtsträger! - des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollten (vgl. Röm. 3, 23). Aber die Kirche kann sich nicht so verwandeln und dadurch gereinigt werden, daß sie ihr Kirche-Sein, ihr Amt, ihr Evangelium, ihre Sakramente preisgibt, ihre Ur- und Fundamentalgestalt, nämlich gottesdienstliche Gemeinde zu sein, auflöst, um in der Welt, in der Gesellschaft zu verschwinden, sei es um sich in den Staat oder in die klassenlose Gesellschaft oder in eine humane Weltgestaltungsgemeinschaft zu verwandeln. Dem steht Christus selbst im Wege, und solange E r in der Welt ist, ist auch die Kirche, seine Kirche da, bedeckt mit Wunden und mit Sünden, einer sterbenden oft ähnlicher als einer lebendigen, dennoch von ihm wunderbar erhalten und von tausend Toden auferweckt. Er drängt sie aber auch nach vorwärts, dem Ziele der Vollendung entgegen; in „alle Wahrheit” leitet sie der heilige Geist. Deswegen kann man in der Kirche auch nicht einfach die Worte und Lehren der Väter wiederholen. Paulus hat die Gemeinde nicht nur auf die Erstüberlieferung gestellt, die er ihr mit der missionarischen Verkündigung des Evangeliums übergab, sondern sie zugleich auf das eschatologische Ziel verwiesen: Sie soll laufen, um den himmlischen Siegespreis zu erlangen (1. Kor. 9, 24; Phil. 3, 12-14). Also kann die Kirche nicht im Haben, Halten und Besitzen steckenbleiben; aus dem Haben muß sie das Erwerben, aus dem Besitzen das Erlangen machen, sonst könnte es dahin kommen, daß sie nichts mehr hat. Nur die Kirche, die sich dem Leiden der Wandlung unterwirft, bleibt Kirche Christi. Das ist das Gegenteil der Selbstpreisgabe an Ideen oder Mächte dieser Welt. Die Kirche wird freilich immer auch „weltliche” Christenheit sein müssen, durch Dienst und Zeugnis der in Wirtschaft, Staat und Kultur handelnden Christen, und dieser Dienst bedarf ständig wechselnder, geschichtlicher Gestalten. Aber diese weltliche Gestalt der Christenheit, ihre an allen Örtern und in allen Formationen der menschlichen Gesellschaft gegenwärtige Diakonie, muß aus der gottesdienstlichen Gemeinde, aus dem heiligen Amt und Dienst des Lobpreises, des Gebetes, des Bekenntnisses leben, schöpfen, und immer wieder aus diesem geschaffen werden, wenn sie nicht an Entleerung und Erschöpfung zugrunde gehen soll. Das Hin- und Hergehen des Lebens und des Dienstes der Kirche vom Altar zur Welt, aus der Welt zum Altar - das ist die Weltlichkeit und die Heiligkeit der Kirche „zwischen” Reich Gottes und Welt. Quatember 1960, S. 55-60 |
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