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Vom Umgang mit der Heiligen Schrift
II. Hat die Bibel wirklich recht?
von Wilhelm Stählin

LeerDie Frage, ob die Bibel recht hat, ist durch den fatalen Titel des Buches von Keller auf eine falsche Ebene geschoben. Denn die Genauigkeit historischer Berichterstattung ist gewiß nicht das eigentliche Anliegen der Heiligen Schrift, und darin recht zu haben und recht zu behalten, ist sozusagen gar nicht das, worauf sie selber Wert legt.

LeerAus zwei Gründen, die aber im Grunde ein und derselbe Grund sind, kann jene Frage nach der historischen Tatsächlichkeit dem Inhalt dieses Buches nicht gerecht werden. Zunächst und vor allem: Die Bibel handelt von der ersten bis zur letzten Seite von Gott, genauer von dem Handeln Gottes an der Menschheit und an der ganzen Welt. „Im Anfang war das Wort” - Sein Wort. „Gott sprach”; damit hebt die ganze Geschichte an, und sein Sprechen ist zugleich sein Tun. Ich könnte auch sagen: Die Bibel erzählt von Menschen, die in die Hand Gottes geraten sind und die nun das Abenteuer eines Lebens unter Gott und mit Gott bestehen mußten. „Deine Hand lag schwer auf mir.” Und das ist nun freilich eine Sache, die mit historischer Wissenschaft, mit Ausgrabungen und Inschriften wenig oder gar nichts zu tun hat, und in der man nichts, gar nichts, mit wissenschaftlichen Methoden beweisen kann. Götterbilder kann man ausgraben und Gebete, die vor Tausenden von Jahren gebetet worden sind, kann man aus Inschriften oder Papyrusrollen entziffern; aber Gott, den wirklichen Gott, kann man nicht ausgraben. Die Runen, die Gott der Welt eingegraben hat, lassen sich nicht mit den Methoden der Schriftenkunde lesbar machen. Ob und wie Gott an den Menschen gehandelt hat und handelt, darüber kann die Wissenschaft nichts aussagen. - Damit hängt das andere zutiefst zusammen: Wenn es sich in der Bibel um die Geschichte Gottes mit den Menschen, um die Geschichte der Menschen mit Gott handelt, dann kann man davon nicht Kenntnis nehmen wie von irgendeinem Königsgrab in Ägypten oder den Ruinen eines babylonischen Turms; vielmehr sind wir selbst immer in diese Geschichte einbezogen, wir sind hommes engagés, wie die französische Philosophie das ausgedrückt hat; das heißt Menschen, die betroffen und beteiligt sind. Kenntnisse, auch historische, religionsgeschichtliche Kenntnisse kann man „haben”, ohne von ihrem Inhalt wesentlich berührt zu werden; Erkenntnisse aber sind allemal eine Sache unseres eigenen innersten Seins, unseres Wachstums, unsere Reife, unserer Hingabe, unseres lebendigen Wesens, oder vielleicht besser umgekehrt gesagt: unseres wesentlichen Lebens. Allein auf dieser Ebene, in dieser Tiefendimension, entscheidet es sich, ob die Bibel recht hat. Ich habe die Sorge, daß das große „Interesse”, dessen sich das Buch von Keller erfreuen durfte - ich sage „durfte”, denn ich hoffe, die Hochflut dieses Interesses habe sich schon wieder verlaufen -, eine Fluchthaltung verrät: Man hofft, der Bibel recht geben zu können, ohne sich dieser lebensgefährlichen Begegnung mit Gott aussetzen zu müssen, ohne selbst getroffen und betroffen zu werden; man schwelgt in angeblich gesicherten historischen Kenntnissen, um keine Erkenntnis empfangen zu müssen, durch die ein neues Leben in uns geweckt werden können. Was in aller Welt gehen uns Hammurabi oder irgendeiner der Pharaonen oder die Kultstätten in den kleinasiatischen Städten an? Aber ob Gott an dieser Welt handelt und ob das Menschengeschlecht es mit Gott zu tun hat, das allerdings würde uns brennend angehen, wenn wir anfangen wollten, darnach zu fragen.

LeerOb die Bibel recht hat, entscheidet sich allein an der Frage, ob sie recht hat mit dem, was sie von Gott und Welt, von Gott und Menschen sagt.

Was sagt sie davon?

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Leer1. Wie alle entscheidende Wahrheit, so kann auch das, was die Bibel von Gott sagt, nur in widersprechenden Sätzen ausgesagt werden. Die lebendige Wirklichkeit läßt sich nicht systematisch ordnen; das Bedürfnis nach widerspruchsfreier Logik wird immer die Erkenntnis der vollen Wirklichkeit verfehlen.

LeerGewiß, Gott ist „von Urzeit zu Endzeit” (Ps. 90, 2) und bleibt derselbe, während alles sich wandelt und vergeht (Ps. 102, 27); er gleicht nicht dem Menschen, den bald gereut, was er angefangen hat, sondern er ist beständig in seinem Tun. Dennoch hat der Gott der Bibel nichts gemein mit jenem höchsten Wesen der Philosophen, das unbewegt, unwandelbar und unnahbar über den wechselnden Gestalten der irdischen Geschichte thront; sondern er ist souveräner Wille, der einen Plan hat und diesen Plan durchsetzt gegen alles, was sich ihm entgegenstellen will. Die biblische Schöpfungsgeschichte ist kein Bericht, wie sich eine primitive Wissenschaft die Entstehung der Erde und alles Lebendigen auf ihr vorgestellt hat, sondern sie bezeugt uns, daß etwas gewollt wird in dieser ganzen Schöpfungswelt, und daß „im Anfang” und Ursprung allein dieser göttliche Wille am Werk ist. Aber dieser Wille Gottes ist nicht ein Automat, der, sobald er in Gang gesetzt ist, nach mechanischen Gesetzen abläuft; die Bibel scheut nicht die anthropomorphe Redeweise, daß es Gott gereut habe, was er schon beschlossen hatte, und daß also die von Gott gewirkte Weltgeschichte die seltsamsten Brüche und Mutationen, die unberechenbarsten Möglichkeiten und Überraschungen in sich birgt.

LeerDie so sehr verbreitete Rede von dem „lieben Gott”, der immer zur Fürsorge und Nachsicht bereit ist, entspricht nicht dem biblischen Gottesbild; diese Redeweise scheint nichts davon zu wissen, daß es schrecklich ist, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen, und daß zu den Werken des Schöpfers auch die furchtbaren zerstörerischen Mächte gehören, die zur Ehre Gottes ihr Zerstörungswerk treiben (Jes. Sir. 39, 33 ff.). Die zuckenden Blitze und tosenden Wetter sind das Bild des zornigen Gottes; darum ist Gott zu fürchten, der Anfang aller Weisheit. Aber daneben stehen all die tröstlichen Worte von der Langmut und Freundlichkeit Gottes, von der Güte, die alle Morgen neu ist; „Du bist unser Vater, das ist Dein Name von alters her” (Jes. 63, 16). Es ist tief in Luthers eigenem Erleben begründet, daß er aus der ganzen Bibel vor allem den überschwänglichen Trost herausgehört hat, daß Gott größer ist als unser Herz; und er hat an manchen Stellen das Erschreckende, das der Text besagt, ins Tröstliche umgedeutet. Statt vieler Beispiele zwei Stellen aus dem 77. Psalm: „Wenn ich betrübt bin, so denke ich an Gott” heißt es bei Luther im 4. Vers; was da steht, ist das Gegenteil: „Wenn ich an Gott denke, so bin ich betrübt; sinne ich nach, so verzagt mein Geist”; und im gleichen Psalm tröstet sich der Beter, so wie Luther ihn verstanden hat: „Die rechte Hand des Höchsten kann alles ändern” (Vs. 11), während der Psalmist in die schmerzliche Klage ausbricht „Die rechte Hand des Höchsten hat sich von mir gewendet”.

LeerEs ist auch keineswegs möglich, beides, den Zorn und die Barmherzigkeit, die Unbegreiflichkeit und die Offenbarung Gottes etwa auf das Alte und das Neue Testament zu verteilen; das Wort von der Unerforschlichkeit Gottes steht im Brief an die Römer (11, 33), und nirgends ist Gott verborgener als in dem Geschehen auf Golgatha, und wo wäre tröstlicher von der Barmherzigkeit und Güte Gotts geredet als im 103. Psalm?

LeerGottes Zorn und Gottes Gnade liegen immer ineinander als die beiden Seiten seiner Gerechtigkeit und seiner Treue.

LeerDer Gott der Bibel kann auch lachen. Es gibt nicht nur ein Hohngelächter der Hölle, sondern auch ein Lachen im Himmel. „Der im Himmel wohnet, lachet ihrer”, nämlich aller derer, die Unsinn reden (Ps. 2, 4.1); aber in Gott ist nicht nur das grimmige Lachen des rächenden Zorns, sondern auch das Lachen der Liebe und Freude: Er will „mit Schall fröhlich sein” über die Menschen, denen er seine Liebe zuwendet (Zeph. 3, 17).

LeerHat die Bibel wirklich recht mit diesem allen, was sie von Gott und seinem Handeln in Zorn und Liebe sagt, von dem Gott, der uns seinen Namen, das heißt sein Wesen geoffenbart hat und der doch der verborgene und unbegreifliche Gott bleibt, dessen Wort „unseres Fußes Leuchte” und dessen Schweigen unseres Herzens Not ist, von Gott, dessen Zorn sehr zu fürchten und der doch unsere einzige Zuflucht ist? Aber diese Frage läßt sich eben nicht mit den Methoden der Wissenschaft entscheiden. Daß die Bibel damit recht hat, können wir in keiner Weise beweisen, sondern nur damit anerkennen, daß wir eben diesen Gott „über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen”.

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Leer2. Zu dem, was die Bibel über Gott sagt, gehört offenbar auch dieses, daß man von Gott nicht in abstracto reden kann, sondern immer in seiner Beziehung zu uns Menschen, daß man also, anders ausgedrückt, überhaupt nicht von Gott reden kann, ohne zugleich vom Menschen zu reden, und freilich auch nicht vom Menschen, ohne zugleich von Gott zu reden. Dieses ist unzweifelhaft die Meinung der Heiligen Schrift. Es gehört zu dem biblischen Menschenbild, daß der Mensch überhaupt nicht aus sich selber und für sich allein genommen in seinem Wesen erkannt werden kann, sondern daß der Mensch als ein „relatives” (das heißt: in Beziehung stehendes) Wesen immer seinsmäßig in der vierfachen Beziehung zu Gott, zu dem anderen Menschen, zur Welt und schließlich auch zu sich selber steht. Die mythische Erzählung, daß Gott dem aus Ackererde gemachten Menschen seinen Odem eingeblasen und ihn dadurch erst zu einem lebendigen Menschen gemacht hat, drückt diese aller Religion und aller bewußten Frömmigkeit vorgeordnete und vorgegebene Ur-Beziehung auf Gott aus; Michelangelo hat das gleiche Urgeheimnis angedeutet in dem Finger, mit dem Gott den noch schlafenden Adam erst wirklich zum menschlichen Dasein erweckt. Als einziges unter allen Geschöpfen wird der Mensch von Gott angeredet und schuldet ihm eine Antwort; als einziges unter allen Geschöpfen ist der Mensch nicht nur an ein zwangsläufig wirkendes Gesetz gebunden, sondern unter ein Gebot gestellt und hat die „Freiheit”, sich diesem Gebot zu entziehen und zu widersetzen. „Nun spricht der Ewige: Ich will, ihr sollt!” Der Mensch kann diesem Gebot ungehorsam sein, er kann Gott davonlaufen, er kann sich der gottfeindlichen Macht ergeben, er kann seine Bestimmung, ein Bild Gottes in der Welt zu sein, leugnen und verleugnen; aber er kann diese vorgegebene Beziehung seines Wesens nicht aufheben, und noch der militante Atheismus verrät, daß der Mensch zwar gottlos sein, aber nicht eigentlich im vollen Sinn gott-los werden kann. Ob die Bibel damit recht hat, ist wahrlich wichtiger als die Frage, ob es einen Mann namens Abraham gegeben hat, oder ob die evangelischen Berichte von den Wundertaten Jesu legendäre Züge enthalten.

Leer„Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.” Darum stellt Gott dem Menschen das Du zur Seite, das ihm gemäß ist, gemäßer als alle Pflanzen und alle Tiere. In dem Mythos von dem ersten Menschenpaar drückt sich die Urtatsache aus, daß der Mensch an den Menschen gewiesen und auf ihn angewiesen ist. Ja, die Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, daß die biblische Schöpfungsgeschichte gerade in dieser Intention auf die Liebe das eigentliche Wesen der Gottebenbildlichkeit des Menschen sehen wollte. Man kann sich egozentrisch weigern, den andern als solchen zur Kenntnis zu nehmen, man kann in egoistischer Verengung dem andern alles schuldig bleiben, was er von uns erwarten darf; man kann jene Grundordnung, daß Gott einem jeden seinen Nächsten anbefohlen hat (Jes. Sir. 17,12) mit der frechen Kainsfrage beiseite schieben: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?”; aber das kann man nicht tun, ohne damit zugleich die eigene Menschlichkeit zu zerstören.

LeerDer Mensch, der an das Menschliche Du gewiesen ist, ist zugleich in das Ganze der Welt gestellt. Der Garten Eden, von dem die biblische Schöpfungsgeschichte erzählt, ist das mythische Bild für den begrenzten Bereich der Welt, der dem Menschen zur verantwortlichen Pflege anvertraut ist. Die herrscherliche Stellung unter allen Kreaturen ist ein Abglanz göttlicher Würde (Ps. 8) und hat doch zugleich an der Verantwortung für die Welt eine unüberschreitbare Grenze. Die Begabung mit der Sprache, kraft deren Adam die Tiere benennen darf, ist das Zeichen dieser seiner Würde, und doch kann und darf er sich nicht aus der Solidarität mit dem Ganzen der geschaffenen Welt lösen; eher kann er angefochten werden von der verzweifelten Meinung, daß überhaupt kein Unterschied sei zwischen Mensch und Tier (Pred. 3,19), als daß er sich seiner Kreatürlichkeit schämen und sich sozusagen auf die Seite Gottes schlagen dürfte. Der Abfall von Gott zu den Göttern bedeutet die Verwechslung der Geschöpfe mit dem Schöpfer und die göttliche Verehrung der die Welt durchwaltenden Mächte; aber vor eben diesem Abfall warnt die ganze Bibel und erst recht das Neue Testament, weil die kosmischen Mächte ihrer selbständigen Macht entkleidet und dem Reich Christi unterworfen sind (Kol. 2,15). Darum ist das heidnische Weltgefühl, das immer die Angst vor dem zwielichtigen und unberechenbaren Dämon in sich schließt, in der gläubig ergriffenen Kindschaft bei Gott überwunden.

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LeerAber noch weniger ist dem Menschen irgendeine Art von Rückzug aus der Welt, in die er gestellt ist, gestattet, und seit Christus selbst in dieser Welt erschienen ist und diese Welt auf sich genommen und in sich überwunden hat, kann sich der Mensch nur als in diese Welt gesendet verstehen. Darum ist auch die Hoffnung des Christen nicht auf Erlösung von der Welt gerichtet, sondern auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, eine mit dem Menschen und nicht ohne ihn gewandelte Welt.

LeerOb die Bibel darin recht hat, ist keine wissenschaftliche Frage, weder der Historie noch der Psychologie, sondern diese Frage kann nur in dem praktischen Verhältnis des Menschen zur Welt, in seiner Aufgeschlossenheit für die Ordnung dieser Welt und seinem verantwortlichen Dienst beantwortet werden.

LeerIch sagte, daß der Mensch immer auch in einem Verhältnis zu sich selber steht, das heißt, daß er ein Bewußtsein seiner selbst hat und also dieses rätselhafte Wort „ich” zu sprechen vermag. Wenn er dieses Wort auch erst im Laufe seiner ersten Lebensjahre lernt, so ist eben dadurch erst mit der Geburt dieses Ich seine Geburt ins menschliche Sein hinein vollendet. Das lateinische Wort für Bewußtsein conscientia (genau entsprechend dem griechischen Wort syneidesis) deutet an, daß dieses Bewußtsein seiner selbst ein Wissen ist, das auf einer Kommunikation beruht, daß der Mensch also nur in der Begegnung mit dem Du und mit der verantwortlichen Beziehung zur Welt zu sich selber kommen kann. Immer wird der Mensch, wo immer er in der Bibel angeredet wird, in dieser seiner vielfältigen Beziehung angeredet, auf das hin, was er Gott, was er seinem Du und was er der Welt schuldig ist. Und zwar ist es dann immer der ganze Mensch mit Geist, Seele und Leib, der gemeint ist. Der Unterschied, der in der modernen Denkweise eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat, der Unterschied von Leib und Seele, Körper und Geist, spielt in dem biblischen Menschenbild überhaupt keine Rolle, so wenig, daß weder die hebräische noch die griechische Sprache auch nur Vokabeln haben, welche genau diesen Unterschied ausdrücken, der uns so wichtig scheint.

LeerUm so schärfer tritt ein anderer Unterschied oder Gegensatz ins Licht. Was der Apostel meint, wenn er von „Fleisch” und „Geist” redet, ist keineswegs der Unterschied zwischen der körperlich-sinnlichen Sphäre und der Innerlichkeit des Menschen, sondern es ist der den ganzen Menschen in allen seinen Bereichen durchdringende Gegensatz zwischen dem, was der Mensch aus sich selber ist, seinem eigenen Leben, seinem so fragwürdigen menschlichen Leben und dem, was von Gott her ihn bestimmt und prägt; zwischen seiner eigenen Aktivität mit der zwiespältigen Dynamik seines natürlichen Seins und der Aktivität Gottes in ihm, der er sich in Gehorsam und Liebe hingeben kann. Dieser Zwiespalt begleitet den Menschen in allen Phasen und Schichten seiner Existenz, seit „im Anfang” (in dem, was im Grunde immer und überall geschieht) der Mensch versucht hat, seine Grenze zu überschreiten, seinen Lebensraum auf Kosten seines Gottesverhältnisses auszuweiten und eben damit den Garten der ursprünglichen Harmonie mit sich selbst, mit Gott und Welt verscherzt hat.

LeerWieder sagen wir: Ob die Bibel mit diesem Menschenbild recht hat, ist kein Gegenstand wissenschaftlichen Interesses und wissenschaftlicher Forschung. Aber ob der Mensch nur unter Gott wirklich existieren kann und ein armes und elendes, mit sich selbst und der Welt haderndes Wesen ist, solange er sich nicht der unbedingten Gnade ergibt, das ist die eigentliche Frage und sie kann nicht theoretisch, sondern nur mit der innersten zentralsten Entscheidung des Menschen selbst beantwortet werden.

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Leer3. Es bedarf noch einer abschließenden Besinnung darüber, was sich nach der Überzeugung der Heiligen Schrift nun zwischen Gott, dem wirklichen Gott, und dem Menschen, dem wirklichen Menschen, ereignet. Hier ereignet sich nämlich etwas in einer wirklichen Geschichte, nicht etwa bloß in Gedanken und Reflektionen. Gott spricht zu dem Menschen, und dieses Wort wendet sich nicht bloß an sein erkennendes Denken, sondern es ist ein wirkliches Ereignis, ja die eigentlich bewegende Kraft der Geschichte. In einem ändern Bild angeschaut: Der göttliche Anhauch, das pneuma, ist der Motor einer zielgerichteten Bewegung, die von einem Anfang zu einem Ende und Ziel hin im Gange ist. Es vollzieht sich vom ersten Schöpfungsmorgen bis zum Gericht am Ende aller Tage eine unwiderrufliche Scheidung zwischen Finsternis und Licht, zwischen Tod und Leben, zwischen Verderben und Heil; aber es geschieht auch fortwährend eine Bewegung Gottes, ein Kommen Gottes zur Welt hin und zugleich die große Heimholung des Entfernten und Verlorenen, die Versöhnung des Entfremdeten, das, was die Heilige Schrift Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und letzte Rettung (in unserer Übersetzung sehr mißverständlich ewige Seligkeit) nennt. Zwischen diese beiden Pole, Schöpfung und zukünftige Welt, ist der gegenwärtige Augenblick eingespannt und empfängt von da aus seine unheimliche Aktualität. „Dieses alles”, was unser äußeres Leben und den Bestand der Welt ausmacht, vergeht. Aber was eigentlich im Gange ist, was auf uns zukommt, ist nicht der Tod und eine Katastrophe, in der diese Welt zugrunde gehen wird, sondern das Leben, das freilich immer nur durch Opfer und Sterben, durch Wandlung und Neuschöpfung hindurch gewonnen werden kann. Wir Menschen sind nicht nur Zeugen oder Opfer dieses Geschehens; Gott behandelt den Menschen niemals nur als Objekt, und darum ist jeder Gebrauch des Menschen als Mittel zu irgendeinem Zweck eine radikale Entwürdigung des Menschen; sondern es ist uns die Wahl zwischen Tod und Leben und damit zugleich das Schicksal der Welt verantwortlich anvertraut.

LeerMan kann mit einer gewissen Befriedigung feststellen, daß „die Bibel doch recht hat”, und dabei die eigentliche Frage gar nicht zu Gesicht bekommen, die Frage, ob die Bibel in dem, was sie eigentlich sagt, recht hat oder nicht. Wenn die Heilige Schrift in den Gottesdiensten der christlichen Kirche gelesen wird, dann nicht um der Treue ihrer historischen Nachrichten willen, sondern weil sie die entscheidenden Erkenntnisse über Gott und Menschen und Geschichte anbietet und von Jesus Christus zeugt, in dem Gott die Welt mit ihm selber „versöhnt” hat. Es kann nichts Gefährlicheres geben, als gerade das unbeachtet zu lassen, worin die Bibel wirklich und unzweifelhaft recht hat.

Quatember 1960, S. 68-74

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
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