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Ohne Mission in Moskau
von Erich Müller-Gangloff

LeerEs ist heute keine Sensation mehr, in der Sowjetunion gewesen zu sein. Die westlichen Reisenden geben sich beinahe die Türklinken der Moskauer Hotels gegenseitig in die Hand, und in den ganz großen, den Wolkenkratzer-Hotels meint man manchmal mehr Fremden aus dem Westen als Russen und Sowjetbürgern zu begegnen. Allerdings sind die Deutschen aus der Bundesrepublik im Vergleich mit der angelsächsischen, insbesondere amerikanischen Flutwelle noch immer in einer verschwindenden Minderzahl. Allein im vergangenen Sommer haben 15 000 Amerikaner eine Reise in die Sowjetunion unternommen.

LeerBei dem Besuch, von dem hier berichtet werden soll, handelt es sich um eine auf Einladung des Moskauer Patriarchats erfolgte Reise von Westberliner Pastoren und Theologen, die aber von vornherein einen ganz unverhohlenen politischen Aspekt hatte. Denn der Berliner Unterwegs-Kreis, an den die Einladung ursprünglich erging, war als eine jener kirchlichen Bruderschaften angesprochen, die im vergangenen Jahr durch die Schärfe ihres Nonkonformismus von sich hatten reden machen. Die Gruppe war schließlich ganz anders zusammengesetzt, als vorgesehen war. Wegen der knappen zeitlichen Frist waren am Ende nur drei eigentliche „Unterwegsleute” beteiligt. Eine ganze Reihe mehr oder weniger prominenter Partner war im letzten Augenblick verhindert, so Professor Kupisch, derzeitiger Rektor der Kirchlichen Hochschule Berlin, Sozialpfarrer Poelchau und Rudolf Weckerimg, Studentenpfarrer an der Technischen Universität. Daher mußte die Gruppe mit anderen, zum Teil sehr jungen Pastoren „aufgefüllt” werden, bei denen sich überraschend herausstellte, daß sie zum Teil ganz konträre politische Ansichten vertraten.

LeerSo war es ein ziemlich verwegenes und reichlich buntes Häuflein, das sich vierzehn Tage nach erfolgter Einladung auf den Weg machte - wahrscheinlich eine der merkwürdigsten Delegationen, die je nach Moskau fuhren - von keiner Kirchenleitung und schon gar nicht von irgendeiner politischen Instanz beauftragt und trotzdem entschlossen und gewillt, sich der Aufgabe zu stellen, die ihr auch ohne Beauftragung anhaftete.

LeerAls wir zwei Tage später auf dem Weißrussischen Bahnhof in Moskau ankamen, wurden wir nicht nur von dem hochwürdigen Rektor der Geistlichen Akademie in Sagorsk begrüßt, sondern auch von Vertretern des Moskauer Friedensrates, die sich sogleich ein Gespräch mit uns erbaten. Und als wir, am Wochenende angelangt, am Montag früh zur Besprechung unseres Programms ins Patriarchat gingen, fanden wir zwei Gespräche politischer Art als Programmpunkte vor: außer dem vom Friedensrat erbetenen, eines mit der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft.

LeerDa wir nicht als Touristen in die Sowjetunion gefahren waren, schien es uns selbstverständlich, daß wir hier nicht ausweichen durften. Obwohl wir uns vollauf der Gefahr bewußt waren, durch solcherlei Gespräche sehr rasch in schiefe und zweideutige Situationen geraten zu können. Wir legten keinen Wert darauf, im zu Ende gehenden Kalten Krieg die Rolle von Überläufern oder vorzeitigen Parlamentären zu spielen.

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LeerSo gingen wir anderntags - durch eine viele Stunden währende Besichtigung des Kremls ermüdet und in Erwartung einer unmittelbar anschließenden Nachtfahrt nach Leningrad - ein wenig zagen Herzens in das erste der beiden auf unser Programm gesetzten Gespräche. Wir hatten uns, so gut es ging, vorbereitet, wie sich zeigen sollte, sogar ausgezeichnet. Wir wollten nicht nur hören, was man uns zu sagen hätte, sondern auch unser eigenes Sprüchlein sagen, wollten davon sprechen, wie wir das uns kostbare Gut der Freiheit genutzt haben und weiter zu nutzen denken, um in einer Welt von Elend, Hunger und Not Taten des Friedens im Sinne des Evangeliums zu tun.

LeerAls dann in mehreren Reden Wogen des leidenschaftlichen Kämpfertums im Sinne der Weltfriedensbewegung gegen uns anbrandeten und uns (mit Berufung auf die Bewegung gegen den Atomtod) fast zu verschlingen drohte, verschlug es uns fast die Sprache. Aber wir gaben nicht auf. Wir redeten hart miteinander, so daß den sanfteren Gemütern unter uns der Atem stockte. Aber nur so war es möglich, den eigenen Standort zur Geltung zu bringen und von jenen kleinen Taten des Friedens zu sprechen, die wir den großen Worten entgegenstellten: von den Bemühungen des Christlichen Friedensdienstes um algerische Flüchtlinge, von der Arbeit Danilo Dolcis in Sizilien und von dem, was die amerikanischen Friedenskirchen in den unterentwickelten Ländern tun.

LeerWir gebrauchten die Freiheit so wenig wie den Frieden als eine Phrase, aber mußten uns doch sagen lassen, kleine Taten und große Worte, die wir gegeneinandergestellt hatten, seien keine unbedingte Alternative. Warum sollten wir uns nicht zutrauen, auch einmal große Taten des Friedens zu tun? Und als wir kritisch und etwas abträglich von „Friedenspropaganda” gesprochen hatten, wurde uns ein Wort gesagt, das uns in seiner echten Leidenschaftlichkeit tiefen Eindruck machte: „Friede ist uns ein heiliges Wort”. Darin klang die ganze Fülle dessen wieder, was das russische Wort für Frieden mit enthält, denn „Mir” heißt zugleich Welt im Sinne von Kosmos und Gemeinschaft bis hin zur dörflichen Gemeinde und Wirtschaftsgenossenschaft.

LeerEiner der jüngeren Pastoren - nicht vom Unterwegskreis, sondern ein Michaelsbruder - meinte hinterher, dies sei eine große Stunde gewesen. Und unsere Partner vom Weltfriedensrat schienen der gleichen Meinung zu sein. Obwohl wir ihnen nicht einen Fußbreit nachgegeben hatten, waren sie voller Respekt und legten ganz unbedingten Wert darauf, das Gespräch so bald wie möglich fortzuführen. Sie hatten ganz offensichtlich Freude an solcher Auseinandersetzung mit Menschen eines bis dato unbekannten Typs, die ihnen bei leidenschaftlicher Friedenswilligkeit doch nicht ein Wort zum Munde redeten.

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LeerDas zweite Gespräch kam erst am letzten Tage wenige Stunden vor dem Abschiedsbankett zustande. Es hätte nicht viel gefehlt, daß es infolge allzu großer Vorsicht unserer Gastgeber ganz unter den Tisch gefallen wäre. Wir mußten ein wenig darum kämpfen, daß wir nicht in die Rolle der Ausweichenden gerieten.

LeerDieses zweite Gespräch war zwar in der Sache nicht minder fest und zuweilen auch wieder hart und scharf, aber im Modus doch unvergleichlich milder und freundlicher - nicht nur, weil es im „Haus der Freundschaft” stattfand (übrigens ohne die Deutsch-Sowjetischen Freunde, die sich, ohne ausdrücklich ausgeladen zu sein, ganz aus dem Spiele hielten). Wir hatten inzwischen drei Tage in Leningrad verbracht, anschließend fast einen vollen Tage in der großartigen Gottesburg von Sagorsk, einer Art Kreml der Orthodoxen Kirche, hatten unzählige, sehr lange Gottesdienste miterlebt, in den beiden geistlichen Akademien und an anderen Orten wichtige theologische Gespräche geführt, eindrucksvolle Konzerte, Theater- und Ballettaufführungen, aber auch Fabriken und Betriebssiedlungen, die Lomonossow-Universität und instruktive Ausstellungen besucht, und waren am Sonntag vom hochbetagten Patriarchen - gleichsam dem Papste dieser Kirche „von Moskau und ganz Rußland” - auf seinem Landsitz empfangen worden.

LeerWir hatten damit gerade so viel von der Sowjetunion gesehen und erlebt, um uns mit einigem Recht als Einäugige unter den total Blinden vorzukommen. So traten wir besser gerüstet in das zweite Gespräch, das keiner so intensiven Vorbereitungen mehr bedurfte. Wir brachten hier von unserer Seite neben anderem auch die Aktion „Sühnezeichen” zur Sprache, jene mit dem Namen von Präses Kreyssig verknüpfte Bemühung, unsere unverarbeitete Hitlervergangenheit durch Aufbauarbeit in den durch unsere Armeen zerstörten Gebieten in Holland und Norwegen, aber auch in Polen und der Sowjetunion zu bewältigen.

LeerHier blieb ein letzter Dissensus, der bis in das Abschiedsbankett hineinklang und auch durch die freundschaftlichsten Reden nicht aus der Welt geschafft werden konnte. Denn wir weigerten uns beharrlich, uns in gute und schlechte Deutsche aufteilen zu lassen, von denen nur die schlechten, die Faschisten, in das Land eingefallen sind und die Welt in Brand gesteckt haben. Wir mußten hier und noch auf dem Bankett mit Entschiedenheit und nicht ohne Schärfe sagen, daß wir nicht gesonnen sind, uns unsere Schande auf so billige Art abkaufen zu lassen. Und daß wir von niemandem die noch so ehrlich gemeinte Freundschaft annehmen können, der uns die Sühne für das eigene Verschulden verweigert. Und wir haben es als ein nicht ganz kleines Hoffnungszeichen mitgenommen, daß wir gerade mit dieser Beharrlichkeit von den entscheidenden Partnern - und nicht allein von Christen, sondern auch von Atheisten der Friedensbewegung - verstanden worden sind.

LeerWir meinen nach alledem, es lohne sich, nicht nur in dieses Land zu fahren, sondern auch aufrichtige politische Gespräche mit seinen Menschen zu führen, wenn man ein bißchen Zivilcourage und vielleicht auch noch etwas politisches Urteilsvermögen, vor allem aber Takt, will sagen: ein Empfinden für die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Auf-keinen-Fall-Auszusprechenden mitzubringen hat.

Quatember 1960, S. 81-83

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
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